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Drei radikale Lebensentwürfe

Mit seinen "Angriffen" liefert der französische Schriftsteller Alban Lefranc, Jahrgang 1975, eine Trilogie radikaler Lebensentwürfe. Seine biografischen Kurzromane gelten dem Filmregisseur Rainer Werner Fassbinder, dem Schriftsteller Bernward Vesper und der Sängerin Nico.

Von Ralph Gerstenberg | 18.11.2008
    Ein Mann mit aufgedunsenem Gesicht brüllt seine Mutter an, die ähnliche Gedanken äußert wie der CSU-Vorsitzende Franz-Josef Strauß: Man solle die in Stammheim inhaftierten Terroristen öffentlich hinrichten. Eine Szene aus dem Film "Deutschland im Herbst" und zugleich der Beginn von Alban Lefrancs Buch "Angriffe".

    Der wütende Mann heißt Rainer Werner Fassbinder, kurz RWF, was ein bisschen wie RAF klingt, findet Lefranc - ein ironischer Verweis auf das Leitmotiv, das in seinem Buch die Biografien von Nico, Bernward Vesper und Fassbinder in romanhafter Form miteinander verbindet.

    "Das hat eigentlich alles mit Fassbinder angefangen. Ich habe seinen Film 'Deutschland im Herbst' sehr gemocht, weil ich die Art und Weise, wie er körperlich auf die Ereignisse des deutschen Herbstes reagiert, extrem spannend finde, wie er sich selbst so entblößt und auf eine sehr brutale Art zeigt. Das war eigentlich der Auslöser der Fassbinder-Biografie. Und da waren gleich Fassbinder und die RAF zusammen gewoben sozusagen."

    Auch in ästhetischer Hinsicht war Fassbinders Film für Alban Lefranc inspirierend. So wie dort die Grenze zwischen Dokumentar- und Spielfilm verwischt, montiert Lefranc Dokumente mit literarischen Fiktionen, ohne dass man diese eindeutig voneinander unterscheiden kann.

    "Auf Französisch hat man den Begriff 'Vie imaginaire', den ich sehr mag. Man weiß eigentlich nie, was erfunden wurde oder nicht, weil ich immer wieder Tatsachen mit Erfindungen mische."

    "Angriffe auf dem Weg im Schnee am Abend" heißt der erste der drei biografischen Kurzromane, die in dem Buch vereint sind. Rainer Werner Fassbinder erscheint darin als egomanischer Künstler, der an einem Filmprojekt arbeitet und das nächste bereits plant: einen Film über Mohammed Ali, in dem dessen Kampf gegen George Foreman noch einmal nachgestellt werden soll.

    Fassbinders Arbeitspensum ist enorm, sein Körper gerät aus den Fugen: eine fleischgewordene Grenzüberschreitung. Er nimmt alles in sich auf und scheidet es wieder aus: Drogen, Nahrung, Eindrücke, Ideen. Er weiß, dass dieser Körper nicht mehr lange funktionieren wird. Er ist ein Produkt der Nachkriegszeit.

    "Die Städte wurden fett. Die Spuren der Bombenangriffe hatte man allesamt sorgfältig entfernt. Die Flugzeuge starteten und landeten auf die Minute genau. Er war während der Entsorgung des Nationalsozialismus zur Welt gekommen, er wartete darauf, dass Deutschland wieder stark, wichtigste Macht in Europa, wiederbewaffnet und Fußballweltmeister war - auf das Ergebnis würde er dann, wie Hunde, seine Filme hetzen."

    "Irgendwann hat Fassbinder gesagt: 'Ich werfe keine Bombe, ich mache Filme'. Darum geht es mir auch: Wie befasst man sich mit künstlerischen Mitteln mit dieser Zeit, auch mit einer bestimmten Retouchierung der Geschichte, mit einer bestimmten Sprachlawine auch. Ja, die drei haben es versucht und sind teilweise gescheitert, aber großartig gescheitert."

    Fassbinder, Vesper und Nico stehen bei Alban Lefranc beispielhaft für eine Generation, die die Verbrechen der Nazizeit im Rücken und den Optimismus der Aufbaujahre vor Augen hatte. Im Gegensatz zur RAF reagierten sie mit künstlerischen Mitteln auf das bundesrepublikanische Wohlstandswachstum, mit dem die Wirtschaftswunderdeutschen glaubten, ein kollektives Recht auf das Vergessen erworben zu haben.

