Katja Lückert: Boston - Erstaunlich wie diese Stadt auf die Anschläge und auch auf das Ende der Verfolgungsjagd reagiert hat. Eine Lektion in angewandter Resilienzforschung war jedoch bereits die Eröffnung des Eishockeyspiels der Boston Bruins gegen die Buffalo Sabers - nur zwei Tage nach den Anschlägen - gemeinsames Trauern klang dort so. (Einspielung)
Lückert: Boston - eine sportliche Großveranstaltung nur zwei Tage nach den Anschlägen. - Nach einer beispiellosen Jagd in den letzten Tagen wurden zwei Tatverdächtige gefasst, einer von ihnen überlebte, schwer verletzt - man habe eine Million Fragen an ihn, sagte der Gouverneur von Massachusetts, Deval Patrick, gestern - und das charakterisiert wohl noch immer die Lage zurzeit: Fragen, die Suche nach Puzzlestücken, Erklärungen nach so etwas wie Sinn im Sinnlosen.
Karl Kaiser war 30 Jahre lang Direktor des Forschungsinstituts für Auswärtige Politik und ist heute Politikprofessor an der Harvard Kennedy School in Cambridge. Herr Kaiser, bevor wir über Fragen der amerikanischen Mentalität reden wollen, denen Sie ohne Zweifel sehr nahe stehen, zunächst die Frage: Sie waren auf dem Campus auch dem Geschehen sehr nah in den letzten Tagen. Welches Erlebnis hat sich Ihnen eingeprägt?
Karl Kaiser: Wir alle wurden benachrichtigt. Alle Universitäten, also auch meine, haben ein Notrufsystem. Jeder Professor, jeder Student ist verbunden damit und erhält auf seinem Computer oder auf seinem Telefon eine Nachricht, und wir wurden alle aufgefordert, sofort zuhause zu bleiben oder in unseren Zimmern zu bleiben. Praktisch die gesamte Metropolitan Area, also das große Boston mit den Vororten, machte zu. Die Straßen waren leer. In meinem eigenen Institut hatten wir eine internationale Konferenz und alle Teilnehmer mußten den ganzen Tag im Hotel hocken. Millionen saßen vor dem Fernseher, nicht nur in der Bostoner Gegend, sondern praktisch ganz Amerika hat den Ablauf dieses Dramas mitverfolgt, das ja wirklich ungewöhnlich war, sowohl im Anlass, das Ziel dieses Attentats, aber dann auch im Ablauf und shcließlich auch im Ende.
Lückert: Das heißt, Ihre Konferenz konnten Sie gar nicht mehr abhalten?
Kaiser: Nein, die konnte dann am Ende stattfinden. Am Samstagvormittag hatten wir noch einen halben Tag und haben dann die Reste zusammengeholt und die Konferenz zu Ende gebracht.
Das Ziel dieses Anschlags war ja auch sehr ungewöhnlich, was auch in Europa vielleicht nicht ganz verstanden wird. Der Boston Marathon ist ja kein Marathon, wie sie überall jetzt stattfinden, sondern das ist eine historische Einrichtung. Die geht zurück auf das Jahr 1897 und findet immer statt am Patriots Day, das heißt an dem Tag, an dem die amerikanische Revolution ausbracht, wo also Paul Revere seinen berühmten Ritt machte und die Milizen warnte, daß die Briten kamen. Und das ist ein Frühlingsfest, das die Bostoner sozusagen vereint, und daß der Anschlag da geschah – das hat ja auch Präsident Obama in seiner Rede dann gesagt -, das war ein Anschlag auf das Herz sozusagen der amerikanischen Identität und deshalb schockierte ja auch dieses Ereignis so viele. Dies ist ein historischer Ort und ein historisches Ereignis, was angegriffen wurde.
Lückert: Schon zwei Tage nach dem Marathon gab es mit einem Eishockeyspiel eine weitere sportliche Großveranstaltung in Boston, die zu einer Gedenkveranstaltung für die Opfer wurde. Man sang dort die Nationalhymne zusammen mit den Firefighters, wir haben es eben gehört, und beschwor auch die Stärke der Bostonians nach diesem Anschlag. Wie interpretieren Sie das? Ist das einfach der erklärte Wille, sich nicht unterkriegen zu lassen?
