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Eifersucht

"Ich machte nun die Erfahrung, wie man leidet, wenn man an der Person zweifelt, die im Mittelpunkt der eigenen Gedanken steht, wie man leidet an dem, was man sich zusammenfabuliert, um die vermeintlichen Lücken im Leben des anderen zu schließen", schreibt Cathérine Millet in ihrem Buch "Eifersucht ".

Von Martin Winkelheide |
    Auf seinem Schreibtisch fand ich das (...) Kuvert wieder. (...) Die Aufnahmen zeigten eine junge Frau, die mit dem Fotoapparat, den sie in ihren Händen hielt, ihr eigenes Spiegelbild fotografiert hatte; sie war nackt, saß auf dem Boden, die Beine gespreizt, ihr Bauch der einer Schwangeren. (S. 65)

    Jacques machte die (...) Reise in die Provinz, und da fing ich an, alle seine Notizhefte zu überfliegen. (...) Ich hatte mir eine eigene Art von Schnelllektüre angewöhnt, mit deren Hilfe ich weibliche Vornamen herausfischte. Genauso übte sich mein Auge darin, in einem mit losen Briefen vollgestopften Fach im Bücherregal die Umschläge mit weiblicher Handschrift aufzuspüren.
    (S. 70 f.)

    Über eine Wendeltreppe aus Metall gelangt man in Jacques’
    Arbeitszimmer. (...)Mit einiger Anstrengung konnte ich vorbeigehen, ohne hinzusehen, doch auf der Schwelle zum Badezimmer angelangt, machte ich sehr oft kehrt und wandte mich der Treppe zu. Nach kurzem Zögern stieg ich schnell hinauf, so als wollte ich es hinter mich bringen.
    (S. 101)

    Ich speicherte Situationen mit dazugehörigen Requisiten und Personen zu einem Repertoire, das meiner Phantasie ein Archiv an Bildern bereitstellte, wobei ich weder dessen Umfang vorhersah – noch seine Grausamkeit.
    (S. 73)
    Während ich Frauen, von deren Existenz ich nichts geahnt hatte, die Plätze in Jacques’ Leben unter sich aufteilen sah wie Schauspielerinnen, die bei der Probe ihre Markierungen auf der Bühne zeichnen, schränkte ich meine eigenen Bewegungen immer weiter ein.
    (S. 73)

    Ich machte nun die Erfahrung, wie man leidet, wenn man an der Person zweifelt, die im Mittelpunkt der eigenen Gedanken steht, wie man leidet an dem, was man sich zusammenfabuliert, um die vermeintlichen Lücken im Leben des anderen zu schließen.
    (S. 75)

    Hatten die ersten Fotos, die ich auf Jacques’ Schreibtisch fand, und die anfängliche Lektüre der Tagebuchseite in dem Moment nur eine schwache Reaktion hervorgerufen, brachte mich später die bloße Bestätigung meiner damaligen Vermutung mehrfach an den Rand der Ohnmacht.
    (S. 104)

    Mir entging nicht, dass meine inquisitorische Hartnäckigkeit Züge einer Sucht annahm. Symptome dafür waren die immer häufigeren Wiederholungen meines Tuns und das Bedürfnis nach immer heftigeren Schmerzen.
    (S. 106)

    In dem Maße, wie sich die Anfälle wiederholten (schätzungsweise ein-, zweimal im Monat), lernte ich ihr Herannahen zu erkennen. (...) In einer Kippbewegung richtete ich den Oberkörper auf, und die Fäuste schlugen gegen Schädel, Gesicht und Brust. Wie wenn ich mich gegen die Wand warf, hatte der physische Schmerz die Kraft, mich völlig zu absorbieren und dann, wenn er am heftigsten und genau lokalisiert war, den anderen Schmerz zu lösen, der so übermächtig ist, dass er sogar die eigene Ursache auslöscht.
    (S. 160f.)

    Kritik: Fahnden nach Belegen
    Catherine Millet: "Eifersucht", Carl Hanser Verlag, München 2010, 221 Seiten


    Cathérine Millet: Eifersucht
    Aus dem Französischen von Sigrid Vagt
    Carl Hanser Verlag, München, 2010