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Ein liebender Mann

Die Bußübung der Intellektuellen heißt Selbstvergewisserung: Wer bin ich? Woher komme ich? Welche Motive liegen meinem Handeln zugrunde? Ein Leben lang begleiten tägliche Exerzitien ihr Denken, und wenn der Tod nicht überraschend kommt, wird der Prozeß des Sterbens zur quälenden Bilanz. Einem Intellektuellen ist dabei vollkommen unverständlich, daß es Menschen gibt, die diesen Bußübun-gen nicht unterliegen. Ihr unreflektiertes Handeln scheint ihm unglaubwürdig, er muß ihnen schlechte Motive unterstellen, wenn sie behaupten, gar keine zu haben. Magda Danvers ist eine Intellektuelle diesen Zuschnitts und hat ihren Mann auf einer Vortragsreise aufgegabelt, aber das Wie und Warum bleibt ihr auch fünfund-zwanzig Jahre später schleierhaft. Denn der Priesterseminarist Francis - fünfzehn Jahre jünger als sie -, war dem zöllibatären Leben geweiht, bevor er nach ihrem furiosen Vortrag über den Lyriker Wiliam Blake und einem kurzen Gespräch auf der Fahrt zum Flughafen seine Berufung zwar in der Hingabe entdeckte - aber nicht in der an seinen Glauben, sondern in der an Magda. Fürderhin begleitete er sie als Hausmann und Muse durch ihr weiteres Leben. Seine einzige eigenständige Tätigkeit beruht auch auf ihrer Anregung - er dokumentiert Miserikordien, Holz-schnitzereien, die in sakralen Chorgestühlen das Alltagsleben des Mittelalters abbilden. Statt darin, wie Magda es täte, eine intellektuelle Herausforderung zu erkennen, gibt sich Francis selbstgenügsam dem Finderglück hin, obgleich es ihm manche Verrenkung abnötigt, denn die Schnitzereien liegen im Verborgenen. Ein Programm: Das wahre Leben soll nicht jeder gleich zu Gesicht bekommen.

Florian Felix Weyh |
    Liebe als Dienst, das Glück der Selbstgenügsamkeit - das sind die Leitmotive des Romans "Ein liebender Mann". Zugleich aber auch Leidensmotive, denn die Geschichte des ungleichen Paares findet ihren Ausgangspunkt an Magdas Sterbebett. Sie hat es nicht geschafft, nach ihrem blendenden Start in den sechziger Jahren landete sie in einem drittklassigen College und wird nun von einem metastasierenden Gebärmutterkrebs aufgefressen. Fleischgewordene Metapher ihres Ehrgeizes, und Francis - ja Francis begleitet sie hingebungsvoll über ihre letzten Wochen. Erträgt ihre Launen, pflegt sie bis zur Erschöpfung und muß mit ansehen, wie der scharfe Geist immer bösartiger wird, je weniger er sich auf den Körper verlassen kann. Je näher es ans Sterben geht, desto deutlicher wird Magdas lebenslanger Selbstbetrug; die Vorherrschaft des Intellekts über den Körper erweist sich als Schimäre. Unweigerlich kommt einem Sherwin Nulands Wissenschafts-Bestseller "In Würde sterben" in den Sinn, in dem der amerikanische Pathologe ernüchtert konstatiert, daß er noch nie einen Menschen habe in Würde sterben sehen. Sie zeigen allenfalls die Angehörigen, wenn sie dem Würdeverfall angemes-sen begegnen. Francis Danvers ist ein Musterexemplar solcher Haltung - ein lie-bender Mann eben.

    Dieser Roman verdient alle Prädikate, die man erzählerischer Literatur verleihen kann. Wäre es nicht zum Schimpfwort verkommen, würde man ihn als Lebenshilfe bezeichnen, als literarische Ermunterung zum Weitermachen, ganz gleich, welches Schicksal einen niederdrückt. Vielleicht ist es das unaufdringlich Katholische daran, hinter dem unsichtbar ein Satz von Blaise Pascal zu stehen scheint: "Der Atheismus ist ein Zeichen der Geistesstärke, jedoch nur bis zu einem bestimmten Grade." Kraft kommt seltsamerweise stärker aus dem Glauben als aus dem Wissen, deshalb ist der glaubende - nicht gläubige, zumindest nicht kirchengläubige - Francis der wissenden Magda überlegen. Obgleich Gail Godwin ihr Epos klug gebaut hat, wirkt der Roman alles andere als konstruiert. Er lebt und atmet und wagt den Schritt von der Intelligenz zur Weisheit. Weisheit, weil er sein umfangreiches Personal nie polarisiert, keine der vier Hauptfiguren durch ihre Defizite oder Schattenseiten denunziert - auch nicht in der scharfen Aus-einandersetzung untereinander. Denn da sind noch Hugo und Alice, der Schriftsteller und die Lektorin, die unvernünftigerweise den Mann geheiratet hat, dessen Texte sie liebt, um feststellen zu müssen, daß die Produktion liebenswerter Texte nicht unbedingt mit einem entsprechenden Leben zusammenhängt. Nach einer tragischen Fehlgeburt entfremden sich die beiden, und für Alice wird die Sterbebegleitung ihres Vorbilds zur Lebensaufgabe. Zwangsläufig verliebt sie sich dabei in Francis - wie alle Frauen der Umgebung -, aber Gail Godwin ist klug genug, aus dieser Seelensituation keine Story zu machen. Im psychoanalytischen Vokabular handelte es sich nämlich um eine Übertragung, die man in der Realität lieber nicht überprüfen sollte. So bleiben am Ende drei reifer gewordene Menschen übrig, denen Einsamkeit eine existenzielle Erkenntnis, nicht aber eine Belastung bedeutet. Wer je geliebt hat, so die Botschaft, dem stirbt die Liebe nicht hinweg; sie erfüllt ihn bis ans Ende seiner Tage. Schon höre ich den Kitschverdacht - doch darüber ist dieser Roman weit erhaben. Fünf Sterne für ein Leseglück - ach was, ein ganzes Universum!