Als CDU-Kandidat für den Posten des Finanzministers spielte der frühere Richter am Bundesverfassungsgericht, Paul Kirchhof, im Bundestagswahlkampf 2005 eine bemerkenswerte Rolle. Reformgarant für konservative, wirtschaftsnahe Kreise war er ebenso wie das bevorzugte Zielobjekt für die bissigen Angriffe der damals SPD-geführten Bundesregierung. Hart an der Grenze zur Schmähung adressierte Gerhard Schröder den Finanzexperten Kirchhof als "Professor aus Heidelberg". Wenn sich nun der Professor aus Heidelberg mit einem neuen Buch, Titel: "Das Maß der Gerechtigkeit", in die Hochphase dieses Bundestagswahlkampfes hinein meldet, dann liegt es nahe, einen Text zu erwarten, der eng an der Aktualität des Tages hängt. Zumal wenn das Buch im Untertitel den mit einem Ausrufezeichen versehenen Aufruf trägt: "Bringt unser Land wieder ins Gleichgewicht!" Eine Standortbestimmung mit Handlungsanleitung. Das ist es wohl, was der Leser von einem Autor mit der politischen Vorgeschichte Paul Kirchhofs erwartet. Aber genau das kriegt er nicht. Oder: Er kriegt es doch, aber in einer Art und Weise, wie nur Professoren mit geschlossen konservativem Weltbild, fest fußend auf christlich-humanistisch-bürgerlichem Boden denken, reflektieren und sprechen. Und das kann mitunter doch recht weit entfernt sein vom politischen Alltag, vom Praktischen oder praktisch Umsetzbaren. Paul Kirchhof selbst allerdings ist sich gewiss, Politik und Öffentlichkeit ein realitätsnaher Ratgeber zu sein. Seinen Adressatenkreis beschreibt er so:
"Es ist ein Stoff für den nachdenklichen Leser. Aber ich erhoffe mir Nachdenklichkeit bei Regierungsmitgliedern, bei Mitgliedern der Parlamente. Vieles ist ja formuliert, um die Gesetzgebung anzuregen. Aber im Grundsatz natürlich denke ich an den gebildeten, interessierten Bürger, der das, was in unserem Staat und in Europa sich ereignet, beobachtet, selber vielleicht eine deutliche Kritik empfindet und hier und da ein Argument, einen Gedanken sucht, der diese Kritik vielleicht bestätigt und verstärkt, vor allem aber, der Abhilfevorschläge macht."
Der ehemalige Verfassungsrichter, Professor für Steuerrecht an der Uni Heidelberg, richtet sich an seine Leser auf 378 Seiten mit sehr grundsätzlichen Reflexionen über das Wesen der Gerechtigkeit und des Rechts, über beider Traditionen, Wurzeln, Ursprünge. Um Recht und Gerechtigkeit Gestalt werden zu lassen, treten Figuren aus der Mythologie auf – Midas zum Beispiel -, Denker der Antike - aus Platons Politeia wird wiederholte Male geschöpft -, der biblische Moses tritt auf, der Dramatiker und Lyriker Friedrich Hebbel, 19. Jahrhundert. Gäbe es nicht ein vereinzeltes Böll-Zitat oder einen Kurzauftritt des Systemtheoretikers Niklas Luhmann, die Welt des Paul Kirchhof bliebe doch sehr geschlossen im bürgerlichen Bildungskanon der frühen Bundesrepublik. Sicher kann man dem ehemaligen Verfassungsrichter nicht absprechen, dass er sich beständig um den aktuellen Bezug seiner Reflexionen bemüht. Bereits im ersten grundsätzlichen Kapitel zur Begriffsbestimmung der Gerechtigkeit treten die Spekulanten des Finanzmarktes auf – mit Brückenschlag zurück zum antiken sagenumwobenen Gyges, der mithilfe eines magischen Ringes aufsteigt zum König des kleinasiatischen Lydien:
Wenn wir diese Geschichte des Gyges modern erzählen wollen, bieten sich die Spekulanten des Finanzmarktes an, die das für jeden sichtbare und verständliche Bankgeschäft in den Nebel von Finanztransaktionen führen, eigenes Handeln und eigene Verantwortlichkeiten in der Anonymität eines unverständlichen Marktes entschwinden lassen.
