Dr. Peter Erhart:
"Das eigentliche Kloster mit einer Klostergemeinschaft und mit einem Abt an der Spitze dieser Gemeinschaft wurde um 720 gegründet. Man hat den Ort, an dem das Grab von Gallus verehrt wurde, auserkoren für eine Klostergründung, die zunächst bescheiden war, eine kleine Gemeinschaft, die aber sehr rasch gewachsen ist, sodass wir nach hundert Jahren bereits einen Konvent von hundert Mönchen haben, die nach wenigen Jahrzehnten, also um 750, nach der Regel des Heiligen Benedikt gelebt haben."
Woher der Mönch Gallus kam und warum er sich in der damals unwirtlichen Gegend des heutigen Sankt Gallen niedergelassen hatte, darum ranken sich Spekulationen, Mythen und die berühmte Legende vom wilden Bären. Man vermutet, dass Gallus aus Irland stammte und sich dem irischen Missionar Columban anschloss, der es sich zur Aufgabe gemacht hatte, den christlichen Glauben auf dem Kontinent zu verbreiten. Als christliche Bastion hatte Columban um 590 das Kloster Luxeuil-les-Bains in den Vogesen gegründet. Von dort brach Gallus schließlich Richtung Bodensee auf und ließ sich als Eremit im Steinachtal nieder, dort, wo sich heute Sankt Gallen befindet. Aus dem legendären Bären wurde das Wappentier der Schweizer Kantons-Stadt, die im Heiligen Gallus ihren Gründer sieht.
Professor Stefan Sonderegger ist Historiker. Er leitet das Sankt Galler Stadtarchiv.
"Diese Stadt Sankt Gallen hängt sehr stark mit dem Kloster zusammen. Es ist keine gegründete Stadt, wie zum Beispiel Bern, sondern diese Stadt ist wie eine weltliche Siedlung um das frühe schon bekannte Reichskloster entstanden. Im 11. und 12. Jahrhundert hat diese Stadt, die eigentlich in die Herrschaft des Klosters gehörte, von ihrem Herrn, dem Abt des Klosters, Freiheiten bekommen. Zum Beispiel, dass das Erblehnsrecht besser behandelt werde, als bei den Leuten auf dem Umland. Und da sieht man auch dieses Diktum 'Stadtluft macht frei'. Das trifft auch auf Sankt Gallen zu."
Diese Großzügigkeit gegenüber den Stadtbürgern war ein geschickter wirtschaftlicher Schachzug der jeweils amtierenden Sankt Galler Äbte. Angelockt von den gewährten Privilegien, zogen immer mehr fähige Kaufleute und Handwerker in die Stadt. Sankt Gallen entwickelte sich zu einem Handels- und Wirtschaftszentrum des Mittelalters. Und davon profitierte natürlich auch das Kloster, das seine wirtschaftliche und damit auch weltliche Macht seit der Gründung durch den ersten Abt Otmar, immer weiter ausbauen konnte, wie Peter Erhart weiß.
"Die frühen Schenkungen gehen wirklich in die Zeit um 720 zurück. Wir erleben unter Otmar ein rasches Wachstum dieses Grundbesitzes des Klosters, der die Existenz der Mönche überhaupt erst ermöglicht hat. Innert weniger Jahrzehnte hatte das Kloster ein riesiges Einzugsgebiet. Das ging bis Freiburg im Breisgau. Die Summe machte dann eigentlich den Reichtum dieses Klosters aus. Wenn wir uns eine Besitzkarte anschauen, entdecken wir tausend Orte, die zinspflichtig waren ans Kloster. Wenn aus allen diesen tausend Orten nur ein Goldsolidus, eine Goldmünze, ans Kloster geliefert wird, dann kommt schlussendlich ein großer Betrag zusammen."
"Das Kloster Sankt Gallen gehörte in der karolingischen Zeit zu den fünf wichtigsten Klöstern im Reich, was eben Kultur und intellektuelles Niveau der Mönche anbelangt. Es war ein unwahrscheinlich produktives Skriptorium vorhanden. Man hat eine Handschriftenproduktion, die ihres gleichen sucht."
Einer der berühmtesten Sankt Galler Mönche des Frühmittelalters war Notker Balbulus. Sein 883 entstandenes Werk "Gesta Karoli Magni" beschäftigt sich mit der Kirchenpolitik Karls des Großen. Außerdem verfasste der Mönch Gedichte und geistliche Hymnen. Mit seinen 40 lateinischen Sequenzen wurde er zum wichtigsten geistlichen Lyriker der lateinischen Literatur des Mittelalters. Charismatische Klosterleute wie Notker trugen dazu bei, dass in Sankt Gallen eine der bedeutendsten Bibliotheken entstand. Professor Ernst Tremp ist Stiftsbibliothekar in Sankt Gallen. Der Kirchenhistoriker verwaltet die 160.000 Bücher, Frühdrucke und Handschriften.
