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Donald Rayfield: Stalin und seine Henker

Johannes R. Becher /(Zu Stalins Tod) "Dem ewig Lebenden" (J. R. Becher - 1953)

Von Gasan Gusejnov | 26.04.2004
    Den Namen Stalins trägt die neue Zeit!
    Lenin - Stalin - sind Glücks-Unendlichkeit!
    Begleitet Stalin vor die Rote Mauer
    Erhebt Euch in der Größe Eurer Trauer
    Seht! Über Stalins Grab die Taube kreist
    Denn Stalin Freiheit, Stalin Frieden heißt!
    Und aller Ruhm der Welt wird "Stalin" heißen
    Laßt uns den ewig Lebenden
    lobpreisen!

    Den Hinterbliebenen und Nachkommen der auf des Sowjetdiktators Befehl in den Lagern und Polizeikellern Gemordeten und im Krieg sinn- und skrupellos Geopferten müssen solche Worte wie nackter Hohn in den Ohren geklungen haben. An Johannes R. Becher, einer Leitfigur der DDR-Kulturpolitik in den 50er Jahren, wird für immer die Autorenschaft dieser in mehrfacher Hinsicht unglaublichen Verszeilen kleben bleiben, ersonnen kurz nach Stalins Tod im März 1953 und im DDR-Radio deklamiert, ein entlarvendes Manifest posthumer lyrischer Heldenverehrung auf einen ordinären Massenmörder.

    Wahr ist aber auch: Stalin hätte sein Werk nicht in die Tat umsetzen können, hätte er nicht seine Büttel, seine willfährigen Helfer und Helfershelfer gehabt. Und genau für diese Gestalten hat sich nun der Professor für russische Geschichte an der Universität London, Donald Rayfield, interessiert. Seine Forschungen sind unter dem Titel: "Stalin und seine Henker" soeben im Münchner Karl Blessing Verlag erschienen. Eine Arbeit, die unseren Rezensenten Gasan Gusejnov, ausgesprochen beeindruckt hat:


    Das Buch des britischen Historikers Donald Rayfield ist ein Meisterwerk der historischen Literatur. Eine Geschichte der Sowjetunion der Stalinzeit, dargestellt als kollektive Biographie der Stalingarde. Menschen, die aus verschiedenen Verhältnissen stammend zu einem gemeinsamen Ziel zusammengeschweißt wurden. Sie dachten und zwangen die anderen zu glauben, dies wäre ein Programm zur Schaffung eines neuen Menschen. Daraus wurde ein beispielloses Programm des Terrors: Eine nach Hunderttausenden zählende Minderheit wurde hingerichtet, einige Millionen gefoltert.

    Die neue Mehrheit hat allmählich die Macht der Henker akzeptiert. Die neue Menschheit bestand aus der blinden Bereitschaft, zu opfern – zuerst jene, die sie als Feinde betrachteten, dann deren Helfer und Helfershelfer - und schließlich sich selbst.

    Die selbstzerstörerische Wucht des Regimes fasziniert den Autor. Selbstverständlich steht die Figur Stalins im Mittelpunkt des Buches: Mit Ausnahme Dserzhinskis hat Stalin alle späteren Chefs der Geheimdienste persönlich ausgesucht – Menzhinski, Jagoda, Jezhov, Berija. Der Alleinherrscher hat eine Methode der Vergangenheitsbewältigung entwickelt, die sich auch in der späteren Geschichte bewährt hat. Jede neue Generation der Henker frisst buchstäblich ihre Vorgänger, übernimmt aber deren Nachlass als eigenen Verdienst.
    Donald Rayfield zeigt, warum diese Methode in Russland bis zum heutigen Tage wirksam bleibt.