    Mit dem Schriftsteller Bernward Vesper, dessen Romanbiografie unter dem Titel "Münder und Waffen" den zweiten und längsten Teil des Buches bildet, hat Lefranc ein Bindeglied zwischen der schuldbeladenen Generation der Väter und der gewaltbereiten Fraktion der Nachkriegskinder gefunden. Auf beinahe tragikomische Weise schwankt Vesper als Sohn eines Nazidichters zwischen Bewunderung für den Vater und öffentlicher Selbstanklage, die niemand hören will. Vespers Texte finden keinen Verleger.

    Mehr Erfolg hat der Tübinger Germanistikstudent bei seiner Kommilitonin Gudrun Ensslin. Die beiden werden ein Paar und zeugen ein Kind. Vesper, der sich als Schriftsteller ungeheuer ernst nimmt, schreibt unzählige Testamente, in denen er Gudrun Ensslin anweist, auf welche Weise sein ungedrucktes Werk nach seinem Tod zu verbreiten sei.

    "Bei kleinen Buchhandlungen, betont er. Die Horde der Schulmeister, die in den Redaktionen in Kassel, in München, in Hannover, in Kiel, in Berlin die Macht an sich gerissen haben, daran hindern, zu seinen Gedichten und seinen Manifesten das Maul aufzureißen. Männer anheuern, Truppen aufbauen, in Kassel, in München, in Hannover, in Kiel, in Berlin Fressen einschlagen. Doch es geht vornan darum, über das Gedenken an das väterliche Werk zu wachen, die sieben unsterblichen Bände in Leder herauszugeben (…); das ist die unverjährbare Aufgabe seiner Gefährtin."

    "Das ist natürlich mit Vesper was Besonderes. Das ist der einzige Schriftsteller und da gibt es natürlich Selbsthasselemente drin. Das ist wirklich die Figur, die am stärksten scheitert und die ein bisschen lächerlich auch manchmal dargestellt wird. Da gab’s natürlich eine vielleicht unbewusste Tendenz, gegen die Figur des Schriftstellers ein bisschen mit der Kanone zu schießen."

    Im Laufe der Geschichte, in der Lefranc aus Vespers autobiografischem Romanessay "Die Reise" zitiert und das gesellschaftliche "Hintergrundrauschen" der 60er Jahre ebenso mitreflektiert wie Vespers Selbstmord im Jahr 1971, verlagert sich das Interesse des Erzählers ebenso wie das von Gudrun Ensslin auf einen ungebildeten Typen mit Marlon-Brando-Attitüde, der für seine Vorliebe für schnelle Autos ebenso bekannt war wie für seine Gewaltbereitschaft: Andreas Baader.

    "Baader wird nur zur reinen Projektion, ist nur irgendwie ein Stimmenchor. Ich hab ihm Sätze in den Mund gesteckt, die er natürlich nie ausgesprochen hat. Der wahre Baader hat wahrscheinlich sehr wenig mit meiner Romanfigur zu tun."

    "Man hat uns unsere Vorliebe für Porsches, Seidenhemden, Frauenbeine vorgehalten. Da fragt man sich doch, welches soziologische Seminar ein für alle Mal bestimmt hat, dass Revolutionäre Schrottmühlen fahren, sich in Lumpen kleiden und Mundgeruch haben müssen. Wir sind nichts als unsere Herkunft. Wir sind die Brut der zerstörten Metropolen, des Kriegs aller gegen alle, der Angst auf der Haut. (…) Doch diese Brut hat die Unorte, in die Ihr sie einquartieren wolltet, verlassen. In Euren Eingeweiden habt Ihr eine Armee ausgebrütet."

    In Lefrancs "Angriffen" kann eine ideologische Tirade in eine poetische Verdichtung münden, ohne dass es einen ästhetischen Bruch gibt. Die Sprache des Peter-Weiss-Übersetzers erinnert manchmal an die detailgenauen Beschreibungen in der "Ästhetik des Widerstands", aber auch an Thomas Bernhards "Untergeher" oder die rhythmisierten Monologe Heiner Müllers in der "Wolokolamsker Chaussee".

    Das biografische Material wird immer wieder durch assoziative Abschweifungen und Reflexionen gebrochen, kommentiert oder ironisiert. Die Sicht des Nachgeborenen drängt sich jedoch nicht besserwisserisch auf. Lefranc ist um eine komplexe und atmosphärische Darstellung der Personen bemüht, um etwas von dem Geist dieser Zeit zu erfassen.

