Donnerstag, 28. März 2024

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Eine Lange Nacht über das Mittelmeer
Zwischen Sehnsucht und Sterben

In der Antike war das Mittelmeer Schauplatz von Entdeckungsfahrten und Seeschlachten, von Religionsstiftungen und Kriegen zwischen den Religionen; es war ein Umschlagplatz für Handel und Ideen. Es war der Ursprung Europas. Heute ist es mit den vielen ertrunkenen Flüchtlingen auch Sinnbild für die Krise. Aber lädt es vielleicht aufgrund seiner Geschichte auch dazu ein, Europa neu zu denken?

Von Manuel Gogos | 05.11.2016
    Eine kaputte Schwimmweste ist an einen Strand in Libyen angespült worden.
    Unterwasser-Blick im Mittelmeer (dpa-Bildfunk / EPA / Ben Khalifa)
    Lesen Sie das komplette Manuskript zur Sendung in seiner ungekürzten Vorsendungsfassung hier: Manuskript als PDF / Manuskript als TXT. Die Webbegleitung zu dieser Sendung ergänzt das Manuskript und die Sendung, bietet einen eigenen Zugangsweg zu dem Thema.
    Namen für das Mittelmeer: Die alten Ägypter nannten es das "große Grün", für die Osmanen war es das "weiße Meer", für die Römer mare nostrum – "unser Meer": Das Mittelmeer, das Mischlingsmeer, das Meer mit den vielen Namen, ist ein eigener, ein "flüssiger Kontinent".
    Das Mittelmeer als geistiger Ursprung Europas
    Die "Méditeranée" ist eine physische Realität, und zugleich ein Mythos. Sie vermisst die geistige Landschaft, in der sich ein humanistisches Europa überhaupt erst selbst erfand.
    Filmtrailer zu Jean- Luc Godard "Film Socialisme"
    Markus Messling (Projekt Transmed): "Das Schiff fährt zwar die großen Orte ab, Barcelona, Alexandria, es fährt die großen Erinnerungsorte europäischer Kultur ab, aber das ist kein Ankommen mehr."
    In einer Zeit, in der Europa in einer Identitätskrise steckt, an Amnesie leidet, da lädt das Mittelmeer zu einer anderen Art der Geschichtsschreibung ein – Europa neu zu denken, von seinem Ursprung, vom Süden her.
    Projekt "Transmed" von Markus Messling und Franck Hofmann: Der Versuch einer europäischen Selbstverständigung durch das Mittelmeer.
    Franck Hofmann: "Das Projekt war grundlegend damit verbunden, eine Umkehrung der Blickrichtung zu betreiben. Es ging darum, Europa vom Süden aus zu denken. Und dabei auch die Problembezirke zu vermessen, die Krisen ernst zu nehmen, und seismographisch aufzunehmen, dabei aber auch die Frage zu beantworten, wie kann man Europa vom Süden aus anders entwerfen."
    Das Mittelmeer im Blick einiger neuzeitlicher Autoren
    Ferdinand Braudel: Algier vorbei, Algier, die weiße Stadt: Algier ist die Stadt des Historikers Ferdinand Braudel, der mit seinem Buch "Die Méditerranée und die mediterrane Welt in der Epoche Philippes des II." zum ersten Mal das Meer ins Zentrum der historischen Analyse setzte. Und der mit diesem Gründungsmanifest einen ganz neuen Forschungszweig der Mittelmeerforschung angestoßen hat. Fernand Paul Braudel (geboren am 24. August 1902, gestorben am 28. November 1985) ist ein Historiker der Annales-Schule, die eine neue Methodik und auch neue Inhalte erforschte, sich dabei stark der Wirtschaft und Gesellschaft widmete. Braudels Buch war unendlich wirkmächtig für eine Wahrnehmung des Mittelmeers als einer Landschaft, in der die Lebensgewohnheiten der Menschen den Westen und Osten, Norden und Süden zu einem einzigen kulturellen Raum verschmelzen. Kritisiert wurde an seinem Werk vor allem die Hellenisierung des Mittelmeerraums, die er als erste Phase der "Europäisierung" begriffen hat – und dabei die Muslime zu kulturfremden Invasoren herabgewürdigte.