    In der Sowjetunion und den Folgestaaten hat niemals etwas stattgefunden, was Psychologen heutzutage "Schlussstrich" nennen. Chruschtschovs berühmte Taten und Reden zur Entstalinisierung 1956 und 1962 waren in erster Linie politische Manöver, um seine Mitverschwörer Molotow und Malenkov auszuschalten(...)
    Selbst nach der Perestroika, als Historiker anfingen, verborgene Geheimnisse aus den Archiven zu veröffentlichen und Massengräber geöffnet wurden, beteiligte sich der KGB (wenig später FSB) an dem Prozess, um die Enthüllungen zu begrenzen und schließlich zu stoppen.


    Donald Rayfield beginnt mit der Frage, wie ein normaler und sogar sympathischer Mensch zum Henker werden kann. Im Unterschied zu vielen anderen Politologen und Historikern zeigt Rayfield, dass der so genannte "Neue Mensch" nicht aus ideologischen Konstruktionen, sondern aus den unmittelbaren Lebenssituationen des Bürgerkrieges entstanden ist.
    In den letzten zehn Jahren des vergangenen Jahrhunderts sind mehr Dokumente, Memoiren und Briefwechsel publiziert worden, als in den vorangehenden Jahren des 20. Jahrhunderts insgesamt. Am interessantesten und am wichtigsten für uns heute – das sind die Bekenntnisse der Tschekisten, der klugen Mörder und Folterer der sich unterschiedlich nennenden sowjetischen Geheimpolizei. Sie haben die Zeit der Gorbatschow’schen Glasnost und Perestroika in der gleichen Weise genutzt wie die überlebenden Opfer, um von ihren Erlebnissen und über ihre Erfahrungen endlich frei zu berichten.

    Erst seit vergleichsweise kurzer Zeit werden die FSB- und Ex-KGB-Leute wieder etwas schweigsamer. Zu spät: Für einen guten Historiker haben die Angehörigen dieser Zunft genug ausgeplaudert, um dem gesamten Bild der Geschehnisse in der UdSSR die Tiefe und Schärfe eines gleichsam psychologischen Romans zu verschaffen.

    Es ist ein Paradox, dass die beiden größten Romanautoren Russlands, Dostojewski und Leo Tolstoj, in ihrem gesamten Werk daran festhalten, dass ein Mensch sich nur durch ein volles Bekenntnis von den Verbrechen der Vergangenheit lossprechen und wieder ein erträgliches Leben führen kann. Doch gerade der heutige russische Staat zeichnet sich durch eine beängstigende Kontinuität mit dem Staat Stalins aus.(...) Die Eiterblasen des Stalinismus schwären immer noch im russischen Staat. Stalin und seine Geheimdienste werden immer noch in Druckerzeugnissen und öffentlichen Ansprachen gelobt.

    Wie konnte eine Gesellschaft drei Generationen lang hilflos und trotzdem aktiv weiterleben? Der einzige Weg war offenbar, das Gedächtnis einfach auszuschalten. Gerade diesen Weg betritt jetzt Putins Garde – diejenigen Geheimdienstoffiziere, die den offiziellen Mythos vom - Zitat: - "kristallehrlichen Dzerzhinski" oder dem "harten, aber gerechten Stalin" immer noch teilen und verbreiten.

    Der offizielle Mythos, der von einem Großteil der Bevölkerung passiv geglaubt oder aktiv verfochten wird, lautet, dass Stalins Morde und Terrorakte Verirrungen waren, zu denen er sich von Jeshov und Berija hatte verleiten lassen. Die heutige Geheimpolizei FSB ist stolz auf ihren Vorläufer Tscheka. Die Mitarbeiter schüren den Kult um ihre Personen als Dzerzhinskis Samurais, die nunmehr eben die russische Nation, nicht die Arbeiterklasse, vor ihren Feinden beschützen.