"Die Benediktsregel sieht ja vor, dass jeder Mönch mindestens ein Buch bekommt und dieses Buch lesen muss, studieren muss. Und das ist die Grundlage einer Klosterbibliothek. Diese Bücher sind zunächst einmal geistliche Bücher, aber dann hat sich diese Bibliothek ausgeweitet. Wir kennen aus dem 9. Jahrhundert bereits zwei Verzeichnisse der Handschriften des Klosters, und da hat es schon einige Hundert Bücher drin und nicht mehr nur Bibeln, sondern auch Literatur, Kirchenrecht, profanes Recht, Medizin, Astronomie, also eine breitgefächerte Thematik und das hatte die Bibliothek entsprechend angereichert."
Doch nach der geistlichen, geistigen und wirtschaftlichen Hochphase in den ersten 300 Jahren der Klostergeschichte, begann laut Stiftsarchivar Peter Erhart eine düstere Periode.
Von 1401 bis 1429 toben die Appenzeller Kriege. Es geht um die Vorherrschaft in der Region. Aus dem klerikal ausgerichteten Kloster ist eine Fürstabtei geworden, in der die Äbte scheinbar nur noch weltliche Interessen vertreten und dafür die Waffen klingen lassen. Dr. Peter Erhart:
"Eine Zeit, die wir durchaus mit Ovid als ehernes Zeitalter bezeichnen können, nach dem silbernen Zeitalter. Da verschieben sich die Prioritäten. Es kommt der Adel auf, der wird immer mächtiger. Man muss sich wehren gegen Besitzansprüche von außen. Dinge, die man bis ins 11. Jahrhundert gar nicht kannte. Also die Äbte agieren eher wie adelige Kriegsherren, als wie vorher, als geistliche Oberhäupter einer Gemeinschaft."
Seinen wahren Tiefpunkt erlebte das Kloster im 14. und 15. Jahrhundert. Es kam soweit, dass nur noch zwei Mönche zur Abtei gehörten. Und die lebten nicht einmal hinter den Klostermauern, sondern in der Stadt.
Das Siechtum hat ein Ende, als in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts ein neuer Abt das Ruder übernimmt. Ulrich Rösch war der Sohn eines Bäckers und der erste Abt von St. Gallen aus bürgerlicher Herkunft. Unter seiner Führung erlebte das Sankt Galler Kloster eine neue Blütezeit. Rösch brachte die Finanzen des Klosters in Ordnung, sorgte für Disziplin unter den Brüdern, förderte das geistige Leben und fungierte als Bauherr. Unter ihm wurde die Fürstabtei wieder zu einem Machtfaktor.
Den Bürgern von Sankt Gallen ist die erneute Erstarkung der klerikalen Macht hinter den Klostermauern ein Dorn im Auge. Als die Idee der Reformation die Schweiz erreicht, sind sie nicht mehr zu halten. Sie ziehen gegen das Kloster. Wie in anderen Städten werden auch sie zu Bilderstürmern, plündern, brandschatzen und zerstören Kirchenschätze. Doch bevor sie das wertvolle Inventar der Klosterbibliothek verbrennen können, gebietet ihnen der Sankt Galler Reformator Joachim Vadian Einhalt. Auch er ist ein entschiedener Gegner der Fürstabtei und der etablierten Kirche, aber als Humanist erkennt er den unschätzbaren Wert der Bücherei, wie Stadtarchivar Stefan Sonderegger betont.
"Er war natürlich auch jener, der die Bildung hatte und wusste, was es bedeutete, wenn man das historische Gedächtnis plündern würde. Grundsätzlich ist die Reformation in Sankt Gallen friedlich verlaufen und hat dann schließlich zur Trennung zwischen diesem reformierten kleinen reichen Stadtstaates geführt und dem großen katholischen Fürstenstaat."
Bis zur Auflösung des Klosters durch die französischen Besatzer im Jahre 1803 haben die reformierten Stadtbewohner Sankt Gallens auf der einen Seite der Klostermauer und die Katholiken auf der anderen Seite mal mit mehr, mal mit weniger Spannungen miteinander gelebt. Eine interessante Form der Koexistenz, die in der Kirchen-Geschichte ihres gleichen sucht. Heute ist der gesamte Stiftsbezirk Sankt Gallens Unesco-Weltkulturerbe. Der riesige barocke Komplex mit der wunderschönen Kathedrale ist Sitz des Bistums Sankt Gallen. Etwas mehr als die Hälfte der Sankt Galler Bürger ist katholisch. Manche Gebäude des Stiftsbezirks werden von der Kantonsregierung genutzt. Weltliches und kirchliches Leben liegen hier dicht beieinander.