Paul Kirchhof pflegt den gehobenen Ton, der im Inhalt meist so abstrakt ist, dass er nicht falsch sein kann – aber oft im Ungefähren bleibt. In dieser Tonlage kann der ehemalige Verfassungsrichter präzise und prägnant sein, ebenso aber umständlich oder verschraubt. Oder putzig sogar, etwa, wenn er dem jungen Paar empfiehlt, "freudig und beherzt", so wörtlich in die Phase der Familiengründung zu treten. Kirchhofs Sätze sind zuweilen trivial:
Das Recht kann schicksalhaftes Glück und Unglück nicht wenden.
Auch altbacken können sie sein, etwa wenn Paul Kirchhof ein Jugenderlebnis wie folgt zusammenfasst:
Wir haben die Weisung des Großvaters getreulich befolgt.
Immer wieder sind aber Passagen in schöner Klarheit zu finden:
Gerechtigkeit wirkt wie Gesundheit. Ist sie uns gegeben, wird sie kaum bewusst. Fehlt sie uns, tritt sie in die Mitte unseres Lebens.
Paul Kirchhof durchmisst in seinem Buch ein weites Feld. Finanzmärkte, Sozialversicherungssysteme, Europa, terroristische Gefährdung, und, natürlich, sein Spezialgebiet, das Steuersystem – alles wird gewürdigt, bewertet, meist mit einem Verbesserungsvorschlag versehen. So wie sich Kirchhof als Verfassungsrichter denn auch verstand:
"Ich war ja nun zwölf Jahre in dem Reparaturbetrieb dieser Republik, dem Verfassungsgericht, und da ging es ja im Wesentlichen darum, dem Gesetzgeber anhand der Grundwertungen dieser Rechtsgemeinschaft, dem Grundgesetz, Grenzen, Aufträge, Ermutigungen zu formulieren, die sich dann sehr konkret in geltendes Recht umsetzen lassen."
Und mit allem Urvertrauen des Akademikers wird auf die Kraft des Argumentes gesetzt:
"Wir müssen aufklären, wir müssen die Probleme bewusst machen, und wenn wir sie in der Wirklichkeit richtig beschrieben haben, dann ist es nur noch ein kleiner Schritt, um eine sachgerechte Lösung zu finden."
Vor einem Hauch von Verschrobenheit aber ist der ehemalige Verfassungsrichter nicht gefeit - etwa wenn der Finanzexperte zur Hebung der Steuermoral vorschlägt, im Fernsehen einen monatlichen "Steuer-Dax" auszustrahlen, der die 30 größten steuerzahlenden Unternehmen unter Hinweis auf ihren Finanzbeitrag für die Allgemeinheit würdigt. Oder wenn sich Paul Kirchhof, der leidenschaftliche Familienpolitiker, in die Nähe jener eher sektiererhaften Familien-Lobbyisten begibt, die das sogenannte Familienwahlrecht fordern: eine Wahlstimme für jedes Kind, ausgeübt von den Eltern. Von einem ehemaligen Bundesverfassungsrichter erwartet man, bei aller Begeisterung für die Familie, denn doch mehr Augenmaß. Überhaupt lässt die Familienpolitik den Autor Kirchhof in seinem ansonsten geschlossen konservativen Weltbild, in dem ein zurückhaltender Staat - wie heißt es? -"freiheitsbefähigten" und "freiheitsberechtigten" Bürgern begegnet, immer wieder Kapriolen schlagen. So regt der ehemalige Verfassungsrichter, der den Staat auf Abwegen sieht, wenn er die Kinderbetreuung außerhalb der Familie fördert, mit voller interventionistischer Wucht an, dass jungen Eltern bevorzugt Arbeitsplätze und Weiterbildungsmöglichkeiten anzubieten seien. Einige der Kapriolen sorgen immerhin für Spannung in der konservativen Weltsicht. Andere machen ratlos. Wenn Paul Kirchhof mitten in diesem Wahlkampf, in dem eine noch ungewohnte Fünf-Parteien-Konkurrenz nach Mehrheiten sucht, ernsthaft nach einer Wahlrechtsreform verlangt, die Parteien schon vor der Wahl zu verbindlichen Koalitionsaussagen zwingt, dann zeugt das von einer gehörigen Portion an politischer Naivität. Von der Professorenwarte aus die Politik beraten zu wollen, birgt Stärken und Schwächen. In Paul Kirchhofs Buch gibt es beides: Einen starken, leidenschaftlichen Verteidiger von Rechtsstaat und Verfassung. Einen schwachen, weil oft unzeitgemäßen Ratgeber im Bereich von Gesellschaft und auch Familie.
