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"Dr. Faustus"

Vorspiel in der Tiefe: Bei Pluto und seinem Leichenkahnfahrer Charon herrscht Frust, da auf Erden in lausigen Zeiten keine "großen Seelen" anfallen. Sanft meldet sich der Ruderschlag aus der Tiefe des Orchestergrabens und illustrativ schlägt Charons Ruder gegen die Höllentür (Sabine Hartmannshenns Inszenierung zeigt dazu ein Schattenspiel). Die Herren der Unterwelt kommen überein, einen deutschen Intellektuellen zur Belebung des Bösen zu aktivieren – eben den aus dem Deutschunterricht sattsam bekannten Doktor Faust. Also: Vorhang auf und tief hinein in eine deutsche Geistesgeschichte, die um 1950 noch einmal mit aufgefrischter alter Liebe (aber durchaus mit neuen polemischen Zuspitzungen) erzählt wurde.

Von Frieder Reininghaus |
    "So kann's nicht weitergehen", sagt der Faust Eislers und Schenkers in seinem sechzehneckigen Vielzweckraum, dessen Leichtbau-Wellblechwände sich wie Rolläden hochziehen lassen und unterschiedliche Einblicke gewähren. Die Studierstuben-Möbel erhielten die Umrisse der Stadtkirche und der Spitzgiebel Wittenbergs. Die Laubsäge-Arbeit skizziert die frustrierende Idylle, in welcher die Geistes-Koryphäe zum Zweck der Selbstverwirklichung und -Erhöhung einen Pakt mit Mephisto schließt. Von dort bricht er durch die Lüfte auf nach dem neu entdeckten Land Atlanta, in dem unschwer die USA zu erkennen sind – ein Land mit starken Sicherheitsvorkehrungen, Turbo-Kapitalismus sowie der schönen blonden Elsa als Freiheitsstatue, bei genauem Hinsehen ein Haifischbecken und Krokodilsgehege – aber ganz in feines Designer-Weiß getaucht. Friedrich Schenker wollte durchaus auf Aktuelles anspielen mit seiner Hinwendung zum vielschichtig historischen Sujet, zu dessen Bearbeitung die Anregung von der letzten Witwe Eisler ausging:
    Es gibt mehrere Anstöße – den letzten hat natürlich die Steffi gegeben, die Witwe von Eisler, indem sie sagte: Ich will mir das noch einmal ankucken – ob ich nicht Lust hätte, das zu komponieren.
    Schenker ist von der Aktualität des Librettos überzeugt:
    Ich habe gemerkt, dass das Stück von Anfang bis Ende voll politischer Aktualitäten ist, die es auch heute – gottzeidank oder leider – in keinster Weise eingebüßt haben.
    Die höllische Unterwelt hat Friedrich Schenker ebenso wie die atlantische Glitzersphäre, die Verhandlung des Teufelspaktes und die Einlagen des Hanswurst mit einer relativ einheitlichen, auf Zwölfton-Technik gegründeten Tonspur versehen: Alles mit viel großen und kleinen Nonen, Septimen und Sekunden eng am Libretto entlang komponiert und sehr textlastig. Vom Text sind freilich keine zehn Prozent zu verstehen (und die inzwischen dem Musiktheater geläufigen Mittel zur Nachhilfe wurden nicht in Anschlag gebracht). So handelte es sich gestern Abend in Kassel um eine Literatur-Oper, der – trotz des redlichen Bemühens von Kai Günther als Mephisto und Johannes Kösters in der Titelpartie – mit der Textverständlichkeit auch der Sinn abhanden kam.

    Auf den, wie auf den Neben- und Hintersinn kommt es an. Vielleicht hätte aus der ursprünglich gut vierstündigen Partitur noch weit mehr herausgekürzt und im Gegenzug die Rahmenhandlung, der Roman eines Librettos, komponiert, wenigstens aber inszeniert werden sollen: die Erinnerung an das, was der Komponist und Kommunist Eisler im kalifornischen Exil in den 40er Jahren einerseits mit Thomas Mann diskutierte; andererseits das, was Eisler mit seinem Freund Bertolt Brecht, ausheckte: wie das Sujet unter Umgehung des Kontinents Goethe noch einmal zu fassen und zu aktualisieren sei. Das führte nach 1950 zu einer Libretto-Lösung, die äußerlich die SED-Vorgabe jener "neuen deutschen Volkstümlichkeit" aufs Schild hob, im politischen Kern jedoch den unsäglichen Kulturkonzepten der Gruppe Ulbricht widersprach und zum großen Angriff auf Eisler führte. Das ist und bleibt der spannendste Aspekt – und welch ein Stoff für modernes Musiktheater! Das Staatstheater Kassel mit seinem umtriebigen Intendanten Nix hat das große Thema verschenkt und vergeigt. Ermüdend die redundante, detailversessene Partitur und spießig die Inszenierung, die die großen Fragen des Doktor Faust und seiner jeweils notwendigen neuen Anverwandlung nicht begriff.