Die Amerikaner werden einige Zeit bleiben müssen, um unsere Grenzen und die innere Sicherheit zu schützen. Wir haben zur Zeit schließlich weder eine Polizei noch eine Armee.
Saláh Al-Schaichly war in den siebziger Jahren Planungsminister unter Saddam Hussein und gehört zu einer Gruppe aus dem Irak geflüchteter Geheimdienstler und Militärs, die sich im Exil unter dem Namen "Irakische Nationale Eintracht" organisiert haben.
Saddam Hussein hat rund 130 Milliarden Dollar Schulden angehäuft. Ohne eine starke Macht im Rücken werden wir diese Schulden bis ans Ende unseres Lebens zurückzahlen; möglicherweise gerade so lange, wie unsere Ölvorkommen reichen.
Ein "Ja" zu den USA als Ordnungsmacht im Irak? Damit spricht Al-Schaichly für eine Minderheit in der irakischen Exil-Opposition. Kurden und Schiiten lehnen diese Position mehrheitlich ab. Latíf Rashíd, Sprecher des Londoner Büros der Patriotischen Union Kurdistans, PUK, und Ali Al-Bayáti, Auslandschef der wichtigsten Schiitenorganisation des Irak, SCIRI, hätten sich eine irakische Übergangsregierung unter UN-Mandat gewünscht:
Wir wollten, dass die Alliierten den Irak befreien. Ihre Aufgabe ist es, Frieden, Stabilität, Recht und Ordnung im Irak zu gewährleisten. Davon abgesehen, sollten die Iraker ihre Angelegenheiten aber selbst regeln.
Wenn der Wille des irakischen Volkes nicht berücksichtigt wird, werden wir wieder in einer Diktatur enden.
Sechs Gruppen und Parteien - darunter Kurden, Islamisten, Monarchisten sowie die eingangs zitierte "Nationale Eintracht" - hatten seit vergangenem Dezember auf Druck der USA Pläne für eine demokratische Nachkriegsordnung im Irak erarbeitet. Doch nun finden sich die irakischen Exilpolitiker auf dem Abstellgleis wieder. Die Amerikaner planen den Wiederaufbau ohne sie. Begründung: die irakische Opposition sei zu zerstritten. Doch der irakische Soziologe Fáleh Abdel Jabbár hält dieses Argument für falsch. Wenn die irakische Opposition nicht einbezogen werde, so Jabbar, dann drohten die amerikanischen Pläne zu scheitern. Schon jetzt sei die Stimmung im Land aufgeheizt:
Die Leute werden zu den irakischen Verwaltungsbeamten sagen: Ihr seid Agenten der Amerikaner. Die Iraker haben ein sehr starkes Nationalgefühl, und verschiedene Kräfte sind dabei, diese Emotionen zu manipulieren: die Anhänger des besiegten Regimes, die pro-iranischen Fundamentalisten und andere. Das Land ist ja völlig entideologisiert, ein Vakuum, und jeder versucht, sein Süppchen mit dem irakischen Nationalismus zu kochen.
Laut der jüngsten UN-Resolution bestimmen bis auf weiteres die Amerikaner, wer im Irak politisch das Sagen hat. Irakisch soll nur die Verwaltung sein. Dafür wurde ein Team aus 150 Exilirakern ausgewählt und nach Bagdad geschickt: Techniker, Ingenieure, Finanzexperten, Mediziner, Juristen. Doch die an den Rand gedrängten Oppositionsgruppen werden über kurz oder lang ihren Anteil an der Macht einfordern. Was sind ihre Ziele? Wie sehen sie die Aussichten auf eine Demokratisierung im Irak? Und welche Basis haben sie im Land?
Über eine solide Basis und eine klare politische Legitimation im Irak verfügen bislang nur die Kurden: Nach dem Golfkrieg 1991 gelang es den beiden großen kurdischen Parteien, der Patriotischen Union Kurdistans und der Kurdischen Demokratische Partei im Schutz der Flugverbotszone und mit Geldern aus dem Öl-für Lebensmittel-Programm der Vereinten Nationen im Norden des Iraks, eine relativ gut funktionierende Verwaltung aufzubauen. Rund ein Fünftel der etwa 25 Millionen Iraker hatte so in den letzten 12 Jahren Gelegenheit, eine Form von Demokratie zu testen: mit vergleichsweise fairen Kommunalwahlen und einer zumindest rudimentär demokratischen Verwaltung. Mehrfach haben die Kurdenführer versichert, sie wollten den Norden nicht vom restlichen Irak abspalten. Im September 2002 legten sie einen gemeinsamen Verfassungsentwurf für einen föderalen Irak vor. Das klingt ermutigend: Doch als Modell für eine Nachkriegsordnung im gesamten Irak tauge die kurdische Erfahrung nicht, urteilt der britische Historiker und Irak-Kenner Peter Sluglett:
Die Erfahrung in Kurdistan ist zweifellos sehr wichtig. Man muss aber auch bedenken, dass dort längst nicht alles perfekt ist, und dass die beiden großen kurdischen Parteien einander ziemlich lange bekämpft haben. Faktisch ist das Kurdengebiet deshalb in zwei Teilstaaten zerfallen. Manches könnte man aus Kurdistan zwar schon auf den restlichen Irak übertragen. Aber einige Probleme, denen sich der Irak gegenübersieht, sind einfach gewaltig: vor allem die zerstörte Infrastruktur.