Kaiser: Dieses Ereignis brachte eine Seite des amerikanischen Charakters heraus, der gerade bei solchen Ereignissen sichtbar wird, nämlich die Fähigkeit zusammenzuhalten, Solidarität zu zeigen, Einigkeit zu produzieren in einer sehr schwierigen Situation, und das kam auch hier zum Ausdruck. Niemand hat sich beklagt über das, was gefragt wurde, alle hielten zusammen und das Singen der Nationalhymne bei diesem Sportereignis war sozusagen der Ausdruck, wir lassen uns nicht unterkriegen, wie ja auch Obama sagte, Boston ist zäh, resilient, das heißt widerstandsfähig, und alle waren ja dann auch am Ende, als es vorbei war, was sehr ungewöhnlich ist und man muß sich das vorstellen in Europa, alle bedankten sich, alle, die beteiligt waren, traten vors Fernsehen und dankten einander für die Koordination, und die Bevölkerung klatschte, als die Polizisten dann abfuhren von dem Ort, wo das alles stattgefunden hat. Das war schon sehr ungewöhnlich und zeigt die Fähigkeit der amerikanischen Gesellschaft, in schwierigen Situationen zusammenzuhalten.
Lückert: Zwölf Jahre nach dem 11. September hat sich einiges getan in Amerika. Hatte man das Gefühl, die Terrorgefahr überwunden zu haben, zur Normalität zurückgekehrt zu sein?
Kaiser: Ja es war lange nichts mehr passiert und es ist richtig, daß man glaubte, das ist nicht mehr so wichtig wie früher. jetzt kommt es zurück. Vieles ist ja noch unklar, was die Motive der beiden gewesen ist. Es gibt diesen Hinweis auf muslimischen Extremismus, dem wird man jetzt nachgehen, und es gibt ja auch schon eine große Debatte darüber, ob man das als einen terroristischen Akt behandeln muß, bei dem Ausnahmeregeln gelten. Es gibt einige Senatoren, die sogar vorgeschlagen haben, daß ein Militärtribunal benutzt werden müßte, also daß sie behandelt werden sollten wie die Insassen von Guantanamo. Dagegen gibt es heftigen Widerspruch in der amerikanischen Gesellschaft. Auch das ist wiederum typisch für Amerika, daß man darüber debattiert, wie solche Fälle zu behandeln sind.
Es ist eben ein Rechtsstaat mit unterschiedlichen Normen und in einer sehr schwierigen Situation, welche Rechte man einem solchen Menschen gewähren kann. Es ist jetzt derzeitig so, daß wenn er aufwacht, der Attentäter, der noch am Leben ist, dann werden ihm nicht die sogenannten Miranda Rights, also seine Rechte gelesen, sondern unter Inanspruchnahme eines besonderen Gesetzes der nationalen Sicherheit wird er erst befragt und dann werden ihm seine Rechte vorgetragen, das heißt das Recht zu schweigen und das Recht, einen Rechtsanwalt zu haben.
Lückert: Karl Kaiser, Professor in Cambridge, eine Woche nach den Anschlägen auf den Marathon in Boston.
Lückert: Boston - eine sportliche Großveranstaltung nur zwei Tage nach den Anschlägen. - Nach einer beispiellosen Jagd in den letzten Tagen wurden zwei Tatverdächtige gefasst, einer von ihnen überlebte, schwer verletzt - man habe eine Million Fragen an ihn, sagte der Gouverneur von Massachusetts, Deval Patrick, gestern - und das charakterisiert wohl noch immer die Lage zurzeit: Fragen, die Suche nach Puzzlestücken, Erklärungen nach so etwas wie Sinn im Sinnlosen.
Karl Kaiser war 30 Jahre lang Direktor des Forschungsinstituts für Auswärtige Politik und ist heute Politikprofessor an der Harvard Kennedy School in Cambridge. Herr Kaiser, bevor wir über Fragen der amerikanischen Mentalität reden wollen, denen Sie ohne Zweifel sehr nahe stehen, zunächst die Frage: Sie waren auf dem Campus auch dem Geschehen sehr nah in den letzten Tagen. Welches Erlebnis hat sich Ihnen eingeprägt?
Karl Kaiser: Wir alle wurden benachrichtigt. Alle Universitäten, also auch meine, haben ein Notrufsystem. Jeder Professor, jeder Student ist verbunden damit und erhält auf seinem Computer oder auf seinem Telefon eine Nachricht, und wir wurden alle aufgefordert, sofort zuhause zu bleiben oder in unseren Zimmern zu bleiben. Praktisch die gesamte Metropolitan Area, also das große Boston mit den Vororten, machte zu. Die Straßen waren leer. In meinem eigenen Institut hatten wir eine internationale Konferenz und alle Teilnehmer mußten den ganzen Tag im Hotel hocken. Millionen saßen vor dem Fernseher, nicht nur in der Bostoner Gegend, sondern praktisch ganz Amerika hat den Ablauf dieses Dramas mitverfolgt, das ja wirklich ungewöhnlich war, sowohl im Anlass, das Ziel dieses Attentats, aber dann auch im Ablauf und shcließlich auch im Ende.
Lückert: Das heißt, Ihre Konferenz konnten Sie gar nicht mehr abhalten?