    Gabriel Audisio: Gabriel Audisio (geboren am 27. Juli 1900, gestorben am 25. Januar 1978) pendelte zwischen Paris, Algier und Marseille. Er wird in den 1920er-Jahren Leiter des algerischen Tourismusbüros und somit Vermarkter des Mittelmeerraums. Gleichzeitig arbeitet er als Journalist für "Le Cahier du Sud". Und "Le Cahier du Sud" wird zum zentralen Medium eines neuen Bildes vom Mittelmeer, weniger eurozentrisch, das sich bemüht, verschiedene kulturelle und religiöse Elemente in das Bild von Mittelmeer zu integrieren, also den Islam oder die arabische Kultur.
    Albert Camus: "Einige Städte, die das Glück haben, am Meer zu liegen – unter ihnen Algier -, öffnen sich dem Himmel wie ein Mund oder eine Wunde." (Albert Camus, "Hochzeit in Tipasa"). Albert Camus (geboren am 07. November 1913, gestorben am 4. Januar 1960) ist im Arbeiterviertel Belcourt im Südosten Algiers aufgewachsen, am Mittelmeer hat er seine prägenden Jahre verbracht. Camus Vorfahren waren analphabetische Landarbeiter und bereits seit der Eroberung durch die Franzosen in Algerien ansässig. Was bei ihm nach Mittelmeerromantik klingt, ist doch der existenzielle Nährboden eines Philosophen, den Jean Paul Sartre in seinem Nachruf "einen der großen französischen Moralisten" genannt hat. Denn in Algier wurde auf einfacher, alltagsweltlicher Ebene jener menschliche Anstand vorgelebt, den Camus laut Sartre später auf philosophischer wie politischer Ebene verkörpert hat. Doch hat Camus’ mittelmeerisches Denken auch Widerspruch erregt. Noch in Algier entstand so sein frühes literarisches Meisterwerk "Der Fremde", der den Beweis führt, dass die Sonne nicht nur nähren, sondern auch töten kann. Der Druck der Hitze, die Endlosigkeit des sonnendurchglühten Strandes, die Morgensonne blendet den Franzosenalgerier Meursault und bringt ihn dazu, eine Waffe auf einen Araber abzufeuern.
    Kamel Daoud: Erst jüngst hat der algerische Schriftsteller Kamel Daoud (geboren 17. Juni 1970) diese Leiche aus dem Keller der Weltliteratur wieder hervorgeholt und zum Gegenstand seines Romans "Der Fall Meursault, eine Gegenermittlung" gemacht. Der Roman rollt den Mord an dem "Araber" neu auf – ein "literarisches Verbrechen", das Camus’ überragendes literarisches Talent erst zum perfekten Verbrechen gemacht hat. 1975 zählte man in Algerien 400 zerstörte und geplünderte französische Schulen, über 6.000 zerstörte und geplünderte landwirtschaftliche Betriebe, 50.000 umgelegte Telegraphenmasten und nahezu 80.000 geraubte oder geköpfte Tiere, Millionen herausgerissene Weinstöcke. Heute ist Algerien ein Land, in dem religiöser Fanatismus grassiert. Daouds Helden Moussa und Haroun gehören zu jenen Ouled El Houmma – diesen jungen Männern aus den Armenvierteln Algier – zu den jungen Narbengesichtern und Nichtsnutzen, die sich als Taschendiebe, Schürzenjäger und Kettenraucher die Zeit vertreiben, die mit ihren Messern spielen und ihre Tatoos zeigen. So scheint es kein Zufall, dass sich Daoud in einem Artikel in der New York Times auch zu den Ereignissen in der Kölner Silvesternacht äußerte.