Im Gegensatz zum Nordirak müssen die unabhängigen politischen Gruppen und Parteien in den anderen Landesteilen den Demokratietest noch bestehen. Das könnte schwierig werden, denn dort spielt die Religion eine wesentlich größere Rolle. Der Zentralirak mit den heiligen Städten Nadschaf und Kerbala ist das Kernland der Schiiten. Die Schiiten, neben den Sunniten die zweite große Glaubensgemeinschaft des Islam, spalteten sich im 7. Jahrhundert vom sunnitischen Mehrheitsislam ab. Heute sind weltweit etwa 10 Prozent aller Muslime Schiiten. Im Irak bilden sie mit ca. 65 Prozent die Mehrheit der Bevölkerung. Ihre jahrelange Unterdrückung und die Nähe zum Iran führten dazu, dass sich der Widerstand gegen das Baath-Regime hauptsächlich religiös ausdrückte. Viele Nahost-Experten warnten deshalb im Vorfeld des Krieges, im Irak könnte ein weiterer islamischer Gottesstaat entstehen. Doch das sei nicht das Ziel, beteuert Scheich Mohámmed Mohámmed Ali, schiitischer Geistlicher und Mitglied des proamerikanischen Irakischen Nationalkongresses:
Die Schiiten des Irak sind ursprünglich Araber, keine Iraner. Sie haben ihre eigenen theologischen Institutionen in Nadschaf, mehr als tausend Jahre alt. Das Beispiel des Iran wollen wir nicht kopieren. Und außerdem geht es uns nicht allein um die arabischen Schiiten. Es gibt ja auch noch kurdische und turkmenische Schiiten im Irak. Wenn wir Stabilität wollen, brauchen wir die Teilnahme der ganzen irakischen Bevölkerung.
Trotz der Unterstützung aus Teheran: die irakischen Schiiten wollen nicht als der lange Arm der iranischen Mullahs gelten, viele von ihnen sind es auch nicht. Schon vor zwei Jahren hatten sich verschiedene schiitische Exil-Gruppen auf eine gemeinsame Plattform verständigt, sie sprachen sich für eine demokratische Staatsform und einen föderalen Irak mit weitgehenden Autonomierechten für die Kurden aus. Doch über welche Basis die schiitischen Gruppen verfügen, und ob sie in der Lage sein werden, die gesamte irakische Bevölkerung über religiöse Schranken hinweg anzusprechen, ist fraglich. Scheich Mohammed Mohammed Ali betont, er würde auch einen Sunniten an der Spitze des irakischen Staates akzeptieren. Das sei eine Entscheidung aller Iraker. Dennoch bleibt es das Ziel der Schiitenorganisationen, den Schiiten entsprechend ihrem Anteil an der Bevölkerung politische Geltung zu verschaffen. Und was die Details einer künftigen irakischen Verfassung angeht, sind die Aussagen widersprüchlich. Vor allem dann, wenn es um die Rolle der Religion in einem demokratischen Irak geht:
95 Prozent der Iraker sind Muslime, und deshalb, meine ich, sollte die Scharia, das islamische Recht, respektiert werden. Selbst unter der säkularen Baath-Partei war der Islam die Staatsreligion. Die Scharia sollte also respektiert werden, und in verschiedenen Bereichen der Verfassung zum Tragen kommen - wie genau, das wird davon abhängen, wie die politischen Bewegungen und die Kleriker miteinander reden. Der Dialog wird weitergehen, und wir werden sicher kein islamischer Staat werden.
