Man hat 14 dieser skurrilen Erzählungen über ein unsauberes Dasein in einer Hygiene-Diktatur, einen seltsamen Single in einer verordneten Pärchengesellschaft oder über eine Kneipenbekanntschaft mit Geschwindigkeitsproblemen gelesen, es schwirrt einem schier der Kopf vor lauter nervigen Nachbarn, tiefgekühlten Leichen und bedrohlichen Uniformierten, man ist durch schäbige Wohnküchen gestolpert, durch finstere Kinos getorkelt und in die höchsten Baumkronen geklettert, da fällt in der Erzählung "Gold im Gebirge" unvermittelt dieser Satz:
"Möglicherweise ist jetzt genau das passiert, was ich immer befürchte: Ich bin dement, habe Alzheimer oder einen anderen Morbus-Dings im Kopf. Als Schriftsteller wäre ich damit erledigt. Schon nach ein paar Seiten, wüsste ich nicht mehr, was ich am Anfang geschrieben habe. Ich müsste mich auf einen Berg zurückziehen und auf mein Ende warten. Dabei erkenne ich die Welt nur, wenn ich sie schreibe."
Diagnose Alzheimer
Mitten im Irrsinn ist das fiktive Ich unvermittelt ganz dicht bei Gunter Gerlach. Oder umgekehrt Gerlach ganz dicht bei dem Ich, das er selbst gerade erfunden, mit Leben erfüllt und auf eine wilde Tour de force geschickt hat. Um die Welt zu erkennen. Doch das war für ihn selbst kürzlich plötzlich vorbei.
"Und dann? War es Zeit für mich, von Freund zu Freund, ihm ein "Lesmal" zu setzen," schreibt Lou A. Probsthayn, langjähriger Freund, Kollege, Verleger von Gerlach im Nachwort dieses "Lesmal" genannten Denkmals. "Verlegenderweise habe ich unter dem Titel "Eine Wortausgabe für Gunter Gerlach" eine Crowdfunding ins Leben gerufen. Auf dem Weg in sein Vergessen, wollte ich auf diesem Weg seine Literatur unvergessen machen. Aber dazu brauchten ich und der Verlag Hilfe und viele Hände."
P + G = PENG
Den vergessenden Gunter Gerlach vor dem Vergessen bewahren – darum ging es bei dieser Crowdfunding-Aktion. Vier Wochen sollte sie dauern, wenn möglich 6000 Euro einbringen. Das Ziel war der erst zweite Erzählband Gerlachs, der von Hause aus eigentlich bildender Künstler ist und in den 1980er Jahren von der visuellen Poesie zur Prosa kam, einer surrealen Prosa, die ihm zwar viel Spaß, aber wenig Aufmerksamkeit brachte. Die bekam Gerlach dann ab den 1990er Jahren mit seinem Wechsel ins Krimisujet, als es plötzlich neben Aufmerksamkeit auch Preise gab: den Deutschen Krimipreis zum Beispiel und gleich drei Mal den Glauser, zuletzt als Ehrenpreis. Aufmerksamkeit bekam er auch mit der Künstlergruppe PENG, deren Mitgründer er in Hamburg war – wobei das P in PENG für seinen verlegenden Kumpel Probsthayn, das G am Schluss für Gerlach steht: PENG, Aktivisten, die Literatur in den öffentlichen Raum brachten und das Hamburger Dogma proklamierten.
Überwältigende Solidarität
"Irgendwann hieß es Demenz. Und schon fing das Vergessen an, verschoben sich Worte, verwechselten sich Buchstaben – A sagte B zu C – alles wurde absurd, nahezu komisch und da war dann der Gedanke, dass das das war, was man schon immer geschrieben hat: Absurde Geschichten. Anschließend kam die Angst, nie mehr zu schreiben und das schreiben zu können."
Von einsamen Wandlern in surrealen Landschaften, in denen es zum Beispiel ein Bohrloch zu betreuen gilt bis der Chef kommt. Doch er kommt nicht. Oder von dem Mann, der mit seiner Geliebten einen kollektiven Selbstmord beschließt, den er allerdings überlebt und danach unter keinen Umständen vollziehen darf. Selbst die Naturmächte erheben sich dagegen! Skurrilitäten, Schrulligkeiten, Traum- und Albtrumhaftes durchziehen die verstörenden Erzählungen von G.G. G.G. steht für Gunter Gerlach.
"G.G. steht auch für "geht gar nicht". Geht gar nicht, Krankheit. Geht gar nicht ohne Gunter Gerlach. Und geht schon gar nicht ohne seine Geschichten."
Kein falsches Wort
In Hamburg ist GG, ist der umtriebige Bühnenleser Gunter Gerlach ein Begriff, und deshalb verbreitete sich Probsthayns Aufruf zum Crowdfunding wie ein Lauffeuer. Kolleginnen, Freunde, Weggefährtinnen, Fans – binnen kürzester Zeit warfen trotz enger geschnürter Gürtel in Corona-Zeiten 131 teils sehr prominente Unterstützerinnen und Unterstützer so viel Geld in den virtuellen Hut, baute sich eine solche Armada von Helfern auf, dass noch vor Ablauf der Frist klar war: Gerlachs zweiter Erzählungsband kann erscheinen. Nun liegt er vor.
Gunter Gerlach: Ein falsches Wort und du bist tot. Erzählungen.
Literatur Quickie Verlag, Hamburg
220 Seiten, € 19
Literatur Quickie Verlag, Hamburg
220 Seiten, € 19