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Doping
Kronzeugen wie beim FBI

Der Umgang mit Spitzensprinter Tyson Gay deutet an, dass amerikanische Dopingfahnder stärker auf die Taktik aus dem Armstrong-Fall setzen. Sie wollen überführte Sportler mit milden Strafen dazu bringen, ihre Lieferanten und Trainer preiszugeben.

Von Jürgen Kalwa | 10.05.2014
    Er trägt in seinen Videos gerne ärmellose Hemden, damit alle Welt sehen kann, wie feist seine Muskeln sind. So feist wie sein Akzent. "Hi, it's Dr. Erich. And thank you again for visiting our West Coast Anti-Aging Website." "Dr. Erich" ist Erich Breitenmoser. Ein Mann, der vor rund 20 Jahren die Schweiz verließ, um einen Heilberuf zu lernen, mit dem man nicht nur anderen Menschen helfen, sondern auch richtig reich werden kann. Der Beruf nennt sich Chiropraktor. Von ihnen gibt es allein in den USA, wo dieses Gebiet der Alternativmedizin im 19. Jahrhundert entwickelt wurde, mehr als 60.000.
    Abgesehen von dem Doktortitel, den man im Rahmen des Studiums ohne jeden Extraaufwand erwirbt, kann es zwar ein harter Beruf sein. Aber das sieht schon ganz anders aus, wenn hilfsbedürftigen Menschen Pillen und Lotionen verkauft. Denn daran verdient man mit. Breitenmoser macht das – übers das Internet und mit Hilfe zahlloser Videos – schon eine Weile. "And I look forward to educate you and teach you and help you to implement these creams."
    Es steht bereits auf der Packung, was in diesen Cremes steckt. Testosteron, insulinähnliche Wachstumsfaktoren und noch mehr Zaubersubstanzen, die man eigentlich in den USA nur auf Rezept bekommt. Aber die Arzneimittelaufsicht in Washington ist hoffnungslos unterbesetzt, um Herstellern solcher Produkte das Handwerk zu legen. Dabei gibt es jede Menge Menschen, die die auf Verheißungen hereinfallen. Darunter auch Leute, die studiert haben, wie Tyson Gay, der zweitschnellste Leichtathlet aller Zeiten. "...Gay moving through very strongly now. Gay moving through in the second half. He's such a strong runner. He's beaten Gatlin comfortably there. That's a one-and-half-meter margin of victory. The winning time: nine seven five fifty."
    Der Sprinter war im letzten Jahr in der Vorbereitungsphase auf die Weltmeisterschaften in Moskau gut in Form. Seine 9,75 Sekunden über 100 Meter bedeuteten Jahresbestzeit. Doch dann erwischten ihn die Dopingfahnder gleich zweimal bei Labortests. Gay verzichtete auf die üblichen Dementis und Schuldzuweisungen, die ertappten Sportlern so locker über die Lippen kommen. Stattdessen gab er der amerikanischen Anti-Dopingagentur wichtige Informationen. Im Gegenzug erhielt er vor ein paar Tagen eine Sperre von nur einem Jahr.
    Was er verriet, darüber ist offiziell nichts bekannt. Doch ein Bild von der Geschichte kann man sich trotzdem machen. Das ist das Verdienst des New Yorker Journalisten und Buchautors David Epstein, der es im Laufe der letzten Monate im Rahmen umfangreicher Recherchen zusammensetzte.
    Zu seinem Mosaik gehören unter anderem Cremes des Schweizers Erich Breitenmoser, der lange in Kalifornien lebte und deshalb seinen Produkten den Markennamen "West Coast Anti Aging Bio Topical" gab. Der Mann, der in Atlanta Gay offensichtlich damit versorgte, ist ebenfalls Chiropraktor: Clayton Gibson steht in dringendem Verdacht, schon länger Athleten aus unterschiedlichen Sportarten mit Dopingsubstanzen zu versorgen. Zu den Kunden gehört wohl unter anderem auch Gays Trainingspartnerin Kelly-Ann Baptiste aus Trinidad. "Baptiste on the near side. It's gonna be very close. Kelly-Anne Baptiste takes it. Campbell-Brown in second place..."
    Die Bronzemedaillengewinnerin über 100 Meter bei der WM 2011 wurde ebenfalls im letzten Jahr durch einen Test erwischt, wartet aber noch immer auf ihre Strafe. Wie erfolgreich amerikanische Ermittler sein werden, um dieses Doping-Netz zu zerschlagen, weiß natürlich auch David Epstein nicht. Aber er glaubt, dass sie demnächst noch einige Erfolgsmeldungen liefern werden. "Die einjährige Sperre werden viele für sehr milde halten. Gay kann in einem Monat schon wieder starten. Aber die amerikanische und die Welt-Antidopingagentur wollen zunehmend das tun, was das FBI im Kampf gegen die Mafia gemacht hat. Sie wollen Athleten, die man durch Tests erwischt hat, zu Kronzeugen machen. Das ist der einzige Weg, um gegen Trainer und das Umfeld vorzugehen. Man motiviert die Sportler, die in Schwierigkeiten sind, auszupacken."
    Breitenmoser lebt übrigens inzwischen mit Frau und zwei Kindern wieder in der Schweiz. Sein Geschäft wird über eine Faxnummer in Kalifornien abgewickelt. Bei einem Anruf bei ihm zuhause vor ein paar Wochen lehnte er ein Interview allerdings ab. Übrigens fallen nicht alle Athleten auf die Versprechen solcher "Huckster" herein, wie derartige Verkäufertypen in Amerika genannt werden. Das fand David Epstein ebenfalls im Rahmen seiner Recherchen heraus, nachdem er las, was Lauryn Williams in ihrem Blog berichtete.Die Staffelgoldmedaillengewinnerin von London 2010, die aus Sotchi als Bremserin im Bob von Elana Meyers eine Silbermedaille mitbrachte, hatte demnach ebenfalls Gibson konsultiert – auf der Suche nach einer wirksamen Behandlung für ihre jahrelangen Oberschenkelprobleme. Doch sie reagierte alarmiert, als ihr der Chiropraktor weiß machen wollte, dass sie dringend Testosteron braucht. Die Geschichte aus dem Dezember steht noch immer in ihrem Blog – allerdings ohne den entscheidenden Namen und verbunden mit dem Ausdruck des Bedauerns. Sie hatte anschließend nichts unternommen. Dabei wusste sie eigentlich: "Ich hätte die USADA anrufen sollen."