    Marseille – die älteste Stadt Frankreichs
    Wir landen an einem Hafen, einer der wichtigsten Pforten des Nachbarschaftsmeers, wo griechische Kolonisatoren einst ihre Handelspräsenz Massalia gründeten: in Marseille, der ältesten Stadt Frankreichs. 1853 eröffnete der neue Hafen, Port La Joliette. Marseilles Aufstieg zum wichtigsten Hafen Frankreichs stand nichts mehr im Wege. 400 Segelschiffe verkehrten nun regelmäßig zwischen Marseille und Algier, um Seife, Mehl und Zucker nach Algerien zu bringen, und umgekehrt das algerische Getreide und Wein nach Frankreich einzuführen. Seit 1857 verband ein Schnellzug von Paris über Lyon nach Marseille Frankreichs Norden und Süden, die ersten regelmäßigen Dampfschiffverbindungen nach Algerien wurden eingerichtet.
    Trailer zu Anna Seghers "Transit"
    Franck Hofmann: "Wir haben bei Anna Seghers "Transit", was ja mittlerweile ein klassischer Marseille-Roman geworden ist, wirklich diese Situation der europäischen Krise vor dem Hintergrund des Faschismus und der Besetzung Frankreichs, der Flucht, in der man Marseille einfach als Nadelöhr der Hoffnung auf ein Entkommen geschildert bekommt."
    Im 19. Jahrhundert war Marseille der große Koloniale Umschlagplatz Frankreichs. Im 20. Jahrhundert wird sein Hafen zum Sprungbrett für unzählige Flüchtlinge vor der nationalsozialistischen Herrschaft. Einst war Marseille Startpunkt europäischer Auswanderer in alle Welt. Die Einwanderung in die Metropole beginnt 1907 mit Kabylen, sie sollten die streikenden italienischen Arbeiter in einer Fabrik ersetzen. Doch schon in den 1920er Jahren wird die "bonne invasion" der Nordafrikaner zur "invasion de sidi" uminterpretiert: Marseille erscheint als französisches Chicago, als Zentrum des globalen Drogenhandels und Hotspot sozialer Konflikte. Als Drogenumschlagplatz und Schauplatz von Bandenkriminalität wurde Marseille auch zum Prüfstein französischer Integrationspolitik.
    Dagegen versuchte die Kulturhauptstadt 2013 mit kulturpolitischen Großprojekten wie dem MUCEM, dem Musée des civilisations de ‚l’Europe et de la Mediteranée, wieder an die große multikulturelle Tradition und das kulturelle Gedächtnis der "Mediterranee" anzuknüpfen.
    Sizilien – immer auf der Hut vor dem Mittelmeer
    Von Sizilien aus richtete sich der Blick des Regisseurs Pier Paolo Pasolini voller Hoffnung nach Nordafrika. Die Sizilianer selbst waren hingegen immer eher auf der Hut vor dem und denen, die das Meer ihnen bringt. Sizilien, Italiens Schlussstein, letztlich nichts anders als eine Insel im Mittelmeer, galt den Herrschern in Rom immer als eigenwilliges, schwer zu verstehendes, schwer zu regierendes Land. In seiner Geschichte versuchten andere, dieses Land unter ihre Gewalt zu bringen. Die Einwohner wurden darüber zu Experten des Fremden. Entsprechend eisern fällt ihre Selbstbehauptung aus.
    Vor allem in Spanien und Portugal ist in der Sprache, Kunst und Architektur der Einfluss arabischer und maurischer Kultur unübersehbar. Als im Jahre 827 unter der Führung des Feldherren Asad ibn al-Furat eine Flotte aus dem nordafrikanischen Kairouan auf der Insel landete und sie von den Byzantinern eroberte, begann für Sizilien mit neuen Bewässerungssystemen und Agrarkulturen sowie der Expansion der Städte Palermo, Syrakus und Marsala eine kulturelle Blütezeit. Der Handel gedieh, weil muslimische Herrscher ihre Städte jüdischen Kaufleuten öffneten. Auch die Literatur erhielt einen Schub. Maurische Elemente sind bis heute auch in der sizilianischen Musik typisch.