Kein Gottesstaat Irak also, doch die künftige Verfassung soll den "Islam respektieren" - das sagt auch Ali Al-Bayáti, der Sprecher des Hohen Islamischen Rates SCIRI. Das iranische Prinzip der Welajate Faqih, die politische Herrschaft der islamischen Rechtsgelehrten, lehnt der SCIRI-Vertreter zwar ab. Welche politische Funktion die schiitischen Geistlichen in der künftigen irakischen Verfassung aber genau einnehmen sollten, darüber macht Al-Bayati nur vage Aussagen:
Wenn die Verfassung den Islam respektiert, haben wir keine großen Probleme. Man kann die Religion nicht von der Politik trennen. Die Geistlichen müssen eine politische Rolle innehaben. Ich denke, ihre Aufgabe ist es, die Menschen zu erziehen. Das Bildungssystem ist unter Saddam Hussein völlig zerstört worden, und wir brauchen die Geistlichen hier.
Die Scharia, das islamische Recht, ist für weitreichende Interpretationen offen. Nicht die Scharia als solche, sondern die Frage, welchen politische Stellung die künftige irakische Verfassung dem islamischen Klerus einräumt, wird über den demokratischen Charakter des Irak entscheiden. Das gilt auch für die Rechte der Frauen. Die schiitische Ärztin und Menschenrechtsaktivistin Bayán Al-Aráji hat nichts dagegen, dass die Scharia eine Quelle der Gesetzgebung sein soll: Sie wünscht das sogar. Aber es kommt darauf an, wie die Scharia interpretiert wird. Al-Araji fordert volle staatsbürgerliche und individuelle Rechte für die Irakerinnen.
Nach dem Koran sind Männer und Frauen gleichberechtigt. In der Erklärung der Schia im Irak, dem wichtigsten Dokument der Schiiten hier, gibt es eine sehr wichtige Passage zu Frauen im gesellschaftlichen Leben. Da heißt es, dass sie volle politische Mitbestimmung haben sollen. Selbstverständlich könnte eine Frau auch Staatspräsidentin sein, warum nicht? Viele Frauen kriegen die Dinge besser geregelt, viel besser sogar, würde ich sagen.
Viele Schiiten im Irak sind säkular, teilweise sogar Kommunisten. Sie lehnen die Verquickung von Religion und Staat ab, und fühlen sich deshalb von den schiitischen Parteien nicht vertreten. Der bedeutendsten, dem SCIRI, wurde bereits vorgeworfen, das Schiitentum zu monopolisieren und politisch zu instrumentalisieren. Salah Al-Schaichly, der ehemalige Planungsminister unter Saddam Hussein und Mitglied der "Irakischen Nationalen Eintracht", nimmt diese Debatten gelassen. Er glaubt, dass sich die ethnischen und religiösen Konflikte von selbst lösen werden, wenn im Irak die Demokratie erst einmal funktioniert.
Ich glaube nicht, dass die Iraker sich letztendlich entlang religiöser oder ethnischer Linien gruppieren werden. Wir haben eine Region im Norden des Irak, Irakisch Kurdistan, und auch dort gibt es konkurrierende Parteien. Ich bin sicher, dass das neue System im Irak auf politischen Parteien und Ideologien basieren wird, und weniger auf religiöser und ethnischer Zugehörigkeit.
Der Soziologe Faleh Abdel Jabbar ist da nicht ganz so optimistisch. Er fürchtet, dass die Fundamentalisten und ihr totalitäres, intolerantes Gedankengut an Einfluss gewinnen könnten, vor allem unter den jungen Leuten - die die Ära Hussein politisch völlig orientierungslos zurückgelassen hat.
Es gibt ein totales Machtvakuum. Junge Männer sind bewaffnet, und sie töten, um ihre Familien zu ernähren. Sie laufen jedem hinterher, der ihnen etwas verspricht, den Amerikanern genauso wie den Islamisten. Und die Fundamentalisten aus Saudi-Arabien, die Wahhabiten, verbünden sich mit den Fundamentalisten, die vom Iran unterstützt werden.
Eine wesentliche Bedingung für die demokratische Entwicklung im Irak ist die Kontrolle über die Erdöleinkünfte. Saddam Hussein hatte das Ölgeschäft monopolisiert und damit ungeheure politische und wirtschaftliche Macht gewonnen. Als Konsequenz fordern die irakischen Oppositionellen eine Verfassung, die eine solche Monopolbildung in Zukunft unmöglich macht. Selbst aus den Reihen der Kommunisten kommt die Forderung, die gesamte irakische Ölindustrie zu privatisieren. So weit gehen die Kurden und Islamisten nicht: Sie wollen, dass eine irakische Übergangsregierung die Öleinnahmen verwaltet. Latif Raschid von der Patriotischen Union Kurdistans konkretisiert dieses Anliegen:
Das Budget für den Irak wird zentral verwaltet. Das haben wir akzeptiert. Aber wir haben unsere Bedingungen gestellt: Ein bestimmter Prozentsatz soll für die unterprivilegierten Gebiete aufgewandt werden. Das ist es, was wir meinen. Die Zentralregierung soll nicht einfach tun können, was sie will. Sie muss diese Gelder für bestimmte Regionen aufwenden, in Anlehnung an deren Bedürfnisse.
