Über "Ehre" spricht man nicht gern. Denn meist geht es dann um die dunklen Seiten dieses Begriffs – etwa um "Ehrenmorde", um die Ermordung von Frauen und Mädchen im Namen der Ehre. Im Namen einer Ehre, die oft keine individuelle ist, sondern die der Familie oder der Dorfgemeinschaft. Dass Ehre aber nicht nur Problem, sondern auch positiver Antrieb sein kann, zeigt der Philosoph Kwame Anthony Appiah in seiner Studie "Eine Frage der Ehre".
Appiah, geboren in London und aufgewachsen in Ghana, studierte in Cambridge und lehrt heute an der Princeton University. In seine bisherigen Ansätze zur Rekonstruktion einer kosmopolitischen Ethik fügt sich auch der nun vorgelegte Versuch über die Ehre als moralisches Gefühl, als "eine Triebkraft, die ihre Energie aus dem Dialog zwischen unserem Selbstbild und unserem Ansehen bei anderen schöpft und die uns veranlassen kann, unsere Verantwortung in einer gemeinsamen Welt wahrzunehmen".
Ich habe einen beträchtlichen Teil meines beruflichen Lebens auf den Versuch verwandt, meine Philosophenkollegen auf die theoretische und praktische Bedeutung von Dingen aufmerksam zu machen, denen sie möglicherweise zu wenig Beachtung schenken: Rasse und ethnische Zugehörigkeit, Geschlecht und Sexualität, Nationalität und Religion – die vielfältigen Identitäten, die unser Leben ausmachen. Wie sich zeigt, ist auch die Ehre ein wesentliches Thema, das von der neuzeitlichen Philosophie vernachlässigt worden ist. Der Blick auf die Ehre kann uns wie die Beachtung der Bedeutung sozialer Identitäten dabei helfen, andere so zu behandeln, wie es sich gehört, und zugleich das Beste aus unserem eigenen Leben zu machen. Philosophen wussten das einst – man lese etwa Montesquieu oder Adam Smith oder auch Aristoteles.
Appiah entwickelt seine "Theorie der Ehre" aber nicht aus einer "relecture" philosophischer Klassiker, sondern untersucht drei historische Wandlungsprozesse, die er "moralische Revolutionen" nennt. Die drei Fälle, die er glänzend erzählt und mit analytischem Scharfsinn untersucht, sind das Aussterben des Duells im Großbritannien des 19. Jahrhunderts, die Aufgabe des Füßebindens in der Spätzeit des kaiserlichen China und die Abschaffung der atlantischen Sklaverei, die vom britischen Empire ausging. Gemeinsam ist diesen drei Episoden eines: Die Argumente, die schließlich zur Abschaffung der genannten Praktiken führten, waren längst bekannt. Das Duellieren war immer ein irrationaler, potenziell mörderischer Handel; der Lotusfuß der chinesischen Frauen war immer eine lebenslang schmerzende Verkrüppelung; die Sklaverei war immer ein eklatanter Verstoß gegen die Würde der betroffenen Menschen. Was sich änderte, war der Ehrbegriff der Gesellschaften, in denen diese Praktiken geübt wurden. Was sich änderte, war, so Appiahs Beobachtung, das Gefühl für die eigene Würde und für die des anderen - und das Verständnis von jenem Respekt, den ein Mensch sich selbst und damit auch anderen schuldet.
Die historischen Episoden, die ich in diesem Buch untersuche, verdeutlichen verschiedene Aspekte der Funktionsweise von Ehre über Räume und Zeiten hinweg. Es handelt sich nicht um drei gesonderte lokale Geschichten, sondern um verschiedene Stränge ein und derselben menschlichen Geschichte, die für Menschen in Singapur, Bombay oder Rio de Janeiro ebenso bedeutsam ist wie für solche in Los Angeles, Kapstadt oder Berlin. Und ich bin mir sicher, an all diesen Orten werden wir trotz lokaler Variationen des Themas Episoden finden, denen wir im Kern doch dieselbe Lektion entnehmen können.
