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Drei von vier

Haydns vier Violinkonzerte - von denen nur drei überliefert sind - gehören noch nicht zu den von Experimentierlust gekennzeichneten späteren Werken des Meisterkomponisten, sie atmen noch barocken Geist. Dennoch stecken sie voller Schwung und Erfindungsreichtum und sind beim großen italienischen Geiger Giuliano Carmignola in den besten Händen.

Von Ludwig Rink |
    Kein Mensch käme auf die Idee, Beethoven ernsthaft vorzuhalten, er habe ja bloß ein Violinkonzert geschrieben. Oder an seiner Produktivität zu zweifeln, weil er es nur zu neun Sinfonien gebracht hat. Gut, im Vergleich zu Joseph Haydn scheint Beethoven im Schneckentempo gearbeitet zu haben, denn Haydn hat immerhin 106 Sinfonien komponiert. Berücksichtigen müsste man, dass Haydn erst mit 77 Jahren starb, Beethoven dagegen waren nur 56 Lebensjahre vergönnt - aber rechtfertigt das diese immensen Unterschiede? Hat Beethoven getrödelt oder hat Haydn zu flüchtig gearbeitet? Schwer zu sagen - festzuhalten bleibt jedoch: Beethoven hat insgesamt, bei wohlwollendster Zählweise, 11 Werke für Soloinstrument und Orchester geschrieben, Haydn aber immerhin 24 - und doch scheint das für manch einen wenig zu sein. Zum Beispiel für den Verfasser des Booklets der CD, die ich Ihnen heute vorstellen möchte. Es ist - Sie wissen es längst - eben alles relativ. Und relativ unbekannt sind sie auch noch geblieben, diese Solokonzerte Haydns. Dem will ein, nein, der italienische Geiger schlechthin, nämlich Giuliano Carmignola, jetzt ein Ende setzen. Zusammen mit dem vom Belgier Philippe Herreweghe einst gegründeten französischen Orchestre des Champs-Élysées hat er jetzt alle Violinkonzerte des Österreichers Haydn eingespielt. Das müssten eigentlich vier sein, doch eins ist verschollen, deshalb findet man auf der neuen CD der Archivproduktion also "nur" die drei Konzerte in C-Dur, A-Dur und G-Dur.

    Joseph Haydn
    Ausschnitt aus dem 1. Satz des Konzertes für Violine und Orchester Nr. 3 G-Dur
    Giuliano Carmignola, Violine
    Orchestre des Champs-Élysées
    Konzertmeister Alessandro Moccia
    LC 00113 Archiv Produktion
    477 8774


    29 Jahre alt war Joseph Haydn, als es ihm gelang, sein Musikerleben durch eine feste Anstellung auf eine solide Basis zu stellen. Bei den Esterházys, einem alten und angesehenen österreichisch-ungarischen Adelsgeschlecht, begann die glücklichste und schöpferisch fruchtbarste Phase seines Lebens. Als Komponist erfuhr er generöse Förderung, hatte freien Zugang zu Notenmaterial und Instrumenten, leitete ein erstklassiges Orchester, das er durch Neuanstellungen auch noch erweitern konnte. Seine Fürsten waren zufrieden, dass er mit seinem musikalischen Wirken das Ansehen des Hofes steigerte. Das dauerte schließlich ganze 30 Jahre, und in diesem von Sicherheit geprägten Rahmen konnte Haydn seine berühmten kompositorischen Experimente machen. Er schrieb hier eine Vielzahl seiner Sinfonien, entwickelte das Prinzip der thematischen Arbeit, komponierte seine zukunftsweisenden Streichquartette sowie Opernwerke und Kirchenmusik. Die Violinkonzerte stammen aus der Anfangszeit dieser Arbeitsphase bei den Esterházys und dienten dazu, auch die solistischen Fähigkeiten seiner Orchestermusiker herauszustellen. Besonders das Können des italienischen Geigers Luigi Tomasini, der zeitweise Konzertmeister seiner Kapelle war, schätzte Haydn hoch; ihm widmete er das technisch anspruchsvolle Violinkonzert in C-Dur.

    Joseph Haydn
    1. Satz aus dem Konzert für Violine und Orchester Nr. 1 C-Dur (Ausschnitt)
    Giuliano Carmignola, Violine
    Orchestre des Champs-Élysées
    Konzertmeister Alessandro Moccia
    LC 00113 Archiv Produktion
    477 8774