Doch ganz so eindeutig wie hier formuliert sind die Positionen nicht: Die Kurden liebäugeln nach wie vor auch mit der Idee, die Erdöleinkünfte zu regionalisieren. Die Erträge aus den Ölfeldern des Nordens würden dann in kurdische Kassen fließen, nicht in den irakischen Staatshaushalt. Die Verteilung der Ölgewinne dürfte also eine der schwierigsten Fragen bei der Neuordnung des Nachkriegsirak werden. In einem wichtigen Punkt stimmen alle irakischen Oppositionsgruppen überein: Die Verbrechen Saddam Husseins und seiner Helfer müssen gesühnt werden, und die Anhänger der Baath-Partei dürfen keine Macht mehr in der Verwaltung und den Sicherheitsapparaten ausüben. Entbaathifizierung ist das Stichwort, die Befreiung der Gesellschaft von der totalen Kontrolle, die die Einheitspartei in allen Bereichen des Lebens ausübte. Auch die schiitische Opposition will die Entbaathifizierung, nach dem Vorbild der Entnazifierung in Deutschland ab 1945. -- Der Historiker Peter Sluglett hält eine umfassende Entbaathifizierung für unumgänglich, wenn die Demokratie im Irak eine Chance haben soll. Die Entnazifierung in Deutschland sei sicher nicht vollständig gewesen. Aber sie habe auch eine starke symbolische Wirkung gehabt.
Die Entbaathifizierung, welche Art von Föderalismus, der Islam in der Verfassung, die Rechte der Frauen – angesichts der realen Situation im Irak klingen solche Themen wie ferne Zukunftsmusik. Die irakische Zivilgesellschaft liegt nach 35 Jahren Diktatur am Boden, und historisch kann die irakische Gesellschaft auf keinerlei demokratische Erfahrung zurückgreifen - abgesehen von den zaghaften Versuchen der Kurden. Kann auf solch dürrem Boden die Demokratie gedeihen? Faleh Abdel Jabbar meint, ja.
Demokratie ist nicht nur ein kulturelles Problem. Man braucht vor allem Institutionen. Industrieverbände, Handelskammern, Gewerkschaften sind die Basis der Zivilgesellschaft. Man muss den Angehörigen der Mittelschicht helfen, sich zu organisieren. Sie benutzen keine Waffen, wie der Mob, sondern sie sind zivilisierte, gut ausgebildete Intellektuelle. Sie würden sich in einen zivilisierten politischen Prozess einbringen.
Auch Salah Al-Schaichly hält die Iraker sehr wohl für demokratiefähig.
Die Iraker haben schon in den ersten Wochen gezeigt, dass sie den demokratischen Prozess wollen. Sie sind auf die Straße gegangen, sie haben verschiedene Standpunkte diskutiert, ohne sich gleich aufs Messer zu bekämpfen; Zeitungen entstehen, sie fangen an, politische Gruppen zu registrieren; das alles sind Anfänge, und was der Staat in Zukunft tun muss, ist, Gesetze zu erlassen - um die Demokratie zu fördern und zu schützen.
Die irakische Gesellschaft steht vor der größten erdenklichen Aufgabe: Sie muss sich politisch neu erfinden. Um diese Herausforderung bewältigen zu können, brauchen die Iraker Unterstützung aus Europa, auch aus Deutschland, und eine starke Schutzmacht. Die Amerikaner, meint Peter Sluglett, sollten den Alleingang aufgeben und die Vereinten Nationen im Irak wesentlich miteinbeziehen. Doch auf keinen Fall, so der Historiker, dürften sie die Iraker vorzeitig sich selbst überlassen.
Die Dummheit der Amerikaner ist eines der größten Risiken. Denn ich befürchte, dass die Amerikaner in einem bestimmten Augenblick aufgeben und nach Hause gehen werden, und dass ihre Aufmerksamkeit wegen der Wahlen in den USA nachlassen könnte. Die Iraker wünschen sich aus tiefster Seele die Demokratie. Doch die wichtigste Voraussetzung dafür - und es ist zur Zeit vielleicht nicht gerade in Mode, das festzustellen – ist, dass die Amerikaner auf keinen Fall abziehen, bevor die demokratischen Institutionen aufgebaut sind und funktionieren.