    Lampedusa – die Insel der Ertrinkenden
    Italiens Stiefel ist vom Mittelmeer umgeben, Sizilien sein Absatz. Viel südlicher aber, noch viel verlorener im Meer, liegt noch eine andere, viel kleinere Insel, rau, unbändig, entlegen: Lampedusa.
    Ulrich Ladurner: "Die Insel ist näher an Afrika als an Europa, sie ist Teil der afrikanischen tektonischen Platte, insofern ist es zwar ein Teil Italiens, aber geografisch gesprochen ein Teil Afrikas. Lampedusa ist 210 Kilometer von der sizilianischen, aber nur 120 Kilometer von der afrikanischen Küste entfernt."
    Seit Kolumbus Amerika entdeckt hatte und ganz Spanien von El Dorado träumte, verkam Nordafrika zum Hinterhof – einem rechtslosen Raum, in dem Korsaren versuchten, in ihren Piratennestern in Tunis und Tripolis schnelles Geld zu machen.
    In den 1990er-Jahren stand Ulrich Ladurner (deutsch-italienischer Journalist, geboren 1962) zum ersten Mal an der Küste Lampedusas, mit vielen anderen Journalisten und Fotografen aus ganz Europa. Damals waren die Bilder, die er dort sah, noch ganz neu, von einem Boot mit Flüchtlingen, das auf die Insel zusteuert.
    Ulrich Ladurner: "Lampedusa ist ja eine Felseninsel. Es ist ja auch eine Insel der Ertrunkenen inzwischen. Weil sehr viele Leute vor der Küste Lampedusas am Meeresgrund liegen."
    Trailer des Films "Terraferma" von Emanuele Crialese
    Ohne Zweifel ist das Mittelmeer das größte Massengrab Nachkriegseuropas. Bei seinem Aufenthalt auf Lampedusa erzählte ein Fischer dem Journalisten Ladurner, einmal habe er in seinem Netz eine halb zerfressene Leiche gefunden. Und tatsächlich erlebten auch an jenem 3. Oktober 2013 die Einheimischen Lampedusas, was das Mittelmeer heute in seinen Untiefen bereithält – und wie der Traum von seinen wogenden Wellen in einen Alptraum umschlagen kann.
    Bürgermeisterin Giuseppina Maria "Giusi" Nicolini (geboren am 05. März 1961): "Ich bin die neue Bürgermeisterin der Insel Lampedusa. Im Mai bin ich gewählt worden, am 21. November sind mir bereits 21 Leichen übergeben worden. Diese Menschen sind ertrunken, als sie versuchten, Lampedusa zu erreichen. Das ist für mich unerträglich. Für Lampedusa ist es eine immense Bürde und ein Schmerz. Wir hatten für diese armen Seelen keinen Platz mehr auf unserem Friedhof. Wie groß soll der Friedhof meiner Insel noch werden? […] Ich bin empört über das Schwiegen Europas, das soeben den Friedensnobelpreis erhalten hat."
    Griechenland und der Erfinder des Mittelmeers
    "Tiefe, schmerzhafte Brüche, wobei die Verluste zu Lande von jenen auf dem Meer überboten werden, ihre Armut auf den Inseln war noch bitterer als auf dem Festland. Die Griechen blieben zu Hause und waren unzufrieden, oder sie verließen ihr Land und hatten Heimweh. Das Wort Nostalgie ist zutiefst griechisch. Das Schicksal des Mediterran verfließt mit dem Schicksal Griechenlands." (Zitat aus dem Buch "Der Mediterran: Raum und Zeit des Mittelmeerraums" von Predrag Matvejević, 1993)
    Gunter Gebauer war ebenfalls ein Teil des Transmed-Projekts von Franck Hofmann und Markus Messling. Mit ihnen gemeinsam machte der Philosoph sich auf die Reise, der Mediterranee nachzuspüren.
