Indien sperrt sich in den kommenden Jahrzehnten nicht nur hartnäckig gegen Vermittlungsversuche Dritter, es gelingt ihm auch nicht, das neue Bundesland zu befrieden. Zunächst untergräbt Indira Ghandis arrogante Machtpolitik und der spezifische indische Föderalismus die Demokratie in Kaschmir, später ist es die innenpolitische Instabilität, die einer klugen Strategie im Wege steht:
Die Jahre nach 1989 waren eine Zeit schwacher indischer Regierungen, die stets um ihr Überleben bangen mussten und daher das Kaschmir-Problem nur nebenbei im Auge behalten konnten. Sie reagierten oft sehr kurzfristig - und kurzsichtig - auf gerade anstehende Fragen und waren froh, wenn irgendeine Lösung gefunden wurde, die zumindest vorübergehend Ruhe und Frieden zu erhalten schien.
Noch härter geht Rothermund mit Pakistan ins Gericht. In den drei Kriegen von 1965, 1971 und1999 tritt es als Aggressor auf, wobei das Militärregime offenbar nicht aus den Niederlagen lernt. Im Kampf um Kaschmir setzt Pakistan nicht nur reguläre Truppen ein, sondern es unterstützt auch Mujahideen, die Kaschmir infiltrieren und die dortigen Unab-hängigkeitskämpfer radikalisieren. Die sogenannte ‚islamische Atombombe’, die seit den neunziger Jahren zur Drohgebärde gehört, verschärft die Lage zusätzlich. Der Dauerkon- flikt liegt jedoch, so grotesk es dem Leser auch erscheinen mag, durchaus im Interesse Pakistans:
Lange Zeit hat die ‚Befreiung‘ Kaschmirs geradezu als oberstes Staatsziel Pakistans gegolten. Wäre dieses Ziel erreicht, könnten sich innere ethnische Spannungen und andere Unruhen bemerkbar machen, auch entfiele ein Hauptgrund für die Erhaltung einer überdimensionierten Armee. Im schlimmsten Fall käme es zu einer Implosion Pakistans, die ganz Südasien erschüttern könnte.
Auch die geopolitischen Interessen der Großmächte USA, Rußland und China bestimmen im Laufe der Jahrzehnte das Schicksal Kaschmirs. Deutlich zeigt dies das Geschehen in und um Afghanistan. Die einst in Pakistan ausgebildeten und von den USA unterstützten Taliban finden nach dem Zusammenbruch ihres Regimes jetzt in Kaschmir ein neues Ein-satzgebiet. Dort treffen sie auf andere versprengte Terrorgruppen:
Sicher war das Anwachsen des Terrorismus im Tal von Kaschmir den aus Pakistan stammenden ‚Sympathisanten’ der einheimischen Freiheitskämpfer zuzuschreiben, aber viele junge Kaschmiris waren selbst zu Terroristen geworden, weil sie keine echte Demokratie in ihrer Heimat erlebt hatten und sich vom politischen Prozess nicht einbezogen, sondern ausgegrenzt sahen.
Vor dem Hintergrund der mannigfachen Probleme und sich widersprechender Interessen sind die Möglichkeiten internationaler Friedensstifter begrenzt, wie der Autor nüchtern feststellt. Nicht nur hat die ‚Allianz gegen den Terror’ den Terrorismus eher verschärft, da sich die Taliban an General Musharraf für seinen Verrat mit Anschlägen auf indischem Boden rächen und so einen Keil in die Allianz treiben. Die Gefahr, die von diesen Terro-risten ausgeht, zeigt der Anschlag auf das indische Parlament im Dezember 2oo1, der zur ‚Krieg-in-Sicht-Krise’ im vergangenen Jahr geführt hat. Gleichzeitig übt die USA nur mäßig Druck auf Pakistan aus, solange es den Interessen der Großmacht dient:
Es fragt sich freilich, wie lange es sich das am Rande des Staatsbankrotts stehende Pakistan leisten kann, Unsummen für seine Armee auszugeben. Doch in dieser Hinsicht hatte Musharraf das Glück, dass Pakistan wieder einmal wie zur Zeit Zias für Amerika zum ‚Frontstaat’ wurde. Ehe das geschah, sah es für Pakistan einige Zeit gar nicht gut aus. Das ‚persönliche Interesse‘ Präsident Clintons wandte sich zunächst einmal auf geradezu dramatische Weise Indiens zu, das er im März 2ooo besuchte. (...) Es bedurfte erst der ‚Allianz gegen den Terror’ unter Präsident Bush, um Musharrafs Stern wieder strahlen zu lassen. Zwar ist es in Kaschmir seit 1999 trotz des Säbelrasselns im vergangenen Jahr relativ ruhig, doch der Konflikt kann jederzeit neu eskalieren. Rothermund hofft deshalb, dass Vernunft und Besonnenheit den ‚worst case‘, einen atomaren Schlagabtausch, auch in Zukunft verhindern. Längst überfällig jedoch ist die politische Lösung des Konflikts in Form einer Volksabstimmung, die seit dem Anschluß Kaschmirs an Indien aussteht:
Die Fundamentalisten verkünden die Einheit aller Muslime, dem setzen die Hindu-Nationalisten die Einheit aller Hindus entgegen. Je virulenter dieser Gegensatz wird, desto schwerer dürfte es werden, eine Volksabstimmung im Tal von Kaschmir durchzuführen. Es ist daher Eile geboten, wenn eine Konfliktlösung durch eine Volksabstimmung angestrebt wird.
Ob aber eine Volksabstimmung tatsächlich Frieden in die Region bringen wird, das vermag auch der Südasien-Experte nicht zu sagen.