Freitag, 19. April 2024

Archiv


Ehemaliger Verfassungsrichter plädiert für Videoübertragung bei NSU-Prozess

Da beim NSU-Verfahren nicht alle Interessierten zugelassen werden können, sollte das Gericht einen zweiten Saal eröffnen, sagt Ernst Gottfried Mahrenholz. Wenn die Öffentlichkeit nicht ausreichend Zugang habe, könnte sich ein Revisionsgrund ergeben, ergänzt der ehemalige Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts.

Ernst Gottfried Mahrenholz im Gespräch mit Peter Kapern | 16.04.2013
    Dirk-Oliver Heckmann: Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe, das hat am Freitag klipp und klar entschieden: So wie die Akkreditierung beim NSU-Prozess in München ablief, so geht das nicht. Es muss auch türkischen Medien die Möglichkeit gegeben werden, den Prozess zu verfolgen. Gestern dann entschied das Gericht, die Akkreditierung komplett zu wiederholen und den Prozess auf den 6. Mai zu verschieben. Mein Kollege Peter Kapern, der hat vor dieser Sendung gesprochen mit Ernst Gottfried Mahrenholz, dem ehemaligen Vizepräsidenten des Bundesverfassungsgerichts, und seine erste Frage an ihn lautete, ob er die Verschiebung für eine kluge Lösung hält.

    Ernst Gottfried Mahrenholz: Ja, das ist eine kluge Lösung, denn das war eine vollkommen verkanntete Sache, weil man die Ausländer, vor allen Dingen die türkischen Medienvertreter, praktisch benachteiligt hat in der Zugabe der Plätze, denn das ging im Prinzip nach dem Windhundverfahren: Wer zuerst kommt, malt zuerst. Das kann man in einem so sensiblen Prozess, wo Türken ermordet sind durch deutsche Rechtsradikale, nicht machen, und das hat das Bundesverfassungsgericht in einer außerordentlich genauen, sorgfältigen Analyse der Situation und einem Vorschlag dargelegt und hat am Schluss gesagt, was die Türken betrifft, die türkischen Medienvertreter, drei müssten es zumindest sein.

    Peter Kapern: Nun hat aber das Oberlandesgericht in München beschlossen, eine völlig neue Akkreditierung durchzuführen, obwohl das Bundesverfassungsgericht ja in der vergangenen Woche durchaus auch einen anderen Weg skizziert hat, nämlich einfach drei Plätze, die für die allgemeine Öffentlichkeit vorgesehen waren, türkischen Medien zur Verfügung zu stellen.

    Mahrenholz: Ja, das ist die einfachste Lösung gewesen für die Richter in Karlsruhe. Aber das Gericht hat in seinem letzten Satz ausdrücklich gesagt, wenn dem Vorsitzenden Richter dieses Senats etwas Besseres einfällt, was genauso plausibel ist und was genauso rechtsstaatlichen Ansprüchen genügen kann, wie sie das Bundesverfassungsgericht ausführlich dargelegt hat, dann mag das so sein.
    Und da haben die wahrscheinlich, weil es klug ist, gesagt, dann rollen wir das ganze Verfahren noch mal von vorne auf und suchen, die Ungerechtigkeiten zu beseitigen, die dem bisherigen Verfahren zugrunde lagen.

    Kapern: Nun könnten aber neue Ungerechtigkeiten entstehen, beispielsweise wenn Journalisten, die im ersten Akkreditierungsverfahren einen Platz erhalten haben, im zweiten Akkreditierungsverfahren leer ausgehen. Ist das dann ein Ansatzpunkt für neue Klagen?

    Mahrenholz: Das wäre es möglicherweise, aber ich glaube, das Gericht wird sich davor hüten. Wenn es keine guten Gründe hat, das zu tun, dann wird es das auch nicht machen. Aber es kann natürlich sein, dass eine Anstalt sagt, ich vertrete immerhin täglich 500.000 Hörer, und eine andere bringt es nur auf 20, dass man es da möglicherweise so handhaben kann. Das wäre aber eine plausible neue Entscheidung, denn das war ja gerade das Thema, dass das Gericht gar nicht darauf geachtet hat, wie stark eigentlich die Öffentlichkeit ist, die dieses jeweilige Medium erzeugen will.

    Kapern: Nun gab es nicht nur Beschwerden und Klagen von Journalisten, die keinen Platz im Gerichtssaal bekommen haben; es gibt auch Beschwerden von Angehörigen der Mordopfer, die keinen festen Zuschauerplatz erhalten haben. Wie ist das zu bewerten?

    Mahrenholz: Wer von den Ermordeten Nebenkläger ist, hat einen Platz für sich und für seinen Anwalt. Aus dieser Rolle gibt es keine Klagen. Das Thema der Klagen berührt aber trotzdem einen ganz wesentlichen Punkt, den Sie ansprechen, denn es sind ja in diesem Verfahren natürlich sowohl Deutsche wie auch Türken wie auch vielleicht Griechen - es ist ja auch einer der Ermordeten wohl Grieche - interessiert, die wissen wollen, wie verfährt das deutsche Gericht in dieser schwierigen Situation. Das heißt, das Öffentlichkeitsinteresse der normalen Öffentlichkeit von Personen ist im Zweifel riesengroß. Das hat mir einer der türkischen Angehörigen auch gesagt: Er steht morgens um drei auf, in München lebt er, um um zehn Uhr auf alle Fälle dabei zu sein. Sie sehen aus diesem Beispiel, dass die Öffentlichkeit, die übrig bleibt im Saal, viel zu klein ist, und das Enttäuschende ist für mich an der Begründung des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts, dass es da keinen Hinweis darauf gibt, dass man in solchen Fällen, wo die Öffentlichkeit im Saal zu klein ist, oder zu knapp wird, nicht einfach in einen Saal weiter überträgt.

    Kapern: Sie wären also dafür, eine Videoübertragung zu gewährleisten in einen Nebensaal?

    Mahrenholz: Ja. Bei diesem Verfahren 40 bis 50 Leute zuzulassen, das ist unmöglich und das ist keine mögliche Erfüllung des Anspruchs, der in dem Wort Öffentlichkeit liegt.

    Kapern: Könnte sich Ihrer Meinung nach aus diesem Defizit, das Sie da geschildert haben, aus der Tatsache, dass keine genügend große Öffentlichkeit Zugang zu diesem Prozess finden wird, ein Revisionsgrund ergeben?

    Mahrenholz: Ja, das halte ich für denkbar. So wie viele Öffentlichkeit verstehen, ja nicht nur ich, halte ich das durchaus für denkbar, dass das ein Revisionsgrund werden könnte, und ich könnte mir aber auch auf der anderen Seite vorstellen, dass das Oberlandesgericht, also der sechste Senat, in München klug genug ist, dieses Problem vorauszusehen und vielleicht doch einen zweiten Saal zu eröffnen, wo man das ganze verfolgen kann.

    Heckmann: Der NSU-Prozess ist auf Anfang Mai verschoben worden. Mein Kollege Peter Kapern hat gesprochen mit Ernst Gottfried Mahrenholz, dem ehemaligen Vizepräsidenten des Bundesverfassungsgerichts.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.