    Haydns Violinkonzerte gehören noch nicht zu den fortschrittlichen, von Experimentierlust gekennzeichneten Werken, mit denen der österreichische Meister in Esterházy oder später auch in London Furore machte. Sie atmen vielfach formal und in der Themenbildung noch barocken Geist. Vielleicht standen sie deshalb lange Zeit im Schatten; erst im 20. Jahrhundert wurden sie gedruckt. Dennoch stecken sie voller Schwung und Erfindungsreichtum. Bei Giuliano Carmignola sind sie jedenfalls in den besten Händen. Er gilt als einer der großen italienischen Geiger seiner Generation und äußerst geschätzter Kammermusiker und ist sowohl auf dem barocken als auch auf dem modernen Instrument zuhause. Über 10 Jahre war er als Dozent für Violine am Konservatorium in Venedig tätig, und von 1978 bis 1985 Konzertmeister im Orchester des Theaters La Fenice. Seine Zusammenarbeit mit führenden italienischen Alte-Musik-Ensembles wie dem Venice Baroque Orchestra hat Carmignola zur Leitfigur des barocken Violinstils, vor allem der italienischen Musik des 18. Jahrhunderts, gemacht. Aufmerksam wurde man auf ihn Anfang der 1970er-Jahre, als er die ersten Preise gewann. Inzwischen ist er als Solist in ganz Europa aufgetreten und hat mit Dirigenten wie Claudio Abbado, Eliahu Inbal, Peter Maag oder Giuseppe Sinopoli zusammengearbeitet. In Begleitung der Virtuosi di Roma ging er in den siebziger Jahren als Solist auf Welttournee und wirkte als Kammermusiker in einem Klavierquartett. In Treviso geboren, hatte Giuliano Carmignola sein Studium zunächst bei seinem Vater begonnen und war dann später an das Konservatorium Benedetto Marcello in Venedig gegangen und hatte Meisterkurse bei Nathan Milstein, Franco Gulli und Henryk Szeryng besucht. Längst unterrichtet er selbst: 1999 wurde er als Professor für Violine an die Musikhochschule Luzern berufen.

    Die jetzt vorliegende CD mit den Haydn-Violinkonzerten ist nicht seine erste Schallplatten-Veröffentlichung. Seine Version der "Vier Jahreszeiten" erhielt bereits 2001 einen Echo Preis, es folgten weitere Violinkonzerte von Vivaldi, von Locatelli und schließlich, zusammen mit Andrea Marcon, eine Einspielung der Bach-Sonaten für Violine und Cembalo. Seit 2004 ist Giuliano Carmignola Exklusivkünstler bei der Deutschen Grammophon, wo er zunächst eine Silberscheibe mit dem Titel "Concerto Veneziano" veröffentlichte. Darauf folgten weitere Violinkonzerte von Vivaldi und schließlich 2008 eine CD mit allen Mozart-Konzerten gemeinsam mit dem Orchestra Mozart unter der Leitung von Claudio Abbado. Und jetzt eben Haydn. Hier der 2. Satz aus dem C-Dur-Violinkonzert.

    Joseph Haydn
    Adagio aus dem Konzert für Violine und Orchester Nr. 1 C-Dur
    Giuliano Carmignola, Violine
    Orchestre des Champs-Élysées
    Konzertmeister Alessandro Moccia
    LC 00113 Archiv Produktion
    477 8774


    Sie hören es - Carmignola ist nicht nur ein äußerst temperamentvoller, hochvirtuoser Musiker, der kaum technische Probleme zu kennen scheint, er kann auch langsame Sätze. Mit bestechender Eindringlichkeit, Mut zu einem beeindruckenden Piano und einer großen Klangfarbenpalette geht er auch beim Adagio zu Werke - und das immer in intensivem Kontakt zu den Musikern des Orchestre des Champs Élysées. Fast zeitlos die Ruhe, erhaben das Gefühl und vor allem: kein kitschiges Übermaß an Vibrato. Carmignola ist ein Virtuose mit manchmal eigenwilligen Einfällen, immer gut für Überraschungen und unerwartete Wendungen. Sein fingerfertiges Spiel lebt von äußerst facettenreicher Phrasierung und überlegter Artikulation. Seine ebenso effektvollen wie präzisen Gestaltungsideen fallen beim Orchester auf fruchtbaren Boden und werden bereitwillig gekontert. Wie hier im letzten Satz des 4. Konzertes.

    Joseph Haydn
    3. Satz (Allegro) aus dem Konzert für Violine und Orchester Nr. 4 G-Dur
    Giuliano Carmignola, Violine
    Orchestre des Champs-Élysées
    Konzertmeister Alessandro Moccia
    LC 00113 Archiv Produktion
    477 8774


    Die Neue Platte - heute mit Giuliano Carmignola und dem Orchestre des Champs Élysées, die bei der Archiv Produktion jetzt die drei überlieferten Violinkonzerte von Joseph Haydn eingespielt haben. Ich wünsche Ihnen einen schönen Sonntag und dem der's mag, noch erlebnisreiche Karnevals- oder Faschingstage. Am Mikrofon war Ludwig Rink.

    Discografie

    Joseph Haydn: Violinkonzerte 1-4
    Orchestre des Champs-Elysées
    Giuliano Carmignola, Violine
    LC 00113 Archiv Produktion
    477 8774