"Das eigentliche Kloster mit einer Klostergemeinschaft und mit einem Abt an der Spitze dieser Gemeinschaft wurde um 720 gegründet. Man hat den Ort, an dem das Grab von Gallus verehrt wurde, auserkoren für eine Klostergründung, die zunächst bescheiden war, eine kleine Gemeinschaft, die aber sehr rasch gewachsen ist, sodass wir nach hundert Jahren bereits einen Konvent von hundert Mönchen haben, die nach wenigen Jahrzehnten, also um 750, nach der Regel des Heiligen Benedikt gelebt haben."
Woher der Mönch Gallus kam und warum er sich in der damals unwirtlichen Gegend des heutigen Sankt Gallen niedergelassen hatte, darum ranken sich Spekulationen, Mythen und die berühmte Legende vom wilden Bären. Man vermutet, dass Gallus aus Irland stammte und sich dem irischen Missionar Columban anschloss, der es sich zur Aufgabe gemacht hatte, den christlichen Glauben auf dem Kontinent zu verbreiten. Als christliche Bastion hatte Columban um 590 das Kloster Luxeuil-les-Bains in den Vogesen gegründet. Von dort brach Gallus schließlich Richtung Bodensee auf und ließ sich als Eremit im Steinachtal nieder, dort, wo sich heute Sankt Gallen befindet. Aus dem legendären Bären wurde das Wappentier der Schweizer Kantons-Stadt, die im Heiligen Gallus ihren Gründer sieht.
Professor Stefan Sonderegger ist Historiker. Er leitet das Sankt Galler Stadtarchiv.
"Diese Stadt Sankt Gallen hängt sehr stark mit dem Kloster zusammen. Es ist keine gegründete Stadt, wie zum Beispiel Bern, sondern diese Stadt ist wie eine weltliche Siedlung um das frühe schon bekannte Reichskloster entstanden. Im 11. und 12. Jahrhundert hat diese Stadt, die eigentlich in die Herrschaft des Klosters gehörte, von ihrem Herrn, dem Abt des Klosters, Freiheiten bekommen. Zum Beispiel, dass das Erblehnsrecht besser behandelt werde, als bei den Leuten auf dem Umland. Und da sieht man auch dieses Diktum 'Stadtluft macht frei'. Das trifft auch auf Sankt Gallen zu."
Diese Großzügigkeit gegenüber den Stadtbürgern war ein geschickter wirtschaftlicher Schachzug der jeweils amtierenden Sankt Galler Äbte. Angelockt von den gewährten Privilegien, zogen immer mehr fähige Kaufleute und Handwerker in die Stadt. Sankt Gallen entwickelte sich zu einem Handels- und Wirtschaftszentrum des Mittelalters. Und davon profitierte natürlich auch das Kloster, das seine wirtschaftliche und damit auch weltliche Macht seit der Gründung durch den ersten Abt Otmar, immer weiter ausbauen konnte, wie Peter Erhart weiß.
"Die frühen Schenkungen gehen wirklich in die Zeit um 720 zurück. Wir erleben unter Otmar ein rasches Wachstum dieses Grundbesitzes des Klosters, der die Existenz der Mönche überhaupt erst ermöglicht hat. Innert weniger Jahrzehnte hatte das Kloster ein riesiges Einzugsgebiet. Das ging bis Freiburg im Breisgau. Die Summe machte dann eigentlich den Reichtum dieses Klosters aus. Wenn wir uns eine Besitzkarte anschauen, entdecken wir tausend Orte, die zinspflichtig waren ans Kloster. Wenn aus allen diesen tausend Orten nur ein Goldsolidus, eine Goldmünze, ans Kloster geliefert wird, dann kommt schlussendlich ein großer Betrag zusammen."
"Das Kloster Sankt Gallen gehörte in der karolingischen Zeit zu den fünf wichtigsten Klöstern im Reich, was eben Kultur und intellektuelles Niveau der Mönche anbelangt. Es war ein unwahrscheinlich produktives Skriptorium vorhanden. Man hat eine Handschriftenproduktion, die ihres gleichen sucht."
Einer der berühmtesten Sankt Galler Mönche des Frühmittelalters war Notker Balbulus. Sein 883 entstandenes Werk "Gesta Karoli Magni" beschäftigt sich mit der Kirchenpolitik Karls des Großen. Außerdem verfasste der Mönch Gedichte und geistliche Hymnen. Mit seinen 40 lateinischen Sequenzen wurde er zum wichtigsten geistlichen Lyriker der lateinischen Literatur des Mittelalters. Charismatische Klosterleute wie Notker trugen dazu bei, dass in Sankt Gallen eine der bedeutendsten Bibliotheken entstand. Professor Ernst Tremp ist Stiftsbibliothekar in Sankt Gallen. Der Kirchenhistoriker verwaltet die 160.000 Bücher, Frühdrucke und Handschriften.
