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"Eine der zehn wichtigsten Ausstellungen dieses Jahres"

Michael Schmidts Bilder zeigen die Realität der Nahrungsindustrie, sagt der Kritiker Stefan Koldehoff. Seine scheinbar banalen Aufnahmen von Großbäckereien, Schlachthöfen und Fischfarmen führten erst bei näherer Betrachtung zu der Erkenntnis, "dass da möglicherweise was nicht in Ordnung ist".

Christoph Schmitzsprach mit Stefan Koldehoff |
    Christoph Schmitz: Zu Beginn aber Fotografie. Der Fotograf Michael Schmidt, 1945 in Berlin geboren, er arbeitet gerne in Werkblöcken. Das heißt, er widmet sich mitunter jahrelang einem Thema, das er dann in einer Art fotografischem Monumentalessay in einer Ausstellung präsentiert. "Waffenruhe" war der Titel einer seiner Werkblöcke in den 80er-Jahren, "EIN-HEIT" hieß eine Einzelausstellung, für die Michael Schmidt Ost- und Westdeutschland nach der Wiedervereinigung bereiste und Stadtansichten und Porträts durch alle Gesellschaftsschichten hindurch aufgenommen hatte. Im Museum of Modern Art in New York war "EIN-HEIT" in den 90ern gezeigt worden. Der jüngste Werkblock trägt den Titel "Lebensmittel". Von 2006 bis 2010 ist Michael Schmidt durch Europa gereist und hat die Produktion, Verarbeitung und Verwertung von Lebensmitteln fotografiert. Insgesamt 177 Aufnahmen aus Großbäckereien, Schlachthöfen, Fischfarmen oder landwirtschaftlichen Betrieben sind nun im Museum Morsbroich in Leverkusen zu sehen. - Stefan Koldehoff, Sie waren dort. Was konkret hat denn Schmidt abgelichtet?

    Stefan Koldehoff: Na, wenn Sie das gerade so beschreiben, von den Schlachthöfen beispielsweise oder den Fabriken, in denen Brot hergestellt wird, erzählen, dann klingt das ja ganz schön gruselig, dann denkt man an Bolzenschussgeräte, an Blut auf dem Boden, vielleicht an Ungeziefer.

    Schmitz: Kakerlaken im Mehl.

    Koldehoff: Möglicherweise aber vor allen Dingen auch an die schlechte Qualität, die diese Produkte haben, die dort massenhaft produziert werden. All das fotografiert er nicht. Er ist relativ gelassen, wie er das eigentlich immer macht, durch die Lande gefahren und hat in diesen 177 Aufnahmen völlig banale, scheinbar banale Dinge fotografiert: eine Bäuerin, die auf dem Feld Lauchzwiebeln erntet, eine Kuh im Stall, das Euter mit der Melkmaschine, einen großen grünen Apfel – übrigens - Sensation, Sensation - der Schwarz-Weiß-Fotograf Michael Schmidt zum ersten Mal in Farbe, weil er meinte, vor allen Dingen die Präsentation der Lebensmittel hinterher in den Supermärkten, das kann man in Schwarz-Weiß nicht vernünftig herüberbringen, da gehört die Farbe schon zu. Sie sehen aber auch Gurkenkisten, sie sehen Gebäude, an denen außen Rohre dran entlangführen, wo sie gar nicht genau wissen, was in diesen Gebäuden eigentlich passiert, und all das ist auch lokal nicht beschrieben in dieser Ausstellung. Sie erfahren also nicht, was wo aufgenommen ist – sie können ahnen, dass vielleicht diese großen Fischbecken zur Zucht von Lachsen in Norwegen dienen, sie können ahnen, dass Fabriken möglicherweise Brot herstellen, verraten bekommen sie das alles aber nicht. Und da kommt dann die zweite Ebene dieser Bilder ins Spiel.

    Schmitz: Ja, und die muss ich jetzt natürlich abfragen, die zweite Ebene. Die Motive klingen relativ banal, aber was macht denn Schmidt nun daraus?