Saláh Al-Schaichly war in den siebziger Jahren Planungsminister unter Saddam Hussein und gehört zu einer Gruppe aus dem Irak geflüchteter Geheimdienstler und Militärs, die sich im Exil unter dem Namen "Irakische Nationale Eintracht" organisiert haben.
Saddam Hussein hat rund 130 Milliarden Dollar Schulden angehäuft. Ohne eine starke Macht im Rücken werden wir diese Schulden bis ans Ende unseres Lebens zurückzahlen; möglicherweise gerade so lange, wie unsere Ölvorkommen reichen.
Ein "Ja" zu den USA als Ordnungsmacht im Irak? Damit spricht Al-Schaichly für eine Minderheit in der irakischen Exil-Opposition. Kurden und Schiiten lehnen diese Position mehrheitlich ab. Latíf Rashíd, Sprecher des Londoner Büros der Patriotischen Union Kurdistans, PUK, und Ali Al-Bayáti, Auslandschef der wichtigsten Schiitenorganisation des Irak, SCIRI, hätten sich eine irakische Übergangsregierung unter UN-Mandat gewünscht:
Wir wollten, dass die Alliierten den Irak befreien. Ihre Aufgabe ist es, Frieden, Stabilität, Recht und Ordnung im Irak zu gewährleisten. Davon abgesehen, sollten die Iraker ihre Angelegenheiten aber selbst regeln.
Wenn der Wille des irakischen Volkes nicht berücksichtigt wird, werden wir wieder in einer Diktatur enden.
Sechs Gruppen und Parteien - darunter Kurden, Islamisten, Monarchisten sowie die eingangs zitierte "Nationale Eintracht" - hatten seit vergangenem Dezember auf Druck der USA Pläne für eine demokratische Nachkriegsordnung im Irak erarbeitet. Doch nun finden sich die irakischen Exilpolitiker auf dem Abstellgleis wieder. Die Amerikaner planen den Wiederaufbau ohne sie. Begründung: die irakische Opposition sei zu zerstritten. Doch der irakische Soziologe Fáleh Abdel Jabbár hält dieses Argument für falsch. Wenn die irakische Opposition nicht einbezogen werde, so Jabbar, dann drohten die amerikanischen Pläne zu scheitern. Schon jetzt sei die Stimmung im Land aufgeheizt:
Die Leute werden zu den irakischen Verwaltungsbeamten sagen: Ihr seid Agenten der Amerikaner. Die Iraker haben ein sehr starkes Nationalgefühl, und verschiedene Kräfte sind dabei, diese Emotionen zu manipulieren: die Anhänger des besiegten Regimes, die pro-iranischen Fundamentalisten und andere. Das Land ist ja völlig entideologisiert, ein Vakuum, und jeder versucht, sein Süppchen mit dem irakischen Nationalismus zu kochen.
Laut der jüngsten UN-Resolution bestimmen bis auf weiteres die Amerikaner, wer im Irak politisch das Sagen hat. Irakisch soll nur die Verwaltung sein. Dafür wurde ein Team aus 150 Exilirakern ausgewählt und nach Bagdad geschickt: Techniker, Ingenieure, Finanzexperten, Mediziner, Juristen. Doch die an den Rand gedrängten Oppositionsgruppen werden über kurz oder lang ihren Anteil an der Macht einfordern. Was sind ihre Ziele? Wie sehen sie die Aussichten auf eine Demokratisierung im Irak? Und welche Basis haben sie im Land?
Über eine solide Basis und eine klare politische Legitimation im Irak verfügen bislang nur die Kurden: Nach dem Golfkrieg 1991 gelang es den beiden großen kurdischen Parteien, der Patriotischen Union Kurdistans und der Kurdischen Demokratische Partei im Schutz der Flugverbotszone und mit Geldern aus dem Öl-für Lebensmittel-Programm der Vereinten Nationen im Norden des Iraks, eine relativ gut funktionierende Verwaltung aufzubauen. Rund ein Fünftel der etwa 25 Millionen Iraker hatte so in den letzten 12 Jahren Gelegenheit, eine Form von Demokratie zu testen: mit vergleichsweise fairen Kommunalwahlen und einer zumindest rudimentär demokratischen Verwaltung. Mehrfach haben die Kurdenführer versichert, sie wollten den Norden nicht vom restlichen Irak abspalten. Im September 2002 legten sie einen gemeinsamen Verfassungsentwurf für einen föderalen Irak vor. Das klingt ermutigend: Doch als Modell für eine Nachkriegsordnung im gesamten Irak tauge die kurdische Erfahrung nicht, urteilt der britische Historiker und Irak-Kenner Peter Sluglett:
Die Erfahrung in Kurdistan ist zweifellos sehr wichtig. Man muss aber auch bedenken, dass dort längst nicht alles perfekt ist, und dass die beiden großen kurdischen Parteien einander ziemlich lange bekämpft haben. Faktisch ist das Kurdengebiet deshalb in zwei Teilstaaten zerfallen. Manches könnte man aus Kurdistan zwar schon auf den restlichen Irak übertragen. Aber einige Probleme, denen sich der Irak gegenübersieht, sind einfach gewaltig: vor allem die zerstörte Infrastruktur.
