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Ein verlorenes Paradies
Franz Kafka und das Judentum

Franz Kafka (1883 – 1924), der aus einer jüdischen Familie aus Prag stammte, hat das Wort Judentum zwar in seinem literarischen Werk nicht erwähnt. Dennoch hegte er eine große Sympathie besonders für die ostjüdische Kultur. Als Erwachsener lernte er Hebräisch und beabsichtigte sogar nach Palästina auszuwandern. Doch sein Gesundheitszustand ließ das nicht zu.

Von Manuel Gogos | 21.10.2015
    Undatiertes Porträt des Schriftstellers Franz Kafka.
    "Was habe ich mit Juden gemeinsam? Ich habe kaum etwas mit mir gemeinsam." Kafka, 1916 (picture-alliance / dpa / CTK)
    "Vor dem Gesetz steht ein Türhüter. Zu diesem Türhüter kommt ein Mann vom Lande und bittet um Eintritt in das Gesetz. Aber der Türhüter sagt, dass er ihm jetzt den Eintritt nicht gewähren könne. Der Mann überlegt und fragt dann, ob er also später werde eintreten dürfen. 'Es ist möglich', sagt der Türhüter, 'jetzt aber nicht.' Der Mann bückt sich, um durch das Tor in das Innere zu sehen. Als der Türhüter das merkt, lacht er und sagt: 'Wenn es dich so lockt, versuche es doch trotz meines Verbotes hineinzugehen. Merke aber: Ich bin mächtig. Und ich bin nur der unterste Türhüter.' Solche Schwierigkeiten hat der Mann vom Lande nicht erwartet; das Gesetz soll doch jedem und immer zugänglich sein. Der Türhüter gibt ihm einen Schemel und lässt ihn seitwärts von der Tür sich niedersetzen. Dort sitzt er Tage und Jahre."
    (Vor dem Gesetz, Franz Kafka)
    Ob in seiner Legende "Vor dem Gesetz"" oder in anderen Erzählungen: Keine der Figuren in den Werken Franz Kafkas tritt erkennbar als gläubiger Jude auf. Es war zuerst Kafkas Freund und Förderer Max Brod, der das Jüdische dieser Werke bemerkt und akzentuiert hat.
    "Kafka ist als ein Erneuerer der altjüdischen Religiosität aufzufassen, die den ganzen Menschen, die sittliche Tat und Entscheidung des Einzelnen im Geheimsten seiner Seele verlangt."
    Kann die religiöse, genauer: die jüdische Lesart also tatsächlich einen verborgenen Schlüssel zu Kafkas Werk liefern?
    1925, ein Jahr nach Kafkas Tod, betreibt Brod die Herausgabe des "Prozess"-Fragments, jenes Romans also, dem die berühmte Legende "Vor dem Gesetz" entstammt. Der Prozess-Roman erzählt davon, wie aus heiterem Himmel Schuld in den Alltag des Helden Joseph K. einbricht.
    "Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet."
    Das strafverfolgende Gericht entzieht sich auf eigenartige Weise, findet auf Dachböden statt, und in heruntergekommenen Treppenhäusern. Zugleich ist das Gericht allgegenwärtig, alles im Roman wird zu einem Teil von ihm. Und niemals hat hier jemals etwas von einem Freispruch gehört. Von Kafka zur Vernichtung bestimmt und von Brod davor bewahrt, nutzt der Herausgeber Brod sein frühes Deutungsmonopol, um eine religiös-allegorische Interpretation von Kafkas Schriften zu propagieren. Brod empfindet Kafkas Werke als tief religiös – und Kafka selbst verklärt er zum "heiligen Franz".
    "Seine Bücher sind erstaunlich. Er selbst ist viel erstaunlicher. Durch tausend quälende Zweifel hindurch und den ungünstigen Bedingungen seiner Physis entgegen strebte er nach einem religiösen Einsatz seines ganzen Ich. Würde die Menschheit Kafkas Lehre annehmen, so würde dies das Antlitz der ganzen Erde verändern, – und zwar etwa in derselben Richtung, in die Tolstoi hinweist."