"Die Benediktsregel sieht ja vor, dass jeder Mönch mindestens ein Buch bekommt und dieses Buch lesen muss, studieren muss. Und das ist die Grundlage einer Klosterbibliothek. Diese Bücher sind zunächst einmal geistliche Bücher, aber dann hat sich diese Bibliothek ausgeweitet. Wir kennen aus dem 9. Jahrhundert bereits zwei Verzeichnisse der Handschriften des Klosters, und da hat es schon einige Hundert Bücher drin und nicht mehr nur Bibeln, sondern auch Literatur, Kirchenrecht, profanes Recht, Medizin, Astronomie, also eine breitgefächerte Thematik und das hatte die Bibliothek entsprechend angereichert."
Doch nach der geistlichen, geistigen und wirtschaftlichen Hochphase in den ersten 300 Jahren der Klostergeschichte, begann laut Stiftsarchivar Peter Erhart eine düstere Periode.
Von 1401 bis 1429 toben die Appenzeller Kriege. Es geht um die Vorherrschaft in der Region. Aus dem klerikal ausgerichteten Kloster ist eine Fürstabtei geworden, in der die Äbte scheinbar nur noch weltliche Interessen vertreten und dafür die Waffen klingen lassen. Dr. Peter Erhart:
"Eine Zeit, die wir durchaus mit Ovid als ehernes Zeitalter bezeichnen können, nach dem silbernen Zeitalter. Da verschieben sich die Prioritäten. Es kommt der Adel auf, der wird immer mächtiger. Man muss sich wehren gegen Besitzansprüche von außen. Dinge, die man bis ins 11. Jahrhundert gar nicht kannte. Also die Äbte agieren eher wie adelige Kriegsherren, als wie vorher, als geistliche Oberhäupter einer Gemeinschaft."
Seinen wahren Tiefpunkt erlebte das Kloster im 14. und 15. Jahrhundert. Es kam soweit, dass nur noch zwei Mönche zur Abtei gehörten. Und die lebten nicht einmal hinter den Klostermauern, sondern in der Stadt.
Das Siechtum hat ein Ende, als in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts ein neuer Abt das Ruder übernimmt. Ulrich Rösch war der Sohn eines Bäckers und der erste Abt von St. Gallen aus bürgerlicher Herkunft. Unter seiner Führung erlebte das Sankt Galler Kloster eine neue Blütezeit. Rösch brachte die Finanzen des Klosters in Ordnung, sorgte für Disziplin unter den Brüdern, förderte das geistige Leben und fungierte als Bauherr. Unter ihm wurde die Fürstabtei wieder zu einem Machtfaktor.
Den Bürgern von Sankt Gallen ist die erneute Erstarkung der klerikalen Macht hinter den Klostermauern ein Dorn im Auge. Als die Idee der Reformation die Schweiz erreicht, sind sie nicht mehr zu halten. Sie ziehen gegen das Kloster. Wie in anderen Städten werden auch sie zu Bilderstürmern, plündern, brandschatzen und zerstören Kirchenschätze. Doch bevor sie das wertvolle Inventar der Klosterbibliothek verbrennen können, gebietet ihnen der Sankt Galler Reformator Joachim Vadian Einhalt. Auch er ist ein entschiedener Gegner der Fürstabtei und der etablierten Kirche, aber als Humanist erkennt er den unschätzbaren Wert der Bücherei, wie Stadtarchivar Stefan Sonderegger betont.
"Er war natürlich auch jener, der die Bildung hatte und wusste, was es bedeutete, wenn man das historische Gedächtnis plündern würde. Grundsätzlich ist die Reformation in Sankt Gallen friedlich verlaufen und hat dann schließlich zur Trennung zwischen diesem reformierten kleinen reichen Stadtstaates geführt und dem großen katholischen Fürstenstaat."
Bis zur Auflösung des Klosters durch die französischen Besatzer im Jahre 1803 haben die reformierten Stadtbewohner Sankt Gallens auf der einen Seite der Klostermauer und die Katholiken auf der anderen Seite mal mit mehr, mal mit weniger Spannungen miteinander gelebt. Eine interessante Form der Koexistenz, die in der Kirchen-Geschichte ihres gleichen sucht. Heute ist der gesamte Stiftsbezirk Sankt Gallens Unesco-Weltkulturerbe. Der riesige barocke Komplex mit der wunderschönen Kathedrale ist Sitz des Bistums Sankt Gallen. Etwas mehr als die Hälfte der Sankt Galler Bürger ist katholisch. Manche Gebäude des Stiftsbezirks werden von der Kantonsregierung genutzt. Weltliches und kirchliches Leben liegen hier dicht beieinander.