Birgid Becker war das über: Paul Kirchhof: "Das Maß der Gerechtigkeit. Bringt unser Land wieder ins Gleichgewicht!" Das Buch ist bei Droemer/Knaur erschienen, 378 Seiten kosten 19 Euro 95.
"Es ist ein Stoff für den nachdenklichen Leser. Aber ich erhoffe mir Nachdenklichkeit bei Regierungsmitgliedern, bei Mitgliedern der Parlamente. Vieles ist ja formuliert, um die Gesetzgebung anzuregen. Aber im Grundsatz natürlich denke ich an den gebildeten, interessierten Bürger, der das, was in unserem Staat und in Europa sich ereignet, beobachtet, selber vielleicht eine deutliche Kritik empfindet und hier und da ein Argument, einen Gedanken sucht, der diese Kritik vielleicht bestätigt und verstärkt, vor allem aber, der Abhilfevorschläge macht."
Der ehemalige Verfassungsrichter, Professor für Steuerrecht an der Uni Heidelberg, richtet sich an seine Leser auf 378 Seiten mit sehr grundsätzlichen Reflexionen über das Wesen der Gerechtigkeit und des Rechts, über beider Traditionen, Wurzeln, Ursprünge. Um Recht und Gerechtigkeit Gestalt werden zu lassen, treten Figuren aus der Mythologie auf – Midas zum Beispiel -, Denker der Antike - aus Platons Politeia wird wiederholte Male geschöpft -, der biblische Moses tritt auf, der Dramatiker und Lyriker Friedrich Hebbel, 19. Jahrhundert. Gäbe es nicht ein vereinzeltes Böll-Zitat oder einen Kurzauftritt des Systemtheoretikers Niklas Luhmann, die Welt des Paul Kirchhof bliebe doch sehr geschlossen im bürgerlichen Bildungskanon der frühen Bundesrepublik. Sicher kann man dem ehemaligen Verfassungsrichter nicht absprechen, dass er sich beständig um den aktuellen Bezug seiner Reflexionen bemüht. Bereits im ersten grundsätzlichen Kapitel zur Begriffsbestimmung der Gerechtigkeit treten die Spekulanten des Finanzmarktes auf – mit Brückenschlag zurück zum antiken sagenumwobenen Gyges, der mithilfe eines magischen Ringes aufsteigt zum König des kleinasiatischen Lydien:
Wenn wir diese Geschichte des Gyges modern erzählen wollen, bieten sich die Spekulanten des Finanzmarktes an, die das für jeden sichtbare und verständliche Bankgeschäft in den Nebel von Finanztransaktionen führen, eigenes Handeln und eigene Verantwortlichkeiten in der Anonymität eines unverständlichen Marktes entschwinden lassen.
Paul Kirchhof pflegt den gehobenen Ton, der im Inhalt meist so abstrakt ist, dass er nicht falsch sein kann – aber oft im Ungefähren bleibt. In dieser Tonlage kann der ehemalige Verfassungsrichter präzise und prägnant sein, ebenso aber umständlich oder verschraubt. Oder putzig sogar, etwa, wenn er dem jungen Paar empfiehlt, "freudig und beherzt", so wörtlich in die Phase der Familiengründung zu treten. Kirchhofs Sätze sind zuweilen trivial:
Das Recht kann schicksalhaftes Glück und Unglück nicht wenden.
Auch altbacken können sie sein, etwa wenn Paul Kirchhof ein Jugenderlebnis wie folgt zusammenfasst:
Wir haben die Weisung des Großvaters getreulich befolgt.