    Der Schriftsteller Franz Kafka selbst sah sich als westeuropäischen Juden, als Angehörigen einer Minderheit. Beheimatet in der Topographie des Jüdischen Prag – einem Kreuzungspunkt böhmischer, österreichischer, deutscher und jüdischer Kultur – verstand er sich als Vertreter einer "kleinen", "von allen Seiten unmöglichen" Literatur. Dabei hat er durchweg in der Prager Altstadt in räumlicher Nähe zum ehemaligen jüdischen Ghetto gewohnt. Und obgleich er in einer Familie assimilierter Juden aufgewachsen ist, fühlte er sich doch immer dieser Religion verbunden.
    "In uns leben noch immer die dunklen Winkel, geheimnisvollen Gänge, blinden Fenster, schmutzigen Höfe, lärmenden Kneipen und verschlossenen Gasthäuser. Wir gehen durch die breiten Straßen der neu erbauten Stadt. Doch unsere Schritte und Blicke sind unsicher. Innerlich zittern wir noch so wie in den alten Gassen des Elends."
    In der Familie Kafkas wurden die jüdischen Feiertage stets eingehalten, auch er selbst scheint später weithin diesem Brauch gefolgt zu sein. Die Mutter entstammte dem gebildeten deutsch-jüdischen Bürgertum, Kafkas Vater Hermann hatte seine Laufbahn als Hausierer begonnen, später unterhält er eine Metzgerei am Altstädter Ring. Im berühmten "Brief an den Vater" erscheint der Vater Hermann als patriarchale Figur, die vom Lehnstuhl aus die Welt regiert, ein Fleischhauer, vor dessen körperlicher Präsenz der junge Vegetarier Kafka zittert.
    "Ebenso wenig Rettung vor Dir fand ich im Judentum. Hier wäre ja an sich Rettung denkbar gewesen, aber noch mehr, es wäre denkbar gewesen, dass wir uns beide im Judentum gefunden hätten. Aber was war das für ein Judentum, das ich von Dir bekam! Wie man mit diesem Material etwas Besseres tun könnte, als es möglichst schnell loszuwerden, verstand ich nicht; gerade dieses Loswerden schien mir die pietätvollste Handlung zu sein."
    Mit dem Vater lebt Kafka in stummer Feindschaft. Nur in Briefform kann er seine schweren Vorwürfe erheben, der Vater habe ihm ein "Nichts an Judentum" beigebracht.
    "Es war ja wirklich ein Nichts, ein Spaß, nicht einmal ein Spaß. Du gingst an vier Tagen im Jahr in den Tempel, setztest mich manchmal dadurch in Erstaunen, dass Du mir im Gebetbuch die Stelle zeigen konntest, die gerade rezitiert wurde, im Übrigen durfte ich, wenn ich nur im Tempel war, mich herumdrücken, wo ich wollte. Ich durchgähnte und durchduselte also dort die vielen Stunden – so gelangweilt habe ich mich später, glaube ich, nur noch in der Tanzstunde."
    Kafkas Bar-Mizwah, die der Vater der assimilatorischen Sitte gemäß als "Confirmation" ankündigt, bedeutet dem Dreizehnjährigen nichts als ein "lächerliches Auswendiglernen".
    "Übrigens habe ich dort auch viel Furcht gehabt, auch deshalb, weil Du einmal nebenbei erwähntest, dass auch ich zur Thora aufgerufen werden könne. Davor zitterte ich jahrelang."
    Im jüdischen Lehrhaus verkommt ihm die Tradition so zur kläglichen Schwundgestalt, zum Schatten ihrer selbst.
    "Ich suchte mich möglichst an den paar kleinen Abwechslungen zu freuen, die es dort gab, etwa wenn die Bundeslade aufgemacht wurde, was mich immer an die Schießbuden erinnerte, wo auch, wenn man in ein Schwarzes traf, eine Kastentür sich aufmachte, nur dass dort aber immer etwas Interessantes herauskam und hier nur immer wieder die alten Puppen ohne Köpfe."
    Als Max Brod im Jahr 1916 seinen Freund emphatisch als den "jüdischsten aller jüdischen Dichter" bezeichnet, reagiert Kafka mit feiner Ironie.
    "Was habe ich mit Juden gemeinsam? Ich habe kaum etwas mit mir gemeinsam."
    Selbst für seinen politischen Zionismus hat Brod den Freund in Anspruch nehmen wollen. Sicherlich haben darum jene recht, die sich gegen Max Brods "linear" theologische Deutung Kafkas gewandt haben: Brod simplifiziert. Seine Auffassung, Religion bei Kafka heiße bei aller Verzweiflung letztlich auch Trost, greift zu kurz. Und doch gibt es andere prominente Stimmen, die ebenfalls auf Kafkas jüdischen Kontext deuten. In diesen Zusammenhang gehören auch die Namen einstiger Mitstreiter wie der Religionsphilosoph Martin Buber, in dessen Zeitschrift "Der Jude" einige von Kafkas Erzählungen erstmals erscheinen. Oder die jüdische Schriftstellerin Margarete Susman, die in der Zeitschrift "Der Morgen" bereits 1929 schreibt:
    "Die Gestalt Franz Kafka steht in der heutigen Welt, sie ist aus ihr nicht zu lösen, mit tausend Faden verknüpft. Zwischen ihm und der Welt des Alten Testaments scheint auf den ersten Blick nichts, aber auch nichts Gemeinsames mehr zu bestehen. Aber im Herzen dieses unheimlichen und qualvollen Traumgespinstes, das unser Leben ist, steht wieder das Hiobproblem des Leides und der Schuld."
    Seit dem biblischen Buch Hiob war nicht mehr so mit Gott gehadert worden wie in Kafkas Schriften "Der Prozeß", "Das Schloss" oder "Die Strafkolonie". So beschwört auch der Religionswissenschaftler Gershom Scholem den Brieffreund Walter Benjamin, bei der Arbeit an seinem großen Kafka-Essay das eigentümlich "messianische" Klima von Kafkas Werken ernst zu nehmen.
    "Ich würde dir raten, jede Untersuchung über Kafka vom Buche Hiob aus zu beginnen oder zum mindesten von einer Erörterung über die Möglichkeit des Gottesurteils, welches ich als den einzigen Gegenstand der Kafkaschen Produktion ansehe."
    Und Walter Benjamin korrespondiert:
    "In dem Versuch der Verwandlung des Lebens in Schrift sehe ich den Sinn der Umkehr, auf welche zahlreiche Gleichnisse Kafkas hindrängen."
    Tatsächlich lässt sich der Eindruck Benjamins und Scholems auch mit einem Blick auf eine Selbstaussage Kafkas in einem Tagebucheintrag von 1922 erhärten:
    "Diese ganze Literatur ist Ansturm gegen die Grenze. Und sie hätte sich leicht zu einer neuen Geheimlehre, einer Kabbala, entwickeln können. Ansätze dazu bestehen. Allerdings: ein wie unbegreifliches Genie wird hier verlangt, das neu seine Wurzeln in die alten Jahrhunderte treibt oder die alten Jahrhunderte neu erschafft."
    Als so bedeutungsträchtig wurden die Worte der Thora in der jüdischen Tradition angesehen, dass keine menschliche Deutung sie gänzlich ausschöpfen könnte. Über wenigstens 49 Sinnstufen wurden spekuliert. Und es scheint, als hätte Kafka diese schier endlose Kette von Deutungsmöglichkeiten in seiner Erzählstruktur nachahmen wollen. Am erkenntnisträchtigsten scheint die kabbalistische Lesart von Kafkas Texten. Bereits hundert Jahre vor Kafka erfanden in Prag so genannte Prager Sabbatianer einen nihilistischen Messianismus. Nachfolger des Pseudo-Messias Jakob Frank wollten den Zohar – die zentrale Schrift der kabbalistischen Mystik – ganz an die Stelle des Talmud setzen. Für sie konnten die Juden seit der Tempelzerstörung die Einung mit Gott niemals mehr ganz herstellen, das Paradies war ein für alle Mal verloren. Ähnlich pessimistisch hat sich auch einmal Kafka geäußert:
    "Es gibt unendlich viel Hoffnung, nur nicht für uns."
    Es ist vor allem der Prozess-Roman, der – bewusst oder unbewusst – Einflüsse der jüdischen Tradition verrät. Und es scheint tatsächlich die mystische Kabbala zu sein, die am ehesten einen Schlüssel zum Verständnis des Romanwerks liefern kann. Der Judaist Karl-Erich Grötzinger:
    "Es ist vor allem, aber nicht nur, dieser Roman, der einen unverkennbaren Einfluss der jüdischen Kabbala und des osteuropäischen Chassidismus widerspiegelt. Die Konzeption der Geschichte als Gerichtsprozess hat die Kafka-Leser von allem Anfang an verwundert und ist bis in die jüngste Zeit ein Rätsel geblieben. Ich glaube, Kafka hat diese Weltauffassung aus der jüdischen Tradition: nämlich aus den chassidischen Erzählungen und der mit ihnen verwandten Kabbala."
    Während das talmudische Mittelalter noch in zeitlicher Linearität an ein Gericht am Ende der individuellen oder kollektiven Zeit glaubt, wird die Welt durch das Aufkommen der Kabbala im 13. Jahrhundert quasi von mystischen Gerichtsräumen überwölbt. Karl-Erich Grötzinger:
    "Gericht ist die Weise der Gottesherrschaft über die Welt. Diese Gerichtshierarchien tagen beständig. Leben in der Welt ist Leben im Gericht – das von den Menschen meist gar nicht wahrgenommen wird. Zuweilen erinnern die himmlischen Kanzleien an die sprichwörtliche Judenschule, in der großes Gedränge und oft ohrenbetäubende Unruhe herrscht. Auffällig ist weiterhin die Vielzahl der himmlischen Gerichtsstuben. Die Prozessbeteiligten müssen von Halle zu Halle eilen. Der Gang durch die Gerichtshierarchien wird indessen durch mächtige Türhüter gehemmt."
    Laut dem "Zohar" schenkt die Tora, die hebräische Bibel, Leben. Zugleich begreift die mystische Strömung der Kabbala das Gesetz als so erhaben, dass es dem menschlichen Zugriff entrückt und unerreichbar ist. Dieses Reich überweltlicher Gerichtsbarkeit wird, vergleichbar mit Kafkas Darstellung des Gesetzes, als Region mit vielen Pforten beschrieben, an deren Toren Wächter stehen, um Unwürdigen den Eintritt zu verwehren. Selbst die Übersetzung der von Kafka verwendeten Namen mag verblüffen. Jener "Mann vom Lande", der in der Legende Zugang zum Gesetz verlangt, wird dann zum "Am Ha-Aretz" – also zu einer Umschreibung für jemanden, der die Tora nicht kennt!
    Die langen Gesprächsszenen von Kafkas Romanen versteht der Religionshistoriker Saul Friedländer als Parodien talmudischer Debatten. Aber in Kafkas Werk sei die Tradition erkrankt und Weisheit nur als Zerfallsprodukt zu haben – und Wahrheit als Gerücht. Die Tora zu deuten, heißt für die Kabbalisten entsprechend, sich auf einen "endlosen Weg" zu begeben. So scheint es auch Kafkas Wunsch gewesen zu sein, den letzten Grund des Göttlichen immer weiter und tiefer ins Namenlose hinauszuschieben. Der Literaturwissenschaftler Stephane Moses:
    "Die Haltung des Kabbalisten, der die Tora verstehen will, ist vergleichbar mit der des Kafkaschen Helden, der versucht, die Bedeutung der Wirklichkeit zu entziffern. In beiden Fällen handelt es sich um die endlose Suche nach einem Sinn, der sich dem menschlichen Zugriff entzieht, nicht etwa, weil es einen solchen nicht gäbe, sondern ganz im Gegenteil: weil er zu reich ist und unendliche Deutungsmöglichkeiten erlaubt."
    Kafka trägt das literarische Erbe der kabbalistischen Gerichtskonzeption weiter, auch er sieht das gesamte menschliche Dasein in eine permanente Selbstrechtfertigung gestellt. Doch in einem entscheidenden Punkt ist bei Kafka ein Verlust eingetreten. Karl-Erich Grötzinger:
    "In der Gerichtswelt der osteuropäisch-jüdischen Erzählliteratur gibt es Advokaten, die letztlich doch wirksame Helfer sind. Diese Helfer hat Kafka verloren. Ihm fehlte der Heilsweg, die Gebete waren ihm von einem hinterlistigen Engel aus der Hand gepustet worden."
    Kafka suchte einen Glauben:
    "...wie ein Fallbeil, so schwer, so leicht."
    Seine heterodoxe Lehre lässt sich vielleicht so zusammenfassen: Die Ankunft des Messias muss als Katastrophe gedacht werden. Er selbst stand in vollem Bewusstsein, eine Schwundgestalt des Judentums zu sein. Doch hat er sich um nach Kräften bemüht, die verschütteten Traditionen wieder aufzudecken, um sie sich wieder anzueignen.
    Zugang zur lebendigen Religion der Ostjuden fand er erstmals 1911 durch eine herumreisende jiddische Theatergruppe. Die chassidischen Geschichten – dieser Bodensatz jüdischer Volksfrömmigkeit, den Kafka zunächst in der deutschen Übersetzung Martin Bubers kennen gelernt hatte – erzeugen nun, aus dem Munde des befreundeten Schaustellers Jizchak Löwy, eine unverhoffte Resonanz.
    "Die chassidischen Geschichten sind vielleicht nicht die besten; aber sie sind, ich verstehe es nicht, das einzige Jüdische, in welchem ich mich, unabhängig von meiner Verfassung, gleich und immer zuhause fühle."
    Zuflucht nimmt Kafka dann 1915 öfters auch bei Georg Mordechai Langer, einem Prager Juden, der jahrelang das Leben eines "Chassiden" zu führen versuchte. Mit ihm besucht Kafka einen Wunderrabbi, dessen Lehrreden er im Tagebuch nacherzählt.
    "Vor dem Betreten des Allerheiligsten musst du die Schuhe ausziehen, aber nicht nur die Schuhe, sondern alles, Reisekleid und Gepäck, und darunter die Nacktheit, und alles, was unter der Nacktheit ist."
    Besonders das Bild vom Baum der Erkenntnis gestaltet Kafka immer wieder um:
    "Sündig sind wir nicht nur deshalb, weil wir von diesem probiert haben, sondern weil wir vom Baum des Lebens noch nicht gekostet haben."
    Insbesondere Kafkas Aphorismen lassen ahnen, wie sehr sich sein Verständnis des Judentums täglich vertieft.
    "'Sein' – das heißt auch: ihm gehören."
    Seit 1917 häufen sich Kafkas Sanatorien-Aufenthalte. Seine letzten Monate verbringt er mit Dora Diamant in Berlin – zum ersten Mal im Leben gelingt ihm die Loslösung von Prag. Gleichzeitig intensiviert er an der Berliner jüdischen Hochschule seine Hebräisch-Studien. Wie Tagebuchnotizen beweisen, schrieb Kafka hauptsächlich in der Zeit um die Hohen Feiertage, zwischen dem Beginn des Monats Elul und dem Tag nach Yom Kippur – in einer Zeit also, die zur Einkehr und Buße bestimmt ist.
    Am Ende hält Kafka sich für einen "Heimkehrenden" – jene Figur, welche die jüdische Tradition teshuva nennt. Selbst eine Heirat scheint dem eingefleischten Junggesellen jetzt möglich. Doch lässt der Vater Dora Diamants, ein Rabbiner, die eheliche Verbindung seiner Tochter mit dem bereits Todkranken nicht zu.
    Gegen Ende seines Lebens beginnt der Schriftsteller von einer Reise nach Palästina zu träumen. Aber auch dazu kommt es nicht mehr. Franz Kafka stirbt am 3.6.1924 in einem Sanatorium bei Wien. Er wird auf dem jüdischen Friedhof von Prag-Straschnitz begraben.
    "Er macht viele Versuche eingelassen zu werden und ermüdet den Türhüter durch seine Bitten. Vor seinem Tode sammeln sich in seinem Kopfe alle Erfahrungen der ganzen Zeit zu einer Frage, die er bisher an den Türhüter noch nicht gestellt hat. Er winkt dem Türhüter zu, da er seinen erstarrenden Körper nicht mehr aufrichten kann. Der Türhüter muss sich tief zu ihm hinunterneigen. 'Was willst du denn jetzt noch wissen?' fragt der Türhüter, 'du bist unersättlich.' 'Alle streben doch nach dem Gesetz,' sagt der Mann, 'wieso kommt es, dass in den vielen Jahren niemand außer mir Einlass verlangt hat?' Der Türhüter erkennt, dass der Mann schon an seinem Ende ist und, um sein vergehendes Gehör noch zu erreichen, brüllt er ihn an: 'Hier konnte niemand sonst Einlass erhalten, denn dieser Eingang war nur für dich bestimmt. Ich gehe jetzt und schließe ihn.'"
    (Vor dem Gesetz, Franz Kafka)