Die Lektion, um die es geht, ist ein Verständnis von Ehre als Anspruch auf Respekt. Der weltbürgerliche Moralist belehrt und überzeugt durch historische Beispiele, aus denen er die Grundzüge einer "Theorie der Ehre" von hohem praktischem Wert entwickelt. Der Ehrenkodex einer Gesellschaft gebe Auskunft darüber, wie Menschen mit einer bestimmten Identität das Recht auf Respekt erwerben und wie sie es verlieren. Und welche Auswirkungen der Besitz oder der Verlust von Ehre auf ihre Behandlung durch andere habe. Ein Ehrenkodex verlangt ein bestimmtes Verhalten. Scham für Verfehlungen anderer ist kein folgenloses "Fremdschämen", sondern eine Frage der persönlichen Würde. Als buchstäblich ehrenwerte Beispiele eines vom eigenen Ehrgefühl geleiteten Handelns stellt Appiah dem Leser die pakistanische Menschenrechtsaktivistin Mukhtaran Bibi, Opfer einer brutalen Vergewaltigung zur vermeintlichen Wiederherstellung einer archaischen "Familienehre", und den amerikanischen Offizier Ian Fishback vor. Captain Fishback verlangte nach dem Bekanntwerden der Folterpraxis in Abu Ghraib von seinen Vorgesetzten eindeutige Verhaltensmaßstäbe für die Männer und Frauen in Uniform, um seiner Ehre als amerikanischer Offizier willen. Er nahm die Gefährdung seiner Karriere in Kauf. Mukhtaran Bibi, die gegen alle Widerstände ihre Vergewaltiger vor Gericht brachte, setzte damit ihr Leben aufs Spiel.
Wer sich für ein ehrenvolles Leben, ein Leben in Würde, entscheidet, muss mit Schwierigkeiten und Gefahren rechnen. Mit diesem Buch ermutigt Kwame Anthony Appiah dazu, das Wagnis einer solchen Entscheidung einzugehen. Einmal mehr hat er ein überzeugendes, einfühlsames Stück praktischer Philosophie vorgelegt, ein kleines Vademecum anständigen Lebens.
Alexandra Kemmerer über Kwame Anthony Appiah: "Eine Frage der Ehre oder: Wie es zu moralischen Revolutionen kommt". Das Buch kommt aus dem C.H. Beck Verlag, umfasst 272 Seiten und kostet 24 Euro und 95 Cent, ISBN: 978-3-406-61488-0.
Appiah, geboren in London und aufgewachsen in Ghana, studierte in Cambridge und lehrt heute an der Princeton University. In seine bisherigen Ansätze zur Rekonstruktion einer kosmopolitischen Ethik fügt sich auch der nun vorgelegte Versuch über die Ehre als moralisches Gefühl, als "eine Triebkraft, die ihre Energie aus dem Dialog zwischen unserem Selbstbild und unserem Ansehen bei anderen schöpft und die uns veranlassen kann, unsere Verantwortung in einer gemeinsamen Welt wahrzunehmen".
Ich habe einen beträchtlichen Teil meines beruflichen Lebens auf den Versuch verwandt, meine Philosophenkollegen auf die theoretische und praktische Bedeutung von Dingen aufmerksam zu machen, denen sie möglicherweise zu wenig Beachtung schenken: Rasse und ethnische Zugehörigkeit, Geschlecht und Sexualität, Nationalität und Religion – die vielfältigen Identitäten, die unser Leben ausmachen. Wie sich zeigt, ist auch die Ehre ein wesentliches Thema, das von der neuzeitlichen Philosophie vernachlässigt worden ist. Der Blick auf die Ehre kann uns wie die Beachtung der Bedeutung sozialer Identitäten dabei helfen, andere so zu behandeln, wie es sich gehört, und zugleich das Beste aus unserem eigenen Leben zu machen. Philosophen wussten das einst – man lese etwa Montesquieu oder Adam Smith oder auch Aristoteles.
