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Ein Klassiker der Staatstheorie

Mit seiner Schrift "De re publica" lieferte Cicero einen wegweisenden Beitrag zur Staatstheorie. Als der Text vor mehr als 2000 Jahren erschien, glaubten die Römer zwar, das Buch sei überholt. Aber es wurde zu einem Klassiker des politischen Denkens. Nun gibt es eine deutsche Neuübersetzung.

Von Michael Kuhlmann |
    Vor Zorn platzen mochte er, jener Marcus Tullius Cicero. Da hatte er Rom gerade vor einer tödlichen Bedrohung gerettet: nämlich vor Catilina, der mit einer gigantischen Verschwörung den Staatsstreich geplant hatte. Aber die Römer hatten es Cicero schlecht gedankt und ihn ins Exil gezwungen – für ein ganzes Jahr. Als Cicero zurückkehrte, ging es in Rom drunter und drüber: die Senatoren kämpften gegen die Volkstribunen, Caesar kämpfte gegen den Feldherrn Pompeius. Die römische Republik drohte in Trümmer zu fallen. Da ließ Ciceros neue Schrift aufhorchen, worin er proklamierte:

    Keiner von allen Staaten ist nach seiner Verfassung, der Verteilung der Gewalten und nach seiner geregelten Ordnung mit dem zu vergleichen, den unsere Väter uns hinterlassen haben – wie sie ihn von ihren Vorfahren empfangen hatten.

    Von diesem Staat erzählte Cicero in De re publica. Er beschrieb die römische Republik, wie es sie in der Vergangenheit in etwa gegeben haben musste. In diesem Staatswesen machte er drei Herrschaftsformen aus: Monarchie, Aristokratie und Demokratie. Der Clou daran: Sie existierten parallel - mit den Konsuln an der Spitze, mit dem Senat und schließlich mit der Volksversammlung. Ciceros Ideal eines Staates – wie er in seinem legendären, stilbildenden Latein klarstellte:

    Statuo esse optume contitutam rem publicam, quae ex tribus generibus illis – regali et optumati et populari – confusa modice nec puniendo inritet animum inmanem ac ferum!

    Oder zu deutsch:

    Ich behaupte, dass derjenige Staat die beste Verfassung hat, der maßvoll aus jenen drei Arten – der monarchischen, aristokratischen und demokratischen – verschmolzen ist. Und der so den unmenschlichen, wilden Sinn nicht durch Strafen reizt.

    Eine republikanische Mischverfassung – mit der sich alle im Staat anfreunden können. Praktisch veranlagt, wie er war, plädierte Cicero für feste Regelungen:

    Ich halte es für richtig, dass es im Staat etwas an der Spitze Stehendes, Königliches gebe. Dass es außerdem etwas gebe, das dem maßgeblichen Einfluss der führenden Männer zugeteilt sei. Und dass es schließlich bestimmte Dinge gebe, die dem Urteil und dem Willen der Menge vorbehalten seien. Diese Verfassung hat erstens: eine gewisse Ausgeglichenheit, auf die freie Menschen längere Zeit kaum verzichten können. Zweitens: Beständigkeit. Denn nur jede der drei ursprünglichen Verfassungsformen verkehrt sich leicht in ihr schlimmes Gegenteil.

    Aus der Monarchie würde dann eine Tyrannei. Aus der Aristokratie der klugen Optimaten würde die Oligarchie gerissener Machtpolitiker. Aus der Demokratie würde die Herrschaft des Pöbels. Gerade dem breiten Volk traute Cicero nicht über den Weg. Zwar geht es in seinem Staat um das Wohl des Volkes. Aber das Volk ist hier nicht der Souverän. Die auserwählten Optimaten sollen stattdessen die Weichen stellen. Denn sie wüssten besser, was zum Guten dient. Alle in diesem Staat freilich – die Konsuln, die Optimaten und das Volk – sie müssten vor allem eines mitbringen: Tugend. Für Cicero darf der Klügere eben nicht nachgeben – im Gegenteil, er muss sich einmischen.

    Es ist nicht genug, Tugend zu besitzen, ohne sie auszuüben. Tugend besteht überhaupt nur darin, dass man sie übt! Ihr edelstes Übungsfeld aber ist: den Staat zu lenken. Und gerade die Dinge, die jene im stillen Winkel lautstark predigen, durch die Tat, nicht durch das Wort zu verwirklichen.

    Ein Rüffel für jene schlau fabulierenden Philosophen, die sich mit Politik nicht die Hände schmutzig machen wollten. Seine Sicht untermauerte Cicero in dem geheimnisvoll anmutenden Höhepunkt seines Buches: Die Hauptperson, der frühere Konsul Publius Cornelius Scipio erzählt von einem Traum. In dem belehrt ihn sein verstorbener Vater darüber, wie sich ein Politiker verhalten sollte, um sein Seelenheil zu suchen:

    Am edelsten ist alle Sorge für das Wohl des Vaterlandes. Dadurch in ständiger Übung gehalten, wird die Seele rascher an ihre Wohnstätte, in ihr Haus emporfliegen. Und sie wird dies schneller tun, wenn sie schon, solange sie im Körper eingeschlossen ist, ins Freie hinausschaut.

    Wenn der Staatsmann also danach strebt, geistig weiter emporzusteigen und seine Tugenden zu festigen. Ein Appell an Regierende und Volksvertreter aller Epochen. Ciceros Vorstellung vom tugendhaften Staat schlägt sich heute durchaus auf einer überstaatlichen Ebene nieder: im Völkerrecht nämlich. Das zielt schließlich – mit einem kleinen Schuss Idealismus – auf ein konstruktives Miteinander der unterschiedlichen Staaten.

    Schon im Mittelalter stützten sich die politischen Denker auf Ciceros Staatsdefinition. Und in der Antike war De re publica unter Staatsphilosophen eine Standardlektüre. Die römische Republik freilich konnte Ciceros mit seiner Schrift nicht mehr retten. Und auch er selbst überlebte die Wirren im damaligen Rom nicht: 43 vor Christus wurde er umgebracht. Seinen abgeschlagenen Kopf und seine Hände stellten die Mörder auf dem Kapitol öffentlich zur Schau. Und die römische Republik, die Cicero so geschätzt hatte – sie war in demselben schicksalhaften Jahr 43 am Ende.


    Marcus Tullius Cicero: "De re publica / Vom Staat"
    Neu übersetzt von Michael von Albrecht, Reclam, 422 Seiten, 29,95 Euro, ISBN: 978-3-150-10918-2