Im Gegensatz zum Nordirak müssen die unabhängigen politischen Gruppen und Parteien in den anderen Landesteilen den Demokratietest noch bestehen. Das könnte schwierig werden, denn dort spielt die Religion eine wesentlich größere Rolle. Der Zentralirak mit den heiligen Städten Nadschaf und Kerbala ist das Kernland der Schiiten. Die Schiiten, neben den Sunniten die zweite große Glaubensgemeinschaft des Islam, spalteten sich im 7. Jahrhundert vom sunnitischen Mehrheitsislam ab. Heute sind weltweit etwa 10 Prozent aller Muslime Schiiten. Im Irak bilden sie mit ca. 65 Prozent die Mehrheit der Bevölkerung. Ihre jahrelange Unterdrückung und die Nähe zum Iran führten dazu, dass sich der Widerstand gegen das Baath-Regime hauptsächlich religiös ausdrückte. Viele Nahost-Experten warnten deshalb im Vorfeld des Krieges, im Irak könnte ein weiterer islamischer Gottesstaat entstehen. Doch das sei nicht das Ziel, beteuert Scheich Mohámmed Mohámmed Ali, schiitischer Geistlicher und Mitglied des proamerikanischen Irakischen Nationalkongresses:
Die Schiiten des Irak sind ursprünglich Araber, keine Iraner. Sie haben ihre eigenen theologischen Institutionen in Nadschaf, mehr als tausend Jahre alt. Das Beispiel des Iran wollen wir nicht kopieren. Und außerdem geht es uns nicht allein um die arabischen Schiiten. Es gibt ja auch noch kurdische und turkmenische Schiiten im Irak. Wenn wir Stabilität wollen, brauchen wir die Teilnahme der ganzen irakischen Bevölkerung.
Trotz der Unterstützung aus Teheran: die irakischen Schiiten wollen nicht als der lange Arm der iranischen Mullahs gelten, viele von ihnen sind es auch nicht. Schon vor zwei Jahren hatten sich verschiedene schiitische Exil-Gruppen auf eine gemeinsame Plattform verständigt, sie sprachen sich für eine demokratische Staatsform und einen föderalen Irak mit weitgehenden Autonomierechten für die Kurden aus. Doch über welche Basis die schiitischen Gruppen verfügen, und ob sie in der Lage sein werden, die gesamte irakische Bevölkerung über religiöse Schranken hinweg anzusprechen, ist fraglich. Scheich Mohammed Mohammed Ali betont, er würde auch einen Sunniten an der Spitze des irakischen Staates akzeptieren. Das sei eine Entscheidung aller Iraker. Dennoch bleibt es das Ziel der Schiitenorganisationen, den Schiiten entsprechend ihrem Anteil an der Bevölkerung politische Geltung zu verschaffen. Und was die Details einer künftigen irakischen Verfassung angeht, sind die Aussagen widersprüchlich. Vor allem dann, wenn es um die Rolle der Religion in einem demokratischen Irak geht:
95 Prozent der Iraker sind Muslime, und deshalb, meine ich, sollte die Scharia, das islamische Recht, respektiert werden. Selbst unter der säkularen Baath-Partei war der Islam die Staatsreligion. Die Scharia sollte also respektiert werden, und in verschiedenen Bereichen der Verfassung zum Tragen kommen - wie genau, das wird davon abhängen, wie die politischen Bewegungen und die Kleriker miteinander reden. Der Dialog wird weitergehen, und wir werden sicher kein islamischer Staat werden.