    "Odysseus ist in dem Sinne Erfinder des Mittelmeeres, als er das Meer zum ersten Mal in seiner Weite erforscht und durchquert und auch die Geschichten sammelt. Wenn man sich die Odyssee vergegenwärtigt als großen Wurf des Losfahrens, des Herumirrens und wieder Ankommens, ist das ja eine Art Rundfahrt. Das ist faszinierend und modellgebend für die europäische Literatur, vielleicht sogar bis heute, insofern als jemand aufbricht von zu Hause, Abenteuer erlebt, im Laufe der Zeit reift, und dann wieder nach Hause zurück kehrt, mit einer Geschichte, die sich inzwischen rund um das Mittelmeer verbreitet hat."
    Das Mittelmeer als Ort des Lebens – und der Vertreibung
    Markus Koller, Geschäftsführender Direktor des Zentrums für Mittelmeerstudien an der Ruhruniversität Bochum: "Dann wurden die Osmanen auch physisch präsent in Venedig, einmal durch die Gesandtschaften, prunkvolle Gesandtschaften, wie übrigens auch die venezianischen Gesandtschaften in Istanbul Eindruck hinterließen. Dann gab es Händler und Kaufleute, man kennt heute noch den "Bazar de Turki", also das Haus, in dem die türkischen Händler untergebracht waren, da wurden Tuche gehandelt, da wurde mit Wolle gehandelt, es wurden Gewürze, Luxusgüter gehandelt, Venedig war da ein wichtiger Umschlagplatz."
    Und auch die religionshistorische Beziehungsgeschichte im Mittelmeerraum widerspricht einer strikten Trennung einer westlichen und einer östlichen Sphäre: 1492 ergeht in Spanien das königliche Dekret an die Juden, sich entweder zu taufen oder das Land zu verlassen. 50.000 entscheiden sich für die Scheintaufe, fünf mal so viele ziehen die Verbannung vor. Die meisten von ihnen zog es in den östlichen Mittelmeerraum.
    Markus Koller: "Einerseits haben wir eine große Zuwanderung ab 1492 dem Ende der Reconquista, von der iberischen Halbinsel in die osmanischen Gebiete, also die Zuwanderung der sephardischen Juden, die sich in Izmir, Istanbul und Thessaloniki ansiedelten, und dort eine der größten jüdischen Gemeinden in ganz Europa etablierten."
    Auch in Saloniki erweisen sich die sephardischen Juden in ihrer diasporischen Lebensform als besonders geschickt darin, schnell ein Netz aus Handelsbeziehungen zu knüpfen. Von den Händlern des berühmten orientalischen Tabaks bis hin zu den einfachen Hafenarbeitern ist Saloniki jüdisch geprägt. Die Juden bilden nun unter den Türken, Griechen, Albanern und Bulgaren bis ins 20. Jahrhundert die Bevölkerungsmehrheit – ein Sonderfall in der gesamten Geschichte der jüdischen Diaspora.
    Saloniki, über Jahrhunderte eine jüdische Stadt, wurde nach dem Ersten Weltkrieg griechisch. Und auch für jene Griechen, die im Zuge des so genannten Bevölkerungsaustauschs nach dem Lausanner-Vertrag von 1922/23 ihre angestammte Heimat in Kleinasien verlassen mussten, hatte der Aufstieg der nationalstaatlichen Ideologie dramatische Konsequenzen: Smyrna, wo in den 1920er-Jahren noch mehr Griechen lebten als in Athen, wird türkisch.
