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Dokumentarfilm im Jahr Null nach Theo van Gogh

Rainer B. Schossig: Das 17. internationale Dokumentarfilmfestival, das zur Zeit in Amsterdam stattfindet, steht in diesem Jahr deutlich im Schatten der Ermordung des niederländischen Dokumentaristen Theo van Gogh und der beunruhigenden Hassreaktionen darauf, vor allen in den Niederlanden selbst, die bisher ja als ein entspannt liberales Einwanderungsland galten. In dieser Tradition multikultureller Aufgeschlossenheit versteht, beziehungsweise vielleicht ja verstand sich auch das Amsterdamer Dokumentarfilmfestival, kurz IDFA genannt. Nicht nur 300 bis 400 Filme sind in diesem Jahr dort zu sehen, auch Diskussionsforen über Dokumentarismus und Demokratie tagen, ein Publikumspreis wird ermittelt, dies alles unvorhersehbar für die Veranstalter, nun in Frage gestellt durch die jüngsten bedrückenden realen Ereignisse in den Niederlanden. Gerade zurück aus Amsterdam, mein Kollege Martin Gerner. Herr Gerner, jetzt also Verunsicherung, Angst, Wut oder vielleicht ein verbiestertes: Jetzt erst recht? Wie ist denn die Stimmung auf diesem Festival in Amsterdam?

Rainer B. Schossig im Gespräch mit Martin Gerner |
    Martin Gerner: Die Stimmung ist insgesamt gut, aber unter den holländischen Dokumentarfilmern und Organisatoren der IDFA, Sie haben es gesagt, Verunsicherung, das kann man schon ablesen und unter anderem die Tatsache, dass die Leitung der IDFA vor dem Mord an Theo van Gogh eine "Submission 2", also eine zweite Folge in dem, was offenbar eine Reihe, eine Serie werden sollte, der erste Film von Theo von Gogh, der letztens das Aufsehen erregt hatte, hieß "Submission 1", drehen wollte. Das ist bis jetzt auf Eis gelegt und wird über voraussehbare Zeit ein Risiko sein, für jeden, der daran mitarbeitet, und das ist ein Symbol für diese Verunsicherung.

    Schossig: Aber gerade Dokumentarfilmer sollten ja wissen, dass es Unverbindlichkeit in der Wirklichkeit, die sie ja bearbeiten, nicht geben kann. Platzt da jetzt deren multikultureller Traum?

    Gerner: Ich denke, das erscheint den holländischen Filmemachern so. Der Kopftuchstreit, den es auch in Holland seit längerer Zeit gab, wird dort jetzt wieder bewusster - dort gibt es keine gesetzliche Regelung. Das ist sozusagen der politische Hintergrund, vor dem sich das abspielt. In den Diskussionen ist mir zweierlei aufgefallen: Ich würde sagen, eine gewisse Naivität, die zu merken war bei den holländischen Filmemachern. Beispiel: Amnesty International und die, die sie umgeben: Die niederländische Sektion von Amnesty International hat Filme Theo van Goghs, eben diesen "Submission 1"-Film ins außereuropäische Ausland verteilt, hat dann überwiegend negative Reaktionen bekommen, und die Verantwortlichen, die da gestern gesprochen hatten, bedauern das mittlerweile. Entweder hatten sie sich den Film nicht richtig angeschaut oder waren sich über das, was ein Tabubruch sein könnte, im Unklaren. Das ist das eine Beispiel. Das andere Beispiel, was mich frappiert hat: Es gab einen Film, der lief in der Kinderfilmsektion, obwohl der da vielleicht nicht ausschließlich hingehört hätte, über die Protagonistin, eine 14-jährige Libanesin, die in Schweden lebt und dort Rap-Sängerin ist, einer Rap-Gruppe vorsteht und offenbar, weil sie auch auf politischen Demonstrationen aufgetreten ist, die Stimmen von Neonazis auf sich gezogen hat. Dort gab es wiederum in Amsterdam auf Drohung dieser schwedischen Neonazis gegen dieses Mädchen, die dann in Folge davon nicht mehr als Erklärung fürs Publikum im Anschluss an die Filme aufgetaucht ist. Die IDFA-Leitung hat nichts dagegen getan, Polizeischutz war ihr offensichtlich ein Graus.

    Schossig: Kunst ist also, zumal Dokumentarfilmkunst, anscheinend kein Spaß mehr. Sie haben sich ja auf dem Festival Filme aus Weltgegenden angeschaut, die Sie zum Teil selbst bereist haben, wo es wenig spaßig zugeht, zum Beispiel aus Afghanistan, Iran, Irak. Was sind das für Filme? Können Sie ein Beispiel geben, wie authentisch solche Filme Ihnen dort erschienen?

    Gerner: Meiner Ansicht nach sind Filme besonders dann authentisch, wenn sie von Filmemachern aus der Region kommen.

    Schossig: Was gar nicht normal ist, anscheinend?

    Gerner: Ja, weil viele im Exil sind. Die iranischen Filmemacher, nichtsdestotrotz, kommen natürlich - und nicht zuletzt der Sprache wegen - an Situationen, an Menschen besser heran. Es gibt einen herausragenden Film über Prostitution in Teheran, ein Glücksfall. Die Menschen, die man dort gefunden hat, sind mithin auch in ihrem Leben bedroht, sobald der Film abgedreht ist und die Exiliraner das Land wieder verlassen. Die meisten anderen Filme, die zum Beispiel über Afghanistan laufen, sind von europäischen, unter anderem deutschen Filmemachern und haben wenig Kontakt zu den Afghanen, auch im Film. Da müsste man, glaube ich, ansetzen.

    Schossig: Wie geht man denn jetzt um mit der Tatsache, dass zu tödlicher Rache anscheinend entschlossene Islamisten eben keinen Kunstvorbehalt akzeptieren, wie wir hier in Europa? Seit der Fatwah gegen Salam Rushdies "Satanische Verse" war dies ja eigentlich bekannt. Was tut man?

    Gerner: Eins ist klar, der Islam ist eine Religion, die vergleichsweise aus unserer Sicht wenig Platz für Individualismus hat. Was heißt das jetzt für die künstlerische Freiheit im weitesten Sinne, denn Kunst gibt es natürlich auch in der islamischen Welt? Vielleicht die Annäherung, gerade dies beim Film zu versuchen, sei es in Kooperationen zwischen Regisseuren und Kameramännern beider Nationalitäten, Drehbuchautoren, oder so wie das bei "arte" deutsch-französisch stattfindet, interkulturell, interreligiöse Teams mischen und daraus ein Dokumentarfilm zu ersuchen.

    Schossig: Man wird sich darauf einstellen müssen, dass der Eurozentrismus hier überdacht werden muss, auch im Dokumentarfilm im Jahre Null nach Theo van Gogh, so könnte man vielleicht sagen.