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Ein Knopf, der Leben rettet

Jedes Jahr sterben in Frankreich mehr als 100 Frauen durch die Hand ihres derzeitigen oder ehemaligen Partners. Um besonders gefährdete Frauen zu schützen, sollen bald landesweit Notfall-Handys verteilt werden. Derzeit wird das Vorhaben im Department Seine-Saint-Demis getestet.

Von Bettina Kaps | 28.12.2012
    Ernestine Ronai ist Leiterin des "Observatorium der Gewalt an Frauen" in Bobigny. Sie legt ein Handy auf den Tisch. Es sieht etwas altmodisch, hat aber eine zusätzliche Taste in orange. Diese Taste, sagt Ronai, könne Leben retten.

    "Das ist ein Notruf-Handy für Frauen in großer Gefahr. Das Telefon wird vom Staatsanwalt vergeben. Die Partner dieser Frauen sind als gefährlich eingestuft und oft schon verurteilt worden. Es ist ihnen verboten, sich ihren Frauen zu nähern. Oft sind die Männer auch psychisch krank. Ihren Frauen droht der Tod oder zumindest extreme Gewalt."

    Ein Knopfdruck auf die orangefarbene Taste verbindet die gefährdete Frau sofort mit der Notrufzentrale einer Versicherung. Dort wacht rund um die Uhr ausgebildetes Personal, das auch Notrufe von alten, kranken oder behinderten Menschen empfängt. Philippe Paris von der Versicherung "Allianz Global Assistance" erklärt das System.

    "Sobald ein Anruf eingeht, tauchen auf unserem Bildschirm alle wichtigen Informationen über die Anruferin auf. Unsere Fachleute wissen also, um wen es sich handelt, wo die Frau wohnt, arbeitet und einkauft, wo die Kinder zur Schule gehen… Sie sprechen die Anruferin persönlich an: Guten Tag Frau Soundso, sind Sie in Gefahr? Wenn ja, fragen sie, wo sich die Anruferin exakt befindet, und alarmieren sofort die Polizei."

    Auch in der Polizeizentrale von Bobigny ist ein Telefon ausschließlich für gefährdete Frauen reserviert. Im Jahr 2011 sind in Frankreich 122 Frauen von ihren Partnern oder Ehemännern ermordet worden, im Vorjahr wurden sogar 146 Frauen Opfer solcher Gewalttaten. Durch das Handy, sagt Philippe Paris, seien zumindest einige Morde verhindert worden.

    "Da gab es ganz eindeutige Fälle: So hat uns eine Frau alarmiert, deren Mann mit einer Axt im Garten stand. Eine andere Frau rief uns an, als sich ihr Mann mit einem Beil an der Haustür zu schaffen machte. Wir haben ihr geraten, sich im Badezimmer einzusperren, und sie beruhigt, während die Polizei schon unterwegs war. Eine Frau alarmierte uns, als sie von ihrem Ex-Mann gewaltsam verschleppt wurde, er hatte ein Messer im Ärmel versteckt."

    In all diesen Fällen konnte die Polizei rechtzeitig eingreifen.
    Das "Observatorium der Gewalt an Frauen" sucht unablässig Wege und Mittel, um die Lage der Frauen zu verbessern. Ernestine Ronai hatte das Notfall-Handy in Spanien entdeckt, wo es bereits 2004 eingeführt worden war. Renai konnte Justiz und Polizei in ihrem Departement überzeugen, das Experiment zu wagen. In den vergangenen drei Jahren hat die Staatsanwaltschaft dort 92 Frauen ein Notfall-Handy ausgehändigt.

    "Wenn eine Frau dieses Handy erhält, sagt sie oft: Endlich erkennt die Justiz an, dass ich ein Opfer bin. Zugleich wird ihr bewusst, in welcher Gefahr sie sich befindet. Sie bekommt das Handy für maximal ein Jahr. Aber bei dem Gerät allein bleibt es nicht: Zugleich hilft ihr der Verein SOS-Frauen, die Trennung von ihrem Partner zu Ende zu bringen, vielleicht umzuziehen, eine neue Arbeit zu finden. Sie wird also umfassend begleitet. Indem sie das Mobiltelefon mit dem Notfall-Knopf in die Hand nimmt, nimmt sie auch ihr Leben wieder in die Hand."

    Ernestine Ronai betont, dass es sich bei dem System nicht nur um Technik und Logistik handelt: Das Notfall-Handy verändere auch die Denkweisen. Justiz, Polizei, Vereine, Sozialarbeiter - allen Beteiligten werde klar, in welcher Gefahr sich die verfolgte Frau
    befinde und dass es ihnen nur zusammen gelingen könne, das Risiko dauerhaft auszuräumen. Und noch eins ist ihr ganz wichtig: das Schicksal der Kinder.

    "Indem man die Mutter schützt, schützt man auch die Kinder. Die 92 Frauen, die bei uns ein Notfall-Handy erhalten haben, hatten insgesamt 148 Kinder. Auch deshalb ist es so ungeheuer wichtig, dass wir den Frauen helfen, das Umfeld, wo ihnen Gewalt droht, so schnell wie möglich zu verlassen."

    Das Notfall-Handy ist inzwischen auch im Elsass und in Paris im Einsatz. Die französische Frauenministerin Najat Vallaud-Belkacem will es jetzt landesweit einführen.