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Ein Gutachter für die Schafe

Für jedes gerissene Schaf erhält der betroffene Schäfer einen finanziellen Ausgleich. Um zu verhindern, dass Schäfer sich die Kompensationszahlungen erschleichen, muss jeder Kadaver offiziell gemeldet und beurteilt werden. Im Nationalpark von Mercantours ist dies Sache eines staatlichen Schadengutachters.

Von Simonetta Dibbern |
    Es ist Samstagvormittag, die Sonne scheint, es ist heiß. Gerard Millischer, einer der beiden Wolfsexperten des Nationalparks, hat eine gute Stunde Autofahrt hinter sich. Hier in Le Bourguet, einem kleinen Örtchen im Tinee-Tal direkt an der Route Nationale, hier ist er verabredet.

    Die Kirschbäume sind voller Früchte, vor dem Haus plätschert ein Brunnen. Es riecht nach Ziege und Schaf. Hier wohnt Lucien Millefors - so heißt der Schäfer, der ihn gestern angerufen hat.

    Ein kleiner weißhaariger Mann kommt um die Ecke: das Gesicht wettergegerbt, die Ärmel des karierten Hemds sind hochgekrempelt. Er strahlt über das ganze Gesicht, als er den Besucher begrüßt. Dabei kann ihm eigentlich kaum nach Lachen zumute sein: eins seiner Schafe liegt oben, in einer Hütte am Berg. Der Schäfer hatte das schwer verwundete Tier töten müssen.

    Gerard Millischer, Naturschützer und staatlich angestellter Wolfsspezialist, ist gut vorbereitet für eine lange Bergwanderung: Wanderstiefel, Rucksack, ein schwarzer Filzhut als Sonnenschutz. Einen Wanderstock hat er auch. Manchmal, sagt der drahtige 50jährige, sind es drei Stunden Fußmarsch bis zum Unfallort.

    "Als man mir diesen Job als Gutachter angeboten hat, habe ich lange überlegt: denn das ist eine heikle Angelegenheit. Die Schäfer sind zornig. Die Stimmung ist angespannt. In dieser Situation einen objektiven Schadensbericht aufzunehmen, das ist nicht gerade leicht. Außerdem ist man immer im Dienst, sieben Tage die Woche. Man weiß nie, wie weit man fahren muss und wie weit man danach noch zu Fuß gehen muss. Bei jedem Wetter. Natürlich ist die Arbeit auch interessant. Aber eben auch schwierig, körperliche und psychologische Schwerstarbeit."

    Dieser Fall scheint nicht sehr schwierig zu werden: der Schäfer ist nicht wütend. Eher scheint ihm es peinlich zu sein, dass sich der staatliche Wolfsexperte zu ihm bemühen musste. Und weit ist es auch nicht. Höchstens 20 Minuten, sagt Lucien. Zieht die Haustür zu und geht voran.

    Gerard Millischer ist durch Zufall zu seinem Wolfs-Job gekommen. Er ist weder Tierarzt noch Biologe. Früher ist der gebürtige Nordfranzose zur See gefahren, als Berufssoldat bei der französischen Marine. Hat dann aus Gewissensgründen gekündigt und danach ein paar Jahre als Olivenbauer gearbeitet, in der Provence.

    "Wölfe haben mich immer fasziniert. Aber ich hatte überhaupt keine Ahnung. In den Mercantour bin ich damals eigentlich nur gekommen, weil ich Bartgeier beobachten wollte, die hier gerade eingeführt worden waren. Und da hörte ich zum ersten Mal von der Rückkehr der Wölfe."

    Das war vor elf Jahren, damals hatte kaum jemand Erfahrung mit Wölfen. Die Parkwächter waren überfordert und Gerard Millischer blieb. Er suchte Spuren, sammelte Wolfskot ein und beobachtete die Wölfe, tage-, wochen-, monatelang. Fünf Winter hintereinander verbrachte er in einer Hütte in einem verlassenen Tal und wartete darauf, dass ein Wolf vorbei kam.

    "Ich erinnere mich noch genau an meine erste Begegnung, das erste Mal ist natürlich immer etwas besonderes. Ich war in meinem abgeschiedenen Tal, mitten im Winter. Ich hatte mich im Gebüsch versteckt, es war früher Morgen und gerade hell geworden. Auf einmal, ich hatte überhaupt nicht damit gerechnet, kamen zwei Wölfe vorbei. Der eine setzte sich hin und der andere sah genau in meine Richtung. Er konnte mich nicht sehen, aber ich hatte das Gefühl, dass er mir in die Augen blickte. Dass er mich ansah. Das ist ein Erlebnis, das man nie vergisst."

    Seitdem ist er Wolfsfan. Seine Augen beginnen zu leuchten, wenn er von den seltenen Begegnungen mit dem wilden Tier erzählt. Oder von dem tierischen Gesang, wie er es nennt.

    "Die Wölfe heulen zu hören, das ist sehr beeindruckend, ihr Geheul füllt das ganze Tal. Besonders nachts kommt es mir manchmal vor wie ein Konzert, einer beginnt, dann setzen die anderen ein, man weiß nicht, wieviele es sind, denn derselbe Wolf kann ganz verschiedene Töne machen. In einer windstillen Nacht kann man das über Kilometer hören. Ich finde es nicht beängstigend, im Gegenteil: es ist sehr sehr schön. Ein eindrucksvoller tierischer Gesang."

