Archiv


Ein literarischer Menschenversuch

Zeit für den literarischen Menschenversuch im Deutschlandfunk. Was geschieht mit einem Gehirn, das Monat für Monat abwechselnd die zehn in Deutschland meistverkauften Romane und Sachbücher von der ersten bis zur letzten Seite tatsächlich liest? Dieses Hirn gelangt immer mehr zu der Überzeugung, dass man den Deutschen wirklich jeden Bären aufbinden kann, solange man ihn nur zwischen zwei Sachbuchdeckel schnürt.

Von Denis Scheck |
    Die aktuelle Spiegel-Bestseller-Liste Sachbuch:

    "heute mit diversen Reparaturanleitungen für ungezogene Kinder, Anlässen zu literaturkritischer Scham und literaturkritischem Stolz, dem offenbarten Geheimnis der Kraft des Glaubens, dem Abenteuer der Lebens sowie der lang ersehnten Lösung aller Trainerprobleme. In diesem Monat bringen die zehn meistgelesenen Sachbücher der Deutschen 4 Kilo und 127 Gramm auf die Waage: zusammen 3321 Seiten.

    Platz 10) Rhonda Byrne: The Secret - Das Geheimnis. (Aus dem Englischen von Karl Friedrich Hörner, Arkana, 237 Seiten, 16.95 Euro)"

    Aus diesem Begleitbuch zu einer australischen Fernsehserie über Esoterik lässt sich viel über die Kraft des Glaubens erfahren:

    "Wenn Sie bloß intellektuell etwas glauben, aber kein entsprechendes Gefühl dazu haben, besitzen Sie nicht unbedingt genug Kraft, um zu manifestieren, was Sie in Ihrem Leben wollen."

    Ich glaube, dass dies ein strunzdummes Machwerk ist. Ich fühle Scham, dass so ein Abzocker-Schund immer noch auf der deutschen Bestsellerliste steht. Die Frage ist nur, ob meine Kraft ausreicht, das zu ändern.

    "9) Jürgen Neffe: "Darwin - Das Abenteuer des Lebens" (C. Bertelsmann, 544 S., 22.95 Euro)"

    Auf diesen facettenreichen Bestseller dürfen wir hingegen stolz sein. Neffe erzählt vom Leben Charles Darwins, von seiner Weltreise an Bord der Beagle, von der Evoutionstheorie, vor allem aber von Jürgen Neffes eigener Reise auf den Spuren Darwins. Eine von Neffes zentralen Thesen lautet:

    "Je weiter wir unserer Biologie durch Kultur entrinnen, desto besser die Aussichten für die Menschheit."

    Als HÖRER der Kultursendung des nationalen deutschen Hörfunks Sie also gerade Gutes für die Menschheit. Weiter so!

    "Platz 8) Dirk Müller: Crashkurs (Droemer Verlag, 256 S., 18,00 Euro)"

    Dieses Buch ist peinlich vulgär, extrem oberflächlich und zudem durchdrungen von einer Neuauflage der albernen Angst vor der Gelben Gefahr. Es ist aber auch ein Buch, aus dem ich mehr über Wirtschaft und die aktuelle Finanzkrise erfahren habe als aus jedem Wirtschaftsteil. Außerdem kann kein Sachbuch ganz schlecht sein, in dem wie in Müllers "Crashkurs" die Sätze stehen:

    "Glauben Sie niemanden außer sich selbst. Auch mir nicht."

    Ein gutes Buch.

    "7) Eduard Augustin, Philipp von Keisenberg, Christian Zascke: "Ein Mann, ein Buch" (SZ Edition, 415 Seiten, 19.90 Euro)"

    Wie verhalte ich mich im Bordell? Worauf kommt's beim Gebrauchtwagenkauf an? Was muss man wissen, um den idealen Papierflieger zu bauen? Zwar nicht die lang erwartete Betriebsanleitung für den Mann, aber immerhin ein sehr vergnügliches Sammelsurium all dessen, was unsere Gesellschaft als männliche Wissensdomänen definiert.