    Präsent ist hier die "kleinasiatische Katastrophe": 700.000 griechische und armenische Flüchtlinge, die vor dem Anrücken der türkischen Truppen und dem Feuer, das sie in Smyrna legten, im Hafen Zuflucht suchten. Rettung wäre möglich gewesen. Doch die vor Anker liegenden britischen, französischen, italienischen und amerikanischen Kriegsschiffe waren alle nur darauf bedacht, die Interessen ihres jeweiligen Heimatlandes zu schützen, eine "Neutralität", die die Soldaten unerbittlich machte: An Bord der britischen Kriegsschiffe ließ man während des Essens in der Offiziersmesse schwungvolle Seemannslieder spielen, um die schrecklichen Schreie zu übertönen, die von den Verbrennenden der Kais wie den Ertrinkenden im Hafenbecken herüberdrangen.
    Buchtipp:
    Anthologie Franck Hofmann, Markus Messling (Herausgeber): "Leeres Zentrum. Das Mittelmeer und die literarische Moderne",
    Kulturverlag Kadmons Berlin, 2015, ISBN: 978-3-86599-261-1, Preis: 29,80 Euro - Die Autoren dieses Buches reflektieren das Mittelmeer als zentralen Bezugspunkt der europäischen Kultur im Moment der radikalen Krise, die im Zeichen forcierter Modernisierungen, des Kolonialismus und der Kriege der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts aufbricht.
    Markus Messling: "Ein Autor, der für uns auch im Zusammenhang mit dieser Anthologie "Leeres Zentrum" sehr wichtig geworden ist, ist Seferis, ein griechischer Autor, der eigentlich aus Kleinasien stammt, der Westtürkei, aus Izmir, und dort in der so genannten griechischen Katastrophe 1922, als unter Atatürk die türkische Republik gründet und auch als Gewaltakt gründet, nichttürkische Bevölkerungsteile von sich spaltet, fliehen muss. In Izmir brennen viele griechische Häuser, und auch die Familie von Seferis muss fliehen."
    > Hören Sie hier einen nicht gesendeten Auszug aus dem Buch "Ionische Reise" von Giorgos Seferis
    Transkription des Textes:
    Kiefernwald, die Grillen, die Luft angefüllt mit Harzduft, ein Wind vom Meer. Dann das Meer selbst. Danach Smyrna: vertraute Luft, ein vertrauter ländlicher Stil und der Duft der Kräuter. Dann tritt dir ganz allmählich, von innen her, die in der Erinnerung so bekannte, jetzt so unbekannte Stadt ins Bewusstsein – mein Gott, was mache ich nur. Ich drehte eine Runde, ging auf der Hafenmole bis zum Leuchtturm; gewiss jetzt sieht sie wie mit Salz besprenkelt aus. Hier habe ich, als ich noch ganz klein war, zum ersten Mal einen Schiffskompass gesehen, ein Überbleibsel eines Segelschiffs, das mein Großvater einmal besaß. Die Einheimischen werden eine ganze Weile brauchen, um sich an das Meer zu gewöhnen. Sie haben es, und es hat den Anschein, als wüssten sie nicht, was sie damit anfangen sollen. Die kleinen Häfen, die die Griechen hinterlassen haben, verwaist. Am Ende der Mole habe ich mich plötzlich zu den Häusern umgedreht, die mich ansahen wie kranke Tiere. Wir befanden uns auf dem Weg, der parallel zur Hafenmole verläuft und den Garten meiner Großmutter vom hinteren Teil unseres Hauses trennt. Der Ort war das Innere einer Kugel, und die Dinge, eingeschlossen in dieser Kugel wie ich selbst, wurden immer kleiner, schmaler und schrumpften, bis sie nur noch ein zerknittertes Modell waren des Vergangenen, liegengeblieben in einem Regal. Schließlich unser Sommer-Häuschen. Die Fensterläden im Obergeschoss morsch, die Mauer leprös, die schmiedeeiserne Tür ganz verrostet. In Athen habe ich immer noch den Schlüssel dazu.