Kaiser: Nein, die konnte dann am Ende stattfinden. Am Samstagvormittag hatten wir noch einen halben Tag und haben dann die Reste zusammengeholt und die Konferenz zu Ende gebracht.
Das Ziel dieses Anschlags war ja auch sehr ungewöhnlich, was auch in Europa vielleicht nicht ganz verstanden wird. Der Boston Marathon ist ja kein Marathon, wie sie überall jetzt stattfinden, sondern das ist eine historische Einrichtung. Die geht zurück auf das Jahr 1897 und findet immer statt am Patriots Day, das heißt an dem Tag, an dem die amerikanische Revolution ausbracht, wo also Paul Revere seinen berühmten Ritt machte und die Milizen warnte, daß die Briten kamen. Und das ist ein Frühlingsfest, das die Bostoner sozusagen vereint, und daß der Anschlag da geschah – das hat ja auch Präsident Obama in seiner Rede dann gesagt -, das war ein Anschlag auf das Herz sozusagen der amerikanischen Identität und deshalb schockierte ja auch dieses Ereignis so viele. Dies ist ein historischer Ort und ein historisches Ereignis, was angegriffen wurde.
Lückert: Schon zwei Tage nach dem Marathon gab es mit einem Eishockeyspiel eine weitere sportliche Großveranstaltung in Boston, die zu einer Gedenkveranstaltung für die Opfer wurde. Man sang dort die Nationalhymne zusammen mit den Firefighters, wir haben es eben gehört, und beschwor auch die Stärke der Bostonians nach diesem Anschlag. Wie interpretieren Sie das? Ist das einfach der erklärte Wille, sich nicht unterkriegen zu lassen?
Kaiser: Dieses Ereignis brachte eine Seite des amerikanischen Charakters heraus, der gerade bei solchen Ereignissen sichtbar wird, nämlich die Fähigkeit zusammenzuhalten, Solidarität zu zeigen, Einigkeit zu produzieren in einer sehr schwierigen Situation, und das kam auch hier zum Ausdruck. Niemand hat sich beklagt über das, was gefragt wurde, alle hielten zusammen und das Singen der Nationalhymne bei diesem Sportereignis war sozusagen der Ausdruck, wir lassen uns nicht unterkriegen, wie ja auch Obama sagte, Boston ist zäh, resilient, das heißt widerstandsfähig, und alle waren ja dann auch am Ende, als es vorbei war, was sehr ungewöhnlich ist und man muß sich das vorstellen in Europa, alle bedankten sich, alle, die beteiligt waren, traten vors Fernsehen und dankten einander für die Koordination, und die Bevölkerung klatschte, als die Polizisten dann abfuhren von dem Ort, wo das alles stattgefunden hat. Das war schon sehr ungewöhnlich und zeigt die Fähigkeit der amerikanischen Gesellschaft, in schwierigen Situationen zusammenzuhalten.
Lückert: Zwölf Jahre nach dem 11. September hat sich einiges getan in Amerika. Hatte man das Gefühl, die Terrorgefahr überwunden zu haben, zur Normalität zurückgekehrt zu sein?
Kaiser: Ja es war lange nichts mehr passiert und es ist richtig, daß man glaubte, das ist nicht mehr so wichtig wie früher. jetzt kommt es zurück. Vieles ist ja noch unklar, was die Motive der beiden gewesen ist. Es gibt diesen Hinweis auf muslimischen Extremismus, dem wird man jetzt nachgehen, und es gibt ja auch schon eine große Debatte darüber, ob man das als einen terroristischen Akt behandeln muß, bei dem Ausnahmeregeln gelten. Es gibt einige Senatoren, die sogar vorgeschlagen haben, daß ein Militärtribunal benutzt werden müßte, also daß sie behandelt werden sollten wie die Insassen von Guantanamo. Dagegen gibt es heftigen Widerspruch in der amerikanischen Gesellschaft. Auch das ist wiederum typisch für Amerika, daß man darüber debattiert, wie solche Fälle zu behandeln sind.
Es ist eben ein Rechtsstaat mit unterschiedlichen Normen und in einer sehr schwierigen Situation, welche Rechte man einem solchen Menschen gewähren kann. Es ist jetzt derzeitig so, daß wenn er aufwacht, der Attentäter, der noch am Leben ist, dann werden ihm nicht die sogenannten Miranda Rights, also seine Rechte gelesen, sondern unter Inanspruchnahme eines besonderen Gesetzes der nationalen Sicherheit wird er erst befragt und dann werden ihm seine Rechte vorgetragen, das heißt das Recht zu schweigen und das Recht, einen Rechtsanwalt zu haben.
Lückert: Karl Kaiser, Professor in Cambridge, eine Woche nach den Anschlägen auf den Marathon in Boston.