    "6) Barack Obama: Ein amerikanischer Traum (Deutsch von Matthias Fienbork, Hanser Verlag, 448 S., 24.80Euro)"

    Dieses im Original vor bald 15 Jahren erschienene Buch des heutigen US-Präsidenten ist der durchaus legitime Versuch eines 29-Jährigen, ein paar Dollar zu verdienen, indem er seine außergewöhnliche Familiengeschichte erzählt. Das Resultat: nicht unsympathisch, aber verkitscht, naiv und vom Lauf der Ereignisse schlicht überholt. Eine Mogelpackung.

    "5) Michael Winterhoff: "Warum unsere Kinder Tyrannen werden" (Gütersloher Verlagshaus, 191 Seiten, 17.95 Euro)"

    Von Kindererziehung versteht Michael Winterhoff als Jugendpsychiater ganz sicher mehr als ich. Sein Buch ist in klassischer amerikanischer Manier gestrickt, das heißt, die geschilderten Fallbeispiele illustrieren stets nur die Meinung des Autors. Und das ist in meinen Augen schlicht manipulativ.

    "4) Richard David Precht: "Wer bin ich und wenn ja wie viele?" (Golfmann Verlag, 398 Seiten, 14.95 Euro)"

    Dieses schlaue Buch, eine wissenstiftende Einführung in Hirnforschung und Philosophie, erklärt, was es mit Spiegelneuronen auf sich hat und warum es trotz Finanzkrise nicht angeht, seine Erbtante schmerzlos im Schlaf zu ermorden. Ein gutes, ein notwendiges Buch.

    "3) Helmut Schmidt und Giovanni di Lorenzo: "Auf eine Zigarette mit Helmut Schmidt" (Kiepenheuer & Witsch, 288 Seiten, 16.95 Euro)"

    Warum wir Deutschen unbedingt mehr mit Polen reden, mehr über Polen wissen und mehr in Polen machen müssen, weshalb man den Koran lesen sollte und was Hitler, Obama und Lafontaine gemeinsam haben - nämlich Charisma: das alles und noch viel mehr steht in diesem kleinen Buch. Schmidts Interviews sind leicht, aber nicht seicht. Der schönste Satz darin:

    "Jemand, der nichts liest, bleibt dumm."

    Nur leider gilt nicht immer der Umkehrschluss.

    "Platz zwei: Michael Winterhoff: "Tyrannen müssen nicht sein" (Gütersloher Verlagshaus, 192 S. 17.95 Euro)"

    Ähnliches Buch, die selbe Argumentation, der gleiche Verriss: Bei allem Respekt vor der professionellen Kompetenz mit Michael Winterhoff, frage ich mich doch, warum seine Tyrannen-Bücher eigentlich so erfolgreich sind. Mich wundert einfach, dass wir bei unseren Haustieren alle Arten von sanften Pferde-, Hunde- und Katzenflüsterern feiern, bei unseren Kindern aber den Rollback zu einer Erziehung mit strenger Hand fordern. Sind die Individualrechte von Kindern denn wirklich weniger schützenswert als die von Fury, Lassie oder Lucky?

    "Platz eins der Spiegel-Sachbuch-Bestsellerliste März:
    Helmut Schmidt: Außer Dienst (Siedler, 352 S., 22,95 Euro)"

    So wie die Bayern ihren König Ludwig wiederhaben wollen, so können die Deutschen einfach nicht genug kriegen von Helmut Schmidt. Und dieses skurrile, aber schöne Buch, in dem Schmidt seinen Lesern auf einer höchst individuellen tour d'horizon die "Kardinalprobleme" der Weltpolitik erläutert, belegt, wieso das ist: Hier schreibt jemand, der sehr viel weiß und zu wenig Zeit hat, um sich noch lange mit Eitelkeitsgymnastik aufzuhalten. Wenn Helmut Schmidt schon nicht wieder Kanzler werden möchte, könnte er dann nicht wenigstens die Fußballnationalmannschaft übernehmen?