Kein Gottesstaat Irak also, doch die künftige Verfassung soll den "Islam respektieren" - das sagt auch Ali Al-Bayáti, der Sprecher des Hohen Islamischen Rates SCIRI. Das iranische Prinzip der Welajate Faqih, die politische Herrschaft der islamischen Rechtsgelehrten, lehnt der SCIRI-Vertreter zwar ab. Welche politische Funktion die schiitischen Geistlichen in der künftigen irakischen Verfassung aber genau einnehmen sollten, darüber macht Al-Bayati nur vage Aussagen:
Wenn die Verfassung den Islam respektiert, haben wir keine großen Probleme. Man kann die Religion nicht von der Politik trennen. Die Geistlichen müssen eine politische Rolle innehaben. Ich denke, ihre Aufgabe ist es, die Menschen zu erziehen. Das Bildungssystem ist unter Saddam Hussein völlig zerstört worden, und wir brauchen die Geistlichen hier.
Die Scharia, das islamische Recht, ist für weitreichende Interpretationen offen. Nicht die Scharia als solche, sondern die Frage, welchen politische Stellung die künftige irakische Verfassung dem islamischen Klerus einräumt, wird über den demokratischen Charakter des Irak entscheiden. Das gilt auch für die Rechte der Frauen. Die schiitische Ärztin und Menschenrechtsaktivistin Bayán Al-Aráji hat nichts dagegen, dass die Scharia eine Quelle der Gesetzgebung sein soll: Sie wünscht das sogar. Aber es kommt darauf an, wie die Scharia interpretiert wird. Al-Araji fordert volle staatsbürgerliche und individuelle Rechte für die Irakerinnen.
Nach dem Koran sind Männer und Frauen gleichberechtigt. In der Erklärung der Schia im Irak, dem wichtigsten Dokument der Schiiten hier, gibt es eine sehr wichtige Passage zu Frauen im gesellschaftlichen Leben. Da heißt es, dass sie volle politische Mitbestimmung haben sollen. Selbstverständlich könnte eine Frau auch Staatspräsidentin sein, warum nicht? Viele Frauen kriegen die Dinge besser geregelt, viel besser sogar, würde ich sagen.
Viele Schiiten im Irak sind säkular, teilweise sogar Kommunisten. Sie lehnen die Verquickung von Religion und Staat ab, und fühlen sich deshalb von den schiitischen Parteien nicht vertreten. Der bedeutendsten, dem SCIRI, wurde bereits vorgeworfen, das Schiitentum zu monopolisieren und politisch zu instrumentalisieren. Salah Al-Schaichly, der ehemalige Planungsminister unter Saddam Hussein und Mitglied der "Irakischen Nationalen Eintracht", nimmt diese Debatten gelassen. Er glaubt, dass sich die ethnischen und religiösen Konflikte von selbst lösen werden, wenn im Irak die Demokratie erst einmal funktioniert.
Ich glaube nicht, dass die Iraker sich letztendlich entlang religiöser oder ethnischer Linien gruppieren werden. Wir haben eine Region im Norden des Irak, Irakisch Kurdistan, und auch dort gibt es konkurrierende Parteien. Ich bin sicher, dass das neue System im Irak auf politischen Parteien und Ideologien basieren wird, und weniger auf religiöser und ethnischer Zugehörigkeit.
Der Soziologe Faleh Abdel Jabbar ist da nicht ganz so optimistisch. Er fürchtet, dass die Fundamentalisten und ihr totalitäres, intolerantes Gedankengut an Einfluss gewinnen könnten, vor allem unter den jungen Leuten - die die Ära Hussein politisch völlig orientierungslos zurückgelassen hat.
Es gibt ein totales Machtvakuum. Junge Männer sind bewaffnet, und sie töten, um ihre Familien zu ernähren. Sie laufen jedem hinterher, der ihnen etwas verspricht, den Amerikanern genauso wie den Islamisten. Und die Fundamentalisten aus Saudi-Arabien, die Wahhabiten, verbünden sich mit den Fundamentalisten, die vom Iran unterstützt werden.
Eine wesentliche Bedingung für die demokratische Entwicklung im Irak ist die Kontrolle über die Erdöleinkünfte. Saddam Hussein hatte das Ölgeschäft monopolisiert und damit ungeheure politische und wirtschaftliche Macht gewonnen. Als Konsequenz fordern die irakischen Oppositionellen eine Verfassung, die eine solche Monopolbildung in Zukunft unmöglich macht. Selbst aus den Reihen der Kommunisten kommt die Forderung, die gesamte irakische Ölindustrie zu privatisieren. So weit gehen die Kurden und Islamisten nicht: Sie wollen, dass eine irakische Übergangsregierung die Öleinnahmen verwaltet. Latif Raschid von der Patriotischen Union Kurdistans konkretisiert dieses Anliegen:
Das Budget für den Irak wird zentral verwaltet. Das haben wir akzeptiert. Aber wir haben unsere Bedingungen gestellt: Ein bestimmter Prozentsatz soll für die unterprivilegierten Gebiete aufgewandt werden. Das ist es, was wir meinen. Die Zentralregierung soll nicht einfach tun können, was sie will. Sie muss diese Gelder für bestimmte Regionen aufwenden, in Anlehnung an deren Bedürfnisse.