Appiah entwickelt seine "Theorie der Ehre" aber nicht aus einer "relecture" philosophischer Klassiker, sondern untersucht drei historische Wandlungsprozesse, die er "moralische Revolutionen" nennt. Die drei Fälle, die er glänzend erzählt und mit analytischem Scharfsinn untersucht, sind das Aussterben des Duells im Großbritannien des 19. Jahrhunderts, die Aufgabe des Füßebindens in der Spätzeit des kaiserlichen China und die Abschaffung der atlantischen Sklaverei, die vom britischen Empire ausging. Gemeinsam ist diesen drei Episoden eines: Die Argumente, die schließlich zur Abschaffung der genannten Praktiken führten, waren längst bekannt. Das Duellieren war immer ein irrationaler, potenziell mörderischer Handel; der Lotusfuß der chinesischen Frauen war immer eine lebenslang schmerzende Verkrüppelung; die Sklaverei war immer ein eklatanter Verstoß gegen die Würde der betroffenen Menschen. Was sich änderte, war der Ehrbegriff der Gesellschaften, in denen diese Praktiken geübt wurden. Was sich änderte, war, so Appiahs Beobachtung, das Gefühl für die eigene Würde und für die des anderen - und das Verständnis von jenem Respekt, den ein Mensch sich selbst und damit auch anderen schuldet.
Die historischen Episoden, die ich in diesem Buch untersuche, verdeutlichen verschiedene Aspekte der Funktionsweise von Ehre über Räume und Zeiten hinweg. Es handelt sich nicht um drei gesonderte lokale Geschichten, sondern um verschiedene Stränge ein und derselben menschlichen Geschichte, die für Menschen in Singapur, Bombay oder Rio de Janeiro ebenso bedeutsam ist wie für solche in Los Angeles, Kapstadt oder Berlin. Und ich bin mir sicher, an all diesen Orten werden wir trotz lokaler Variationen des Themas Episoden finden, denen wir im Kern doch dieselbe Lektion entnehmen können.
Die Lektion, um die es geht, ist ein Verständnis von Ehre als Anspruch auf Respekt. Der weltbürgerliche Moralist belehrt und überzeugt durch historische Beispiele, aus denen er die Grundzüge einer "Theorie der Ehre" von hohem praktischem Wert entwickelt. Der Ehrenkodex einer Gesellschaft gebe Auskunft darüber, wie Menschen mit einer bestimmten Identität das Recht auf Respekt erwerben und wie sie es verlieren. Und welche Auswirkungen der Besitz oder der Verlust von Ehre auf ihre Behandlung durch andere habe. Ein Ehrenkodex verlangt ein bestimmtes Verhalten. Scham für Verfehlungen anderer ist kein folgenloses "Fremdschämen", sondern eine Frage der persönlichen Würde. Als buchstäblich ehrenwerte Beispiele eines vom eigenen Ehrgefühl geleiteten Handelns stellt Appiah dem Leser die pakistanische Menschenrechtsaktivistin Mukhtaran Bibi, Opfer einer brutalen Vergewaltigung zur vermeintlichen Wiederherstellung einer archaischen "Familienehre", und den amerikanischen Offizier Ian Fishback vor. Captain Fishback verlangte nach dem Bekanntwerden der Folterpraxis in Abu Ghraib von seinen Vorgesetzten eindeutige Verhaltensmaßstäbe für die Männer und Frauen in Uniform, um seiner Ehre als amerikanischer Offizier willen. Er nahm die Gefährdung seiner Karriere in Kauf. Mukhtaran Bibi, die gegen alle Widerstände ihre Vergewaltiger vor Gericht brachte, setzte damit ihr Leben aufs Spiel.
Wer sich für ein ehrenvolles Leben, ein Leben in Würde, entscheidet, muss mit Schwierigkeiten und Gefahren rechnen. Mit diesem Buch ermutigt Kwame Anthony Appiah dazu, das Wagnis einer solchen Entscheidung einzugehen. Einmal mehr hat er ein überzeugendes, einfühlsames Stück praktischer Philosophie vorgelegt, ein kleines Vademecum anständigen Lebens.
Alexandra Kemmerer über Kwame Anthony Appiah: "Eine Frage der Ehre oder: Wie es zu moralischen Revolutionen kommt". Das Buch kommt aus dem C.H. Beck Verlag, umfasst 272 Seiten und kostet 24 Euro und 95 Cent, ISBN: 978-3-406-61488-0.