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Eine Millionenstadt ohne Klärwerk

Moderne Kläranlagen sind in Europa inzwischen Standard - möchte man jedenfalls meinen. Doch dem ist keineswegs so. Trotz einer Richtlinie der Europäischen Union von 1991, die alle Städte mit mehr als 15.000 Einwohner verpflichtete, ihre Abwässer zu reinigen, gibt es immer noch zwei Großstädte, die gegen diese Verpflichtung verstoßen - obwohl es eine Übergangsfrist bis zum 31. Dezember 1998 gab, um die notwendigen Maßnahmen einzuleiten. Seit vier Jahren ist diese Frist abgelaufen. Und seit vier Jahren verstoßen Italien und Belgien gegen diese EU-Richtlinie. Zum einen - peinlicherweise - der Sitz der EU-Kommission, die belgische Hauptstadt Brüssel, zum anderen die zweitgrößte Stadt Italiens Mailand. Die Stadt Brüssel hat vor kurzem zumindest teilweise mit der Abwasserreinigung begonnen; in Mailand aber ist der Bau von drei Kläranlagen lediglich geplant und bis auf den heutigen Tag fließt der Schmutz der Millionenstadt ungeklärt in die Flüsse. Und die meisten Bewohner wissen das noch nicht einmal.

Von Kirstin Hausen |
    Angesprochen auf das Fehlen einer Kläranlage, wissen viele Mailänder gar nicht, wovon die Rede ist. Die meisten reagieren schockiert auf die Nachricht. Sie haben es als selbstverständlich angenommen, dass eine Millionenstadt wie Mailand ihre Abwässer nicht ungesäubert in die Flüsse leitet. Aber genau das ist der Fall. Jeden Tag fließen 860.000 Kubikmeter Schmutzwasser durch die Mailänder Kanalisation in den Fluss Lambro. Vom Lambro in den Fluss Po, vom Po in die Adria. Die Einwohner des Mailänder Stadtteils Lambrate sind die ersten, denen der faulige Geruch des Wassers in die Nase steigt.

    Cattivo, sopratutto quando piove, nel inverno, proprio cattivo.

    Sehr unangenehm, bestätigt Erika und schüttelt sich. Nichtsdestotrotz geht die Schülerin oft im Parco Lambro, dem Stadtpark, durch den der Fluss fließt, spazieren. Er ist eine der wenigen Grünflächen in Mailand. Gar keine Ausweichmöglichkeit haben die Bewohner der kleinen Orte, die südlich von Mailand direkt am Fluss liegen. Hier ist das Thema Kläranlage im Gegensatz zu Mailand in aller Munde:

    Sehr wütend sind die Leute hier, weil ohne eine Kläranlage das Wasser verschmutzt wird und Umweltschäden wie die explosionsartige Vermehrung von Algen usw. entstehen. Darüber bin ich auf dem laufenden.

    Die Wut der Menschen hier ist die gleiche wie vor 30 Jahren. 1973 protestierten die Anwohner des Lambro gegen den Gestank und den Dreck in ihrem Fluss. Sie demonstrierten, blockierten Straßen und erzwangen so den ersten Schritt in Richtung Kläranlage. Die damalige Stadtverwaltung von Mailand beschloss den Bau von zwei Anlagen und wählte die Standorte aus. Danach passierte sieben Jahre lang nichts. Das Geld für den Bau wurde erst im Jahre 1980 zur Verfügung gestellt.

    Die nächsten 10 Jahre werden Konstruktionspläne entworfen und verworfen, die zu erwartenden Baukosten steigen von Jahr zu Jahr. Und dann, als endlich mit dem Bau begonnen wird, schlägt die Stunde von Tangentopoli. Mailänder Staatsanwälte decken einen Korruptionsskandal nach dem anderen auf, auch im Fall Kläranlage. Die Region Lombardei und das Umweltministerium stoppen den Bau. Das ganze Projekt wird von einem Komitee internationaler Techniker geprüft, die Kostenkalkulation halbiert. Und dann passiert wieder 10 Jahre nichts. Im Januar 2000 zeigt die Europäische Kommission Italien vor dem Strafgerichtshof in Straßburg an, im April 2002 kommt das Urteil: Italien verstößt klar gegen EU-Recht. Damit ist der Weg offen zu einem Bußgeldverfahren gegen Italien, das bis heute aber noch nicht eingeleitet worden ist. Auf dem Spiel stehen Millionen von Euro. Bisher zahlt Griechenland als einziges Land der EU für Umweltsünden Strafe: 7 Millionen und 300 Tausend Euro jährlich:

    Eine Geldstrafe rüttelt vielleicht wach, kommentiert die Mailänderