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Eine Art Beipackzettel der Globalisierung

"Le Monde Diplomatique", die aus Frankreich stammende Monatszeitschrift, erscheint derzeit in 61 internationalen Ausgaben. Dabei ist das Blatt eindeutig positioniert - als globalisierungskritisch. Seit dem Jahr 2000 bringt "Le Monde Diplomatique" zudem im Drei-Jahres-Rhythmus eine neue Auflage des "Atlas der Globalisierung" heraus.

Von Stefan Beuting |
    "Unter dem Meeresboden des Kaspischen Meeres, zwischen Baku und Turkmenistan sowie vor den Küsten Kasachstans werden riesige Öl- und Gasvorkommen vermutet, Schätzungen zufolge so viel wie die nachgewiesenen Reserven von Iran und Irak."

    Schwarze, im Ölschlamm versinkende Förderpumpen und qualmende Raffinerien, am Kaspischen Meer herrscht Goldgräberstimmung.

    Der "Atlas der Globalisierung”. Auf nur einer Doppelseite präsentiert er den Machtkampf am Kaspischen Meer. Links skizziert ein kurzer Text die komplizierte Gemengelage. Rechts zeigt die Karte einen Europa-Asien-Nahost-Ausschnitt. Die farbigen Geraden darauf markieren die wichtigen Pipelinerouten. Viele in ost-westlicher Richtung, auch zwischen Nahost und der Mitte Russlands. Sie veranschaulichen die Machtstrukturen, also, wer die Verbindung zwischen Lagerstätte und Endverbraucher kontrolliert. Gestrichelt bedeutet "Pipeline in Planung”. Ein Hinweis darauf, dass die Vormachtstellung Russlands als zentrales Transitland künftig geschwächt werden könnte. Am Beispiel des Kaspischen Raumes ahnt man etwa, wieso die USA unter anderem so gute Beziehungen zu Tiflis und Ankara pflegen. Über diese Route gelangt schon heute das kaspische Erdöl zum Mittelmeer, ohne dass Russland darauf Einfluss nehmen könnte.

    "Der Atlas der Globalisierung ist ein modernes Informationsmittel, ..."

    Niels Kadritzke, Redakteur bei der "Le Monde Diplomatique" und Mitarbeiter der deutschen Ausgabe des Atlas.

    " ... was die Probleme der Welt, auf die jeder Zeitungsleser bei der täglichen Lektüre stößt, besser erklärt, und zwar anschaulicher erklärt; es gibt immer einen Text zu einem bestimmten Problem, aber dann vor allem wird dieser Text veranschaulicht und fassbar gemacht durch Landkarten, durch Schaubilder, sodass man vergleichen kann, etwa wohin die Warenströme gehen, wie viel Gewinne die Unternehmen im Rüstungsbereich machen oder andere Fragen."

    Die Fülle der Themen ordnet der Atlas der Globalisierung in sechs Kapitel. Anfang und Ende umfassen geopolitische Einordnungen - aktuelle Aspekte der Globalisierung rund um Handel und politische Einflusssphären. Die Kapitel im Mittelteil sind stärker thematisch strukturiert, zum Beispiel "Kapitalismus in der Krise" und "Die Zukunft der Energie". Im vierten Kapitel beispielsweise wollen die Autoren das Augenmerk auf die zunehmende Multipolarität der Welt richten: viele Hauptstädte, viele Ansichten.

    Kapitel 5 ist dem Schwerpunkt Afrika gewidmet und analysiert dortige Probleme und Entwicklungen.

    "In Marokko, Algerien und Tunesien nehmen die sozialen Spannungen zu. Unter dem Vorwand, al-Quaida zu bekämpfen, werden Proteste niedergeschlagen."

    "Rund um den Nordpol wecken Schiffspassagen und Rohstoffvorkommen neue Begehrlichkeiten."

    "Die westlichen Industrieländer bestimmen nicht länger allein das Weltgeschehen, und noch stärker wächst der internationale Kapitalmarkt."

    Der Atlas liest sich wie eine Art Beipackzettel der Globalisierung – die Liste der Risiken und Nebenwirkungen ist beachtlich. Missstände und Fehlentwicklungen gibt es zuhauf. Die Autoren benennen sie, zum Beispiel wenn es darum geht, dass Menschen in armen Regionen der Welt einerseits nicht vom Wirtschaftswachstum profitieren, andererseits aber durch Konflikte bedroht sind, an denen die westliche Welt durch profitable Waffengeschäfte verdient. Die Schattenseite der Globalisierung, anschaulich und in der Summe der Beispiele bedrohlich.

    "Die Texte sind von Experten auf verschiedenen Gebieten erarbeitet, die alle dieser Zeitung nahestehen, die, das muss man ganz klar sagen, eine kritische Sicht des aktuellen Weltgeschehens gibt, also auch in bestimmten Maße kapitalismuskritisch eingestellt ist. In Frankreich mehr als in Deutschland, zum Beispiel steht die Zeitung selbst der Bewegung Attac nahe, die bekanntlich die linken Globalisierungskritiker organisiert."

    Trotz dieser Nähe wird weitgehend sachlich und ideologiefrei argumentiert. Die Themenwahl spiegelt zwar durchaus die Agenda der Globalisierungskritiker. Doch die Autoren widerstehen der Versuchung, Kapitalismus und westliche Welt angesichts der Befunde gleich in Bausch und Bogen zu verdammen. Es geht immer um die Sache, wenn große Problemkomplexe mit kurzweilig-verdichteten Artikeln und kunstvoll gestalteten Karten in ansprechendem Layout erschlossen werden. Das gelingt selten erschöpfend, weckt aber nicht zuletzt deshalb Interesse an der irrwitzigen Dynamik dieser unserer Globalisierung.

    Stefan Beuting war das über die aktuelle Ausgabe des "Atlas der Globalisierung. Sehen und verstehen, was die Welt bewegt." Das Buch ist in zwei Versionen im taz-Verlag erschienen. Die Paperback-Ausgabe kostet 13 Euro, die gebundene Version 23 Euro.