Doch ganz so eindeutig wie hier formuliert sind die Positionen nicht: Die Kurden liebäugeln nach wie vor auch mit der Idee, die Erdöleinkünfte zu regionalisieren. Die Erträge aus den Ölfeldern des Nordens würden dann in kurdische Kassen fließen, nicht in den irakischen Staatshaushalt. Die Verteilung der Ölgewinne dürfte also eine der schwierigsten Fragen bei der Neuordnung des Nachkriegsirak werden. In einem wichtigen Punkt stimmen alle irakischen Oppositionsgruppen überein: Die Verbrechen Saddam Husseins und seiner Helfer müssen gesühnt werden, und die Anhänger der Baath-Partei dürfen keine Macht mehr in der Verwaltung und den Sicherheitsapparaten ausüben. Entbaathifizierung ist das Stichwort, die Befreiung der Gesellschaft von der totalen Kontrolle, die die Einheitspartei in allen Bereichen des Lebens ausübte. Auch die schiitische Opposition will die Entbaathifizierung, nach dem Vorbild der Entnazifierung in Deutschland ab 1945. -- Der Historiker Peter Sluglett hält eine umfassende Entbaathifizierung für unumgänglich, wenn die Demokratie im Irak eine Chance haben soll. Die Entnazifierung in Deutschland sei sicher nicht vollständig gewesen. Aber sie habe auch eine starke symbolische Wirkung gehabt.
Die Entbaathifizierung, welche Art von Föderalismus, der Islam in der Verfassung, die Rechte der Frauen – angesichts der realen Situation im Irak klingen solche Themen wie ferne Zukunftsmusik. Die irakische Zivilgesellschaft liegt nach 35 Jahren Diktatur am Boden, und historisch kann die irakische Gesellschaft auf keinerlei demokratische Erfahrung zurückgreifen - abgesehen von den zaghaften Versuchen der Kurden. Kann auf solch dürrem Boden die Demokratie gedeihen? Faleh Abdel Jabbar meint, ja.
Demokratie ist nicht nur ein kulturelles Problem. Man braucht vor allem Institutionen. Industrieverbände, Handelskammern, Gewerkschaften sind die Basis der Zivilgesellschaft. Man muss den Angehörigen der Mittelschicht helfen, sich zu organisieren. Sie benutzen keine Waffen, wie der Mob, sondern sie sind zivilisierte, gut ausgebildete Intellektuelle. Sie würden sich in einen zivilisierten politischen Prozess einbringen.
Auch Salah Al-Schaichly hält die Iraker sehr wohl für demokratiefähig.
Die Iraker haben schon in den ersten Wochen gezeigt, dass sie den demokratischen Prozess wollen. Sie sind auf die Straße gegangen, sie haben verschiedene Standpunkte diskutiert, ohne sich gleich aufs Messer zu bekämpfen; Zeitungen entstehen, sie fangen an, politische Gruppen zu registrieren; das alles sind Anfänge, und was der Staat in Zukunft tun muss, ist, Gesetze zu erlassen - um die Demokratie zu fördern und zu schützen.
Die irakische Gesellschaft steht vor der größten erdenklichen Aufgabe: Sie muss sich politisch neu erfinden. Um diese Herausforderung bewältigen zu können, brauchen die Iraker Unterstützung aus Europa, auch aus Deutschland, und eine starke Schutzmacht. Die Amerikaner, meint Peter Sluglett, sollten den Alleingang aufgeben und die Vereinten Nationen im Irak wesentlich miteinbeziehen. Doch auf keinen Fall, so der Historiker, dürften sie die Iraker vorzeitig sich selbst überlassen.
Die Dummheit der Amerikaner ist eines der größten Risiken. Denn ich befürchte, dass die Amerikaner in einem bestimmten Augenblick aufgeben und nach Hause gehen werden, und dass ihre Aufmerksamkeit wegen der Wahlen in den USA nachlassen könnte. Die Iraker wünschen sich aus tiefster Seele die Demokratie. Doch die wichtigste Voraussetzung dafür - und es ist zur Zeit vielleicht nicht gerade in Mode, das festzustellen – ist, dass die Amerikaner auf keinen Fall abziehen, bevor die demokratischen Institutionen aufgebaut sind und funktionieren.