Archiv


Ein Ort fernab der Welt

Mauritius, die Insel vom Winde verweht, von der ein leichter Curry-Duft aufsteigt. Eine Insel am indischen Ozean, Afrika vorgelagert, ein Ort fernab der Weit, wo die Träume verschollener Dichter wahr werden.

Carine Debrabandère |
    Mauritius: daher stammt auch die Familie von Jean-Marie Le Clözio. Wie sein IchErzähler Läon in "Ein Ort fernab der Welt" gehört der französische Autor zu einer Dynastie von weißen Plantagenbesitzern-, zu einem Zweig allerdings, der aus Opposition gegen den Kolonialismus die tropische Insel verlassen hat. Le Clözio ist nicht am indischen Ozean aufgewachsen. Durch die Erzählungen seiner Großmutter ist die frühere "Ile de France" für ihn dennoch zu einem magischen Ort geworden:

    "Für mich ist Mauritius eine Art Mythos. Es ist ein Ort, den ich zwar gut kenne, weil ich öfters hingefahren bin. Aber die Insel hat sich mir vor allem durch Erzählungen eingeprägt. Sie ist für mich eine Art Legende, etwas Wundervolles, Unerreichbares, das natürlich nichts mit der heutigen Insel zu tun hat. Wenn ich heute dorthin fahre, erkenne ich nichts von dem wieder, was mir erzählt wurde. Mauritius ist eine moderne Insel, wo Tourismus eine große Rolle spielt, wo die vielen Krankheiten von früher die Bevölkerung heute nicht mehr heimsuchen. Die jetztige Jugend hat stattdessen mit Arbeitslosigkeit und Dmgen zu kämpfen. Die Insel Mauritius, die ich in mir trage, ist das Bild einer Familienweit, in der das Leben noch sehr langsam, in der man vielmehr mit der Natur im Einklang war."

    Naturgewalten - Wasser, Sonne und Meer - stehen immer im Mittelpunkt von JeanMarie Le Cläzios Büchern. Eine extreme Natur, die den Protagonisten zum Ausbruch verhilft. Sei es in der Sahara, in dem vor zehn Jahren erschienenen Roman "Wüste", oder im westafrikanischen Nigeria in der autobiographischen Erzählung "Onitsha" oder auf dem Hochplateau Panamas im Erzählband "Mondo". Allesamt Orte, in denen Le Cläzio lange gelebt hat. Wie seine Figuren wechselt er oft den Wohnsitz.

    Der Ort fernab der Weit heißt in Le Clézios neuem Roman "Ile Plate" - Flat Island. Auf dieser Feiseninsel - ein paar Seemeilen von Mauritius entfernt - werden Jacques, seine Frau Suzanne und sein jüngerer Bruder L6on 1891 abgesetzt. Auf dem Schiff, das die drei Emigranten auf den Besitz ihrer Vorfahren bringen soll, brechen die Pocken aus. Alle Passagiere - europäische Einwanderer und indische Kulis, die auf den Zuckerrohrplantagen von Mauritius Arbeit erhoffen, liegen von nun an in Quarantäne. Während dieser Quarantäne - "La Quarantaine" lautet auch der Originaltitel des Romans - prallen Orient und Okzident aufeinander. Dazu LéClézio:

    "Die Ile Plate war und ist immer noch ein dramatischer Ort. Sie ist vier Quadratkilometer groß, liegt 20 Meilen von Mauritius entfernt und ist bis heute verwahrlost. Um 1860 herum sind hier Greueltaten passiert. Emigranten sind von den Kolontalmächten absichtlich zurückgelassen worden. Die Zurückgebliebenen haben sehr hart um ihr Leben kämpfen müssen. Die Ile Plate ist der Kern meines neuen Romans. In diesem Mikrokosmos hat das Schicksal ein paar Menschen vereint, die sich aneinander gewöhnen, aneinander messen müssen. Gewalt und Haß brechen aus. Aber für einige stellen sich auch Hoffnung und Sanftheit ein. In diesem Roman findet man diese ganzen Gefühle: Haß, Rebellion, Neid. Aber auch Ruhe und Harmonie'."

    Für Jacques, der als Arzt so wohl die Emigranten als auch die Inder des PariaDorfs pflegt, stellt die Insel das Ende eines Traums dar. Krankheit und Tod, Gewalt und Wahnsinn zerstören die Bilder seines Kindheits-Paradieses.

    Léon dagegen unternimmt in der kargen Landschaft eine Reise zu sich selbst. Die Liebe zu der Inderin Syriavati hilft ihm, sich von den Familienverstrickungen zu lösen. Er trennt sich von seinem Bruder und bleibt für immer verschollen.

    Ob Arthur Rimbaud ihn inspiriert hat? Der Geist des frühreifen Genies, der mit Mitte Zwanzig auf die Poesie verzichtete und nach Abyssinien emigrierte, schwebt jedenfalls über dem Roman. Nicht nur, dass Verse aus dem "trunkenen Schiff', dem berühmtesten Gedicht Rimbauds, die Erzählung durchqueren. Vielmehr treffen Löon und Jacques sogar den kranken Dichter in Aden, am Horn von Afrika, ein paar Monate vor dessen Tod. Dazu der Autor:

    "Rimbaud ist der Dichter meiner Jugend. Das habe ich gemeinsam mit vielen Franzosen, vielleicht sogar mit vielen Jugendlichen aus der ganzen Welt. Rimbaud war Dichter und Abenteurer zugleich. Er ist bis an die Grenzen seiner Möglichkeiten gegangen. Er hat die Dichtung aufgegeben, hat sich eines Tages den Kopf rasiert und ist nach Afrika ausgewandert. Er wurde zu einer Art Mönch und Kaufmann zugleich. Arthur Rimbaud hat auch mit meiner privaten Vergangenheit zu tun. Meine Großmutter hat mir erzählt, dass mein Großvater dem Dichter begegnet sei. Ich weiß nicht richtig, ob das stimmt. Aber ich wünsche es mir. Ach, ganz gleich ob es stimmt oder nicht. Er gehört irgendwie zu mir, er war mein Alliierter. Das Treffen in Aden zwischen Rimbaud und meinem Großvater habe ich mir öfters im Traum vorgestellt. Ich wollte es unbedingt in meine Geschichte integrieren.

    "Das wahre Leben ist anderswo": Das war Arthur Rimbauds Motto. "Alles was ich habe ist hier, in der geborgenen Linie des Riffs" antwortet ihm Löon in "Ein Ort fernab der Weit'. Unvergeßlich sind die Seiten, in denen der Einzelgänger von seiner Begeisterung für die Ile Plate berichtet, durch die er lernt, "auf das Knirschen der Landkrebse und auf das metallische Rassein der Bandassel zu achten". JeanMarie Le Clözios Familiensaga ist voll solcher sinneserregenden Beschreibungen. Der Rimbaub-Verehrer hat einen leidenschaftlichen Roman geschrieben, in dem Ruhe und Rausch verschmelzen. Es fällt schwer, sich von dieser Lektüre zu lösen.