Immer wieder sind aber Passagen in schöner Klarheit zu finden:
Gerechtigkeit wirkt wie Gesundheit. Ist sie uns gegeben, wird sie kaum bewusst. Fehlt sie uns, tritt sie in die Mitte unseres Lebens.
Paul Kirchhof durchmisst in seinem Buch ein weites Feld. Finanzmärkte, Sozialversicherungssysteme, Europa, terroristische Gefährdung, und, natürlich, sein Spezialgebiet, das Steuersystem – alles wird gewürdigt, bewertet, meist mit einem Verbesserungsvorschlag versehen. So wie sich Kirchhof als Verfassungsrichter denn auch verstand:
"Ich war ja nun zwölf Jahre in dem Reparaturbetrieb dieser Republik, dem Verfassungsgericht, und da ging es ja im Wesentlichen darum, dem Gesetzgeber anhand der Grundwertungen dieser Rechtsgemeinschaft, dem Grundgesetz, Grenzen, Aufträge, Ermutigungen zu formulieren, die sich dann sehr konkret in geltendes Recht umsetzen lassen."
Und mit allem Urvertrauen des Akademikers wird auf die Kraft des Argumentes gesetzt:
"Wir müssen aufklären, wir müssen die Probleme bewusst machen, und wenn wir sie in der Wirklichkeit richtig beschrieben haben, dann ist es nur noch ein kleiner Schritt, um eine sachgerechte Lösung zu finden."
Vor einem Hauch von Verschrobenheit aber ist der ehemalige Verfassungsrichter nicht gefeit - etwa wenn der Finanzexperte zur Hebung der Steuermoral vorschlägt, im Fernsehen einen monatlichen "Steuer-Dax" auszustrahlen, der die 30 größten steuerzahlenden Unternehmen unter Hinweis auf ihren Finanzbeitrag für die Allgemeinheit würdigt. Oder wenn sich Paul Kirchhof, der leidenschaftliche Familienpolitiker, in die Nähe jener eher sektiererhaften Familien-Lobbyisten begibt, die das sogenannte Familienwahlrecht fordern: eine Wahlstimme für jedes Kind, ausgeübt von den Eltern. Von einem ehemaligen Bundesverfassungsrichter erwartet man, bei aller Begeisterung für die Familie, denn doch mehr Augenmaß. Überhaupt lässt die Familienpolitik den Autor Kirchhof in seinem ansonsten geschlossen konservativen Weltbild, in dem ein zurückhaltender Staat - wie heißt es? -"freiheitsbefähigten" und "freiheitsberechtigten" Bürgern begegnet, immer wieder Kapriolen schlagen. So regt der ehemalige Verfassungsrichter, der den Staat auf Abwegen sieht, wenn er die Kinderbetreuung außerhalb der Familie fördert, mit voller interventionistischer Wucht an, dass jungen Eltern bevorzugt Arbeitsplätze und Weiterbildungsmöglichkeiten anzubieten seien. Einige der Kapriolen sorgen immerhin für Spannung in der konservativen Weltsicht. Andere machen ratlos. Wenn Paul Kirchhof mitten in diesem Wahlkampf, in dem eine noch ungewohnte Fünf-Parteien-Konkurrenz nach Mehrheiten sucht, ernsthaft nach einer Wahlrechtsreform verlangt, die Parteien schon vor der Wahl zu verbindlichen Koalitionsaussagen zwingt, dann zeugt das von einer gehörigen Portion an politischer Naivität. Von der Professorenwarte aus die Politik beraten zu wollen, birgt Stärken und Schwächen. In Paul Kirchhofs Buch gibt es beides: Einen starken, leidenschaftlichen Verteidiger von Rechtsstaat und Verfassung. Einen schwachen, weil oft unzeitgemäßen Ratgeber im Bereich von Gesellschaft und auch Familie.
Birgid Becker war das über: Paul Kirchhof: "Das Maß der Gerechtigkeit. Bringt unser Land wieder ins Gleichgewicht!" Das Buch ist bei Droemer/Knaur erschienen, 378 Seiten kosten 19 Euro 95.