    Ob er einmal vormachen könnte, wie es sich anhört, wenn ein Wolf heult? Ja, sagt Gerard Millischer leise: später. Dem Schäfer gegenüber lässt er sich seine Wolfspassion keinesfalls anmerken.

    Das Opfer liegt im Schuppen, Gerard Millischer zieht den Kadaver nach draußen. Kein schöner Anblick: das Fell auf der einen Flanke ist komplett abgerissen, die Gedärme sind herausgequollen. Gerard Millischer betrachtet es eingehend von allen Seiten. Hier am Bauch: ein Hämatom. Er zieht ein scharfes Messer, um die Kehle zu untersuchen: Wölfe beißen immer zuerst in die Kehle. Doch da ist nichts. Er notiert sich die auf dem Fell tätowierte Nummer und besprüht das tote Tier anschließend mit violettem Farbspray. Die Farbspur des Schadensaufnehmers. Damit der Kadaver nicht noch einmal registriert werden kann.

    Der Schäfer Lucien steht hilflos daneben. Und was soll ich jetzt damit tun, fragt er. Was Sie wollen, sagt Gerard Millischer. Am besten liegenlassen. Er setzt sich auf einen Stein, im Schatten einer Kastanie und holt einen Block mit Formularen aus seinem Rucksack. Notiert Name und Adresse des Schäfers, fragt, wann das Tier entdeckt wurde, und von wem. Haben Sie Hunde? Natürlich hat Lucien Hunde. Aber nicht die, die hier gemeint sind: Wolfshunde, Patous.

    "Nein, keine Hunde, sie sind zu teuer, und sie fressen zuviel. Man muss das Futter ja auch nach oben bringen, das ist aufwendig, es gibt zwar Hubschrauber, aber trotzdem. Nein, keine Patous. Früher war alles einfacher, heute ist es der reinste Krieg hier in den Bergen."

    230 Schafe hat Lucien, und ein paar Ziegen. Früher konnten die Tiere im Sommer oben auf den Bergweiden allein bleiben. Jetzt ist er siebzig, Kinder haben sie nicht - seine Frau und er wechseln sich ab beim Hüten.

    "Man muss Tag und Nacht oben sein, wir sind die Sklaven unserer Schafe geworden. Eineinhalb Stunden braucht man bis oben, das kann man nicht zweimal am Tag machen. Und einer von uns muss immer oben übernachten. Früher reichte es, wenn wir alle zwei Tage rauf gingen, aber jetzt ist das hier der reinste Krieg."

    Ob er oben ein Handy hat, fragt Gerard Millischer, nein, das ist zu teuer, zum Telefonieren muss man hinunter gehen, zum Haus. Millischer macht ein Kreuz in der entsprechenden Spalte, fragt behutsam nach. Und erwähnt ein paar Möglichkeiten, die Schutz bieten könnten vor dem nächsten Angriff. Ein Freiwilliger, der das alte Ehepaar beim Hüten unterstützt. Oder eben: ein Patou. Der alte Lucien hört ihm erst abweisend, dann immer aufmerksamer zu. Aha, sagt er, interessant, ja, das wäre vielleicht eine gute Idee.

    Dann muss er noch unterschreiben – ich kann Ihnen nichts versprechen, sagt der Parkbeamte. Der Schadensbericht wird in Nizza geprüft. Und auch im Fall eines positiven Bescheids könne es einige Zeit dauern, bis das Geld käme.

    Der Schäfer bedankt und verabschiedet sich und nimmt den steinigen kleinen Pfad den Berg hinauf. Zu seinen Schafen. Und zu seiner Frau, die oben auf ihn wartet.

    Die Spuren, sagt Gerard Millischer auf dem Weg zu seinem Auto, sprechen nicht für einen Wolf. Vielleicht war es ein streunender Hund, der das Schaf angegriffen hat. Ein Fuchs. Ein Greifvogel. Oder nur ein herabstürzender Stein – heftige Gewitter gibt es hier fast jeden Nachmittag. Er scheint geradezu erleichtert, dass nicht er die Entscheidung treffen muss, ob Lucien Geld bekommt oder nicht: wenn er den Bericht zur Post gebracht hat, ist seine Arbeit getan. Gerard Millischer ist einer der wenigen, die beiden helfen wollen: dem Schäfer. Und dem Wolf.

    "Natürlich ist es gut für die Fauna der Wildnis, dass der Wolf zurückgekommen ist und sich hier ansiedelt. Denn er nimmt einen wichtigen Platz ein in der Nahrungsmittelkette, als Angreifer, leider. Aber auch als wichtiger Selektionierer. Denn vor allem die schwachen Tiere werden vom Wolf gerissen, die alten und die kranken - und dadurch kann sich die Population besser entwickeln. Insofern ist der Wolf auf jeden Fall eine Bereicherung für den Nationalpark."

    Wann er zum nächsten gerissenen Schaf gerufen wird, das weiß Gerard Millischer nicht. Sein Handy ist immer an. Und sein weißer Renault-Kastenwagen immer vollgetankt. Doch an diesem Nachmittag hat er erstmal frei. Er will auf die andere Seite des Tinee-Tals fahren, dort sollen heute Bartgeier ausgesetzt werden, die riesigen Vögel sind - neben dem Wolf-– seine Lieblingstiere. Aber er hatte noch etwas versprochen. Ach ja, sagt Gerard Millischer. Holt tief Luft und legt den Kopf in den Nacken.