Archiv


Dorfpuppen einmal anders

Eigentlich leben in Netzeband, rund 80 Kilometer von Berlin, nur rund 200 Einwohner. Ruhig und beschaulich geht es zu - doch einmal im Jahr erwachen das Dorf und die es umgebenden Wälder zum Leben: beim Theatersommer.

Von Hartmut Krug |
    Welcome, Welcome, Welcome, Welcome, to all the pleasures that delight

    "Anfangen, wo es anfängt. Es ist Frühling, mondlose Nacht in der kleinen Stadt, sternlos und bibelschwarz. Die Kopfpflasterstraßen still und der geduckte Liebespärchen- und Kaninchenwald humpelt unsichtbar hinab zur schlehenschwarzen, zehenschwarzen, krähenschwarzen fischerbootschaukelnden See."

    Während Thomas Neumann den Beginn von Dylan Thomas "Unter dem Milchwald" in den Abendhimmel raunt, treten die Figuren einer fiktiven Waliser Kleinstadt, deren Tagesablauf wortspielerisch beschrieben wird, aus dem Wald vor das Publikum. Es sind 53 über zwei Meter hohe Puppen, die der verstorbene Regisseur und Bühnenbildner Jürgen Heidenreich mit fantastischen Köpfen aus Stoffresten, Holzstücken und Lampenschirmen ausgestattet hat und die, geführt an langen Stangen, von den vom Band ertönenden Stimmen der Schauspieler belebt werden.

    Die wundersam poetische Inszenierung, mit der vor 15 Jahren der Theatersommer Netzeband begann, ist dessen noch immer auf dem Spielplan stehendes Erfolgsstück:

    "Wie geht`s bei Euch oben? Gibt´s noch Rum zu trinken und Tang zu essen? Früchte und Rotkehlchen? Ziehharmonika. Ebenaisers Glocke? Keilereien und Zwiebeln und Spatzen."

    Rund 80 Kilometer nördlich von Berlin, etwas oberhalb von Neuruppin, liegt das kaum 200 Einwohner umfassende märkische Straßendorf Netzeband. 1990/91 wurde es von einem Düsseldorfer Landschaftsarchitekten wach geküsst. Obwohl die Gebäude verfielen, war er fasziniert von der klassizistischen Temnitzkirche, dem Guts- und dem Zollhaus, den alten Vierseithöfen und dem Landschaftspark, und entwickelte ein "Konzept der integrierten ländlichen Entwicklung", zu dem auch die Kultur mit Ausstellungen und Theater gehörte. Netzeband wurde für die Expo 2000 als Vorzeigeprojekt unter dem Titel "Metamorphose eines Gutsdorfes" ausgewählt, doch weitergehenden Plänen des Landschaftsarchitekten verschloss sich die Gemeinde. Immerhin strahlen Dorf, Kirche und der Gutspark als Naturbühne heute in neuer Schönheit, ein Landhotel wurde in zwei restaurierten Vierseithöfen eröffnet und der Theatersommer lockt weiterhin seine Zuschauer aus der Umgebung und aus Berlin an:

    "Ein Bestandteil dieses Konzeptes der integrierten ländlichen Entwicklung war Theaterkultur. Und ich bin hierher gekommen, habe mir das angeguckt dann schnell gemeinsam mit Jürgen Heidenreich, und wir haben uns dann anstecken lassen und haben das dann 96 zum ersten Mal gemacht mit "Unter dem Milchwald" und mit den "Sommergästen", und seitdem läuft es."

    Frank Matthus, Schauspieler, Regisseur und künstlerischer Leiter des Theatersommers, ist von Beginn an dabei:

    "Wir wollen, in Anführungsstrichen, 'richtiges Theater' machen. Wir wollen also kein Sommertheater machen. Also nicht Mantel und Degen, zumindest nicht als Hauptkernstück Märchenproduktion oder Bierwagen, Feuerwerk und solche Geschichten. Wir wollen eigentlich nahezu Kammerspiel in Netzeband stattfinden lassen, was ja auch die Herausforderung ist, weil man so ein auch manchmal stilles Theater nicht einfach so in den großen Raum setzen kann, und da galt es dann auch Möglichkeiten und Ästhetiken zu erfinden."

    Zwar unterstützen Gemeinde, Landkreis und Land den Theatersommer, doch bei einem Gesamtetat von 110.000 Euro ist jedem Beteiligten klar, dass er hier kein Geld verdienen kann:

    "Ich habe damals, im ersten Jahr, die "Sommergäste" von Maxim Gorki inszeniert, mit noch damals richtigen Schauspielern, im nächsten Jahr "Sappho", dann gab es "Tor und Tod" und "In seinem Garten liebt Don Perlimplin Belisa", das war ein Projekt von Jürgen wiederum."

    Der Gutspark, fünfzig Meter breit und einhundertfünfzig Meter tief, geht hinab bis in den Wald. Für diesen Spielort mit seinen allabendlich 200 bis 300 Zuschauern hat Frank Matthus eine besondere Theaterform entwickelt, die er erstmals bei seiner Inszenierung von Shakespeares "Macbeth" im großen Maßstab ausprobierte:

    "Wir nennen es Synchrontheater. Wir nehmen den Text komplett auf Band auf, mit sehr guten Schauspielern. Dann wird das zusammengeschnitten, noch ein bisschen mit Geräuschen bearbeitet und wird als Toninstallation in den Park gesetzt. Und dazu bewegen sich Darsteller –Tänzer, Schauspieler, auch sehr viel Laien – mit Masken zum Text. Sie synchronisieren ganz simpel den Text."

    Diese eigene Spielform von hohem ästhetischem Reiz, bei der viele prominente Schauspielerstimmen zu hören sind, aber nur fünf professionelle Schauspieler neben Schauspielstudenten und Laien auf der Naturbühne stehen, könnte man neudeutsch als künstlerisches "Alleinstellungsmerkmal" bezeichnen. Immerhin lockt es im mittlerweile 15. Jahr immer mehr Publikum nach Netzeband. Das in diesem Jahr nicht nur den dritten Teil eines von Frank Matthus unter Pseudonym selbst geschriebenen "Nibelungen-Projektes" geboten bekommt, sondern zum Abschluß des Theatersommers auch alle drei Teile.