    Der britische Historiker stützt sich nicht nur auf äußerst umfangreiches Material, er hat es auch in einen neuen Kontext gestellt, weil er endlich die Frage stellt: Warum hat sich das nach-jelzinsche Russland von der Demokratisierung und der Öffnung der letzten Jahre des 20. Jahrhunderts abgewandt? Seine Antwort: Stalins Vermächtnis ist immer noch zu stark, zu lebendig. Man könnte sagen, Rayfields Buch wäre nicht nur für das internationale Publikum von Spezialisten und interessierten Laien wichtig, sondern auch und gerade für Russland - denn auf eine Übersetzung in ihre Sprache werden russische Leser - nicht zuletzt aus den eben genannten Gründen - vielleicht noch einige Jahre warten müssen.

    Es ist heute aber auch ausgesprochen wichtig, dass dieses Buch in Deutschland in deutscher Sprache erscheint. Nach dem Zerfall der Sowjetunion und nach der Vereinigung Deutschlands hat die deutsche Öffentlichkeit zu oft und geradezu auffällig keineswegs ruhmreiche Kapitel in der deutsch-sowjetischen Geschichte ausgeblendet. Je lauter hierzulande die Enthüllungen über die Stasiverbrechen in der DDR zu vernehmen waren, desto leiser sprach man von der Nachhaltigkeit des NKWD-KGB-Vermächtnisses im nunmehr befreundeten Russland. Auch die von Präsident Wladimir Putin rasch bezirzten und begeisterten westlichen Politiker haben - wie Rayfield bilanziert - nicht wenig zur Verharmlosung der heutigen FSB-Aktivitäten mit ihrem aus der Tradition gespeisten KGB-Hintergrund beigetragen.

    Der russische Staat wird von einem Mann regiert, der, nach seiner Laufbahn und freier Entscheidung, ein Nachfolger Jagodas und Berijas ist. Gewiss, Russland ist mittlerweile in eine globale Wirtschaft eingebunden, und die heutigen Herrscher haben keinen Grund, Millionen Bauern zu ermorden oder Intellektuelle zu terrorisieren. Eine Kugel aus einem vorüberfahrenden Auto oder in einem dunklen Hinterhof genügt. Der Völkermord wird jedoch mit anderen Mitteln fortgeführt, und das nicht nur in Tschetschenien. In den vergangenen zehn Jahren ist beispielsweise die Hälfte der Ureinwohner der arktischen Regionen Russlands ums Leben gekommen: 1989 lebten von ihnen noch 240.000, heute nur 120.000. Die heutige russische Regierung hat ihre Weiden und Fischgründe zerstört und ihnen jede Unterstützung für ihren Lebensunterhalt entzogen – abgesehen von Wodka und Tabak. Die Maßnahmen erwiesen sich im Grunde als ebenso tödlich wie der GULag. Für die Tschetschenen ist der gegenwärtige Vernichtungskrieg sogar schlimmer, als die gestrigen Deportationen und Repressionen, denn angesichts des Einverständnisses und der Selbstzufriedenheit der übrigen Welt macht man sich nicht einmal die Mühe, die Gräueltaten zu verschleiern.

    Ein großer Teil der Wahrheit über die sowjetische Vergangenheit liegt immer noch in den unzugänglichen Archiven unter Verschluss, die darüber hinaus von Monat zu Monat unzugänglicher werden. Geschichtslehrbücher übergehen, mit wenigen Ausnahmen, das grauenvolle Vermächtnis des Stalinismus. Vor diesem Hintergrund sieht Donald Rayfield seine Aufgabe, eine Geschichte ohne Einschränkungen zu erzählen, denn...:

    Solange die internationale Gemeinschaft dabei bleibt, dass für das Vermächtnis Stalins und seiner Henker in vollem Ausmaß Rechenschaft abgelegt und es ausreichend gesühnt wurde, solange wird Russland geistig krank bleiben und immer wieder von den Gespenstern Stalins und seiner Henker, ja, von dem Albtraum ihrer Wiederauferstehung heimgesucht werden.

    Gasan Gusejnov verfasste die Besprechung zu: Donald Rayfield: "Stalin und seine Henker", aus dem Englischen von Hans Freundl und Norbert Juraschitz, erschienen im Karl-Blessing-Verlag, München. 617 Seiten, zum Preis von genau 25 Euro.