    Koldehoff: Er dokumentiert, wie das, was wir alles in der Endphase Supermarkt hinterher dann vor unseren Gesichtern finden, wie das entsteht, und er tut das völlig unaufgeregt. Er dokumentiert es, wie sich das gehört. Michael Schmidt hat immer nur dokumentiert, hat immer nur objektiv, unaufgeregt, unpolemisch, unmanipulativ seine Wirklichkeit, seine Umgebung fotografiert. Wenn man jetzt aber diesen Realismus, den er da pflegt, mal im Brechtschen Sinne deutet, der ja gesagt hat, Realismus ist nicht, wie die wirklichen Dinge sind – das wäre Naturalismus -, sondern wie die Dinge wirklich sind, dann trifft das auf Michael Schmidt zu, denn auf den zweiten Blick, oder wenn sie zum dritten oder vierten Mal da in Schloss Morsbroich durch diese Ausstellung gehen, dann bemerken sie plötzlich, dass sich doch so ein leichter Gruselfaktor einstellt: Kann es denn sein, dass diese Kuh da im Melkstall permanent das Euter voll hat, kann es denn sein, dass diese Gesichtswurst – ich weiß nicht, ob Sie die kennen von Ihren Kindern -, Wurst, die so geformt ist, dass ein lachendes Gesicht darauf ist, und dann in Staniolverpackungen mit Zellophan zugedeckt im Supermarkt angeboten wird, kann es denn sein, dass das wirklich das ist, was wir als Natur, als Essen wahrnehmen? Aber darauf muss der Besucher schon selbst kommen, das vermittelt kein Text, auch im Buch nicht, das vermittelt kein Wandtext. Das ist die Erkenntnis, die sich so langsam subkutan einstellt.

    Schmitz: Als sozialdokumentarische Fotografie ist die Kunst von Schmidt bezeichnet worden. Dieser Begriff suggeriert ja dann doch eine Intention. Hat diese Ausstellung "Lebensmittel" eine Intention, also will er doch was?

    Koldehoff: Er hat dazu gesagt, gestern bei der Eröffnung – allerdings auch nicht coram publico, dafür ist er nicht der Typ, sondern eher im stillen Gespräch -, er wolle zum Widerstand aufrufen, also er wolle schon, dass die Menschen sehen, was sie da täglich essen. Übrigens Sie haben es gerade schon gesagt: Er ist manchmal fünf Jahre unterwegs für ein Projekt, so auch für dieses. Das heißt, als das Thema "Lebensmittel" hier in Deutschland im vergangenen und vorvergangenen Jahr ganz groß wurde, da war er längst schon unterwegs. Das hat fast was Prophetisches. Also er wolle zum Widerstand aufrufen, aber zur Erkenntnis, dass da möglicherweise was nicht in Ordnung ist, da muss der Besucher schon selbst kommen.

    Schmitz: Nun sind das Werkblöcke, ich habe diesen Begriff mehrfach zitiert. Das heißt, nicht das einzelne Bild ist hier relevant, sondern alle Bilder im Kontext der anderen Bilder. Kann man diese Ausstellung, die Sie jetzt gesehen haben, "Lebensmittel" in Leverkusen, auch als Gesamtbilderwerk verstehen, oder muss man es so verstehen und was bedeutet das dann?

    Koldehoff: Das muss man tun, so ist das Buch angelegt. Schmidt arbeitet immer doppelt, einmal für ein Buch und dann aber auch für die Wand. Das heißt, sie bekommen nicht einen Katalog mit Erklärungen, sondern ein reines Bilderbuch, ganz dick, ganz groß, da hat er eine bestimmte Reihenfolge festgelegt. In den Ausstellungen, jetzt in Leverkusen, demnächst auch noch in Innsbruck und im Gropius-Bau in Berlin, da sind die Bilder beliebig kombinierbar. Was sie eint, ist das Thema "Lebensmittel", aber auch da sagt er ganz deutlich, jedes Bild muss für sich alleine gültig werden, sonst findet es keine Aufnahme. Kombinierbar sind sie hinterher beliebig, was bleibt ist das Thema.

    Schmitz: Noch ein Wort zur Qualität. Eine gelungene Ausstellung?

    Koldehoff: Eine absolut gelungene - wahrscheinlich eine der zehn wichtigsten dieses Jahres schon jetzt.

    Schmitz: Stefan Koldehoff, vielen Dank für diesen Bericht über die Ausstellung "Lebensmittel" von Michael Schmidt im Museum Morsbroich in Leverkusen.

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