    Das Mittelmeer – Brennglas Europas
    Manuel Borutta (Ruhr-Universität Bochum, Fakultät für Geschichtswissenschaft): "In gewisser Weise hat der Norden ein paradoxes Verhältnis zum Süden. Er will das mediterrane Laissez-faire und dolce farniente. Wenn Menschen aus dem Norden dort Urlaub machen, wollen sie auch, dass sich da möglichst nichts ändert. Es soll keine Industrie am Mittelmeer geben, das sollen möglichst alles beschauliche Fischerdörfer sein, in denen noch von Hand gefischt wird, alle Zeichen von Modernität werden ehr als störend empfunden. Und gleichzeitig wirft man dem Süden genau das vor in ökonomischer Hinsicht: Ihr kriegt es nicht hin, seid in euren alten Mustern befangen."
    Insofern ist der Mittelmeerraum eine Region, in der Globalisierung auf kleinem Raum schon stattgefunden hat, eine Vermischung zwischen Europa, Afrika und Asien, auch weiterhin dort stattfindet, also muss man den Mittelmeerraum gar nicht so sehr im Gegensatz zu Prozessen der Globalisierung sehen, sondern er ist ein Raum, in dem sich diese Prozesse schon vorher abgespielt haben, überlagert haben mit immer neuen Verbindungen.
    Guiseppe Ungaretti - "Verdammnis" (Mariano, 29. Juni 1916):
    Eingeschlossen zwischen sterbliche Dinge
    (Auch der gestirnte Himmel wird enden)
    Warum giere ich nach Gott?
    Literaturtipps
    • David Abulafia: "Das Mittelmeer. Eine Biographie"
    • Fernand Braudel: "Das Mittelmeer und die mediterrane Welt in der Epoche Philipps II"
    • Manuel Borutta: "Mediterrane Verflechtungen. Frankreich und Algerien zwischen Kolonisierung und Dekolonisierung"
    • Wolf Leppeniees: "Die Macht am Mittelmeer"
    • Amin Maalouf: "Die Häfen der Levante"
    • Andrea Do Nicola, Giampaolo Musumeci: "Bekenntnisse eines Menschenhändlers. Das Milliardengeschäft mit den Flüchtlingen"
    • John Freely: "Zurück nach Ithaka. Auf Odysseus Spuren durch das Mittelmeer"
    • Miguel Szymanski: "Ende der Fiesta. Südeuropas verlorene Jugend"
    • Albert Camus: "Der erste Mensch"
    • Kamel Daoud: "Der Fall Meursault - eine Gegendarstellung"
    • Petros Markaris: "Wiederholungstäter"
    • Gaziel: "Nach Saloniki und Serbien. Eine Reise in den Ersten Weltkrieg"
    • Predrag Mattvejevic: Der Merdidian. Raum und Zeit"
    • Ulrich Ladurner: "Lampedusa- Große Geschichte einer kleinen Insel"
    • Homer: "Odyssee", Penguin / Manesse
    • Leonardo Sciascia: "Mein Sizilien"
    • Mihran Dabag (Hg.): "Handbuch der Mediterranistik. Systematische Mittelmeerforschung und disziplinäre Zugänge"
    Produktion dieser Langen Nacht:
    Autor: Dr. Manuel Gogos, Redaktion: Dr. Monika Künzel, Regie: Claudia Mützelfeldt, Sprecher/-innen: Matthias Ponnier (Erzähler), Volker Risch (Zitator I), Franz Laake (Zitator II), Nicole Engeln (Zitatorin), Webvideo- und Webproduktion: Jörg Stroisch
    Über den Autor Manuel Gogos:
    Dr. Manuel Gogos ist freier Autor und Ausstellungsmacher. Seine Arbeiten bewegen sich zwischen wissenschaftlicher Essayistik, Hörbildern und Bildsprachen. Für seine Lange Nacht über das Mittelmeer hat er als Sohn eines griechischen Gastarbeiters auch ein biographisches Motiv. http://www.geistige-gastarbeit.de