    "Das ist eine Absicht dieser drei Bücher, zu zeigen, dass Biografie eigentlich nicht möglich ist, dass es immer Rekonstruktionen sind, Hypothesen, aber mehr kann man nicht machen. Ich wollte auch die Illusion der Retrospektiven ein bisschen bekämpfen oder korrigieren. Schon mit fünf hatte sie eine sehr schöne Stimme, und deshalb wurde sie Sängerin. Das ist natürlich absolut schwachsinnig so was. Die drei Bücher, vor allem Nico, spielen sehr ironisch mit dieser Tendenz, retrospektiv ein Leben zu erklären."

    Nach dem Filmemacher Fassbinder und dem Schriftsteller Vesper widmet sich Lefranc in seinem dritten Kurzroman "Sie waren nicht dabei" der Sängerin Nico, die mit 18 Deutschland verließ, um eine Modelkarriere zu starten, von Fellini für "La Dolce Vita" entdeckt und von Andy Warhol als Sängerin für The Velvet Underground engagiert wurde. Mit 20 gehörte sie bereits zur High Society und tat alles, um das, wofür sie ihrer Meinung nach zu Unrecht bewundert wurde - zum Beispiel ihr apartes Äußeres - zu zerstören.

    Im Gegensatz zu Fassbinder und Vesper suchte sie nicht verzweifelt nach Anerkennung, sondern versuchte, ihr zu entkommen. Um dieser auratischen Erscheinung, die sich die Welt auf Distanz hielt und ihre Biografie zurecht log, näher zu kommen, wählte Lefranc die direkte Anrede.

    "Sie wollen keine Biografie, das versteht sich von selbst. Sie hatten bereits damit gerechnet, dass die kompetenten Zeitungen, die allwissenden, ironischen, raffinierten Zeitungen Sie mit Scheiße überhäufen würden, mit der männlichen Herablassung, die sie alle überkam, wenn sie nicht gerade zu Ihren Füßen krochen: 'In den letzten Jahren wusch sie sich nicht mehr', 'Man war doch immer wieder gerührt, wenn man ihr alljährliches Konzert in Paris besuchte, wie sie da abends an ihrem klapprigen Harmonium saß', 'Sie aß nur noch Joghurt', 'Es könnte höchstens noch eine Träne hervorlocken, wenn sie ungelenk aufstand und eine peinliche Interpretation von All Tomorrow’s Parties ablieferte'. Sie konnten zumindest sicher sein, dass man Sie nicht unter Huldigungen begraben würde wie Fassbinder, Sie liefen mit Ihren paar Alben keine Gefahr, dass Ihre ehemaligen Feinde sich aus Ihrem Nachlass ihre Rente finanzieren würden."

    "Das Thema 'Biografie' ist vielleicht am stärksten bei Nico präsent, dass es unmöglich ist, eine Biografie zu schreiben. Bei Nico ist es wirklich der Fall, weil sie extrem oft reduziert wurde. Ich brauchte Feindbilder sozusagen, Artikel über sie, die sie extrem reduzieren, fast sexistisch, also massiv reduzieren auf eine schöne, dumme Pflanze. Mein Buch ist teilweise der Versuch einer Rehabilitierung: Mit Gewalt, mit Ironie. Ich bin auch manchmal brutal mit dieser Figur, aber ich wollte ihre ganze Komplexität zeigen, und das beste Mittel war dieses 'Sie', dass eine Distanz schafft, aber auch viel Raum lässt."

    Die in Alban Lefrancs Buch erstmals vereinten biografischen Kurzromane zeigen ein Spektrum künstlerischer Lebenswege, die nicht nur der frühe Tod verbindet, sondern auch die Radikalität in ihrem Kunstanspruch.

    Fassbinder, Vesper und Nico wollten ihr Publikum wachrütteln und schockieren. Im Gegensatz zur RAF brauchten sie dafür keine Bomben. Der Preis, den sie zahlten, war die Selbstzerstörung. Der junge französische Schriftsteller Alban Lefranc zollt ihnen dafür in der stilistisch brillanten Trilogie seinen Respekt.

    Alban Lefranc: Angriffe. Fassbinder, Vesper, Nico
    Aus dem Französischen von Katja Roloff,
    Blumenbar Verlag 2008,
    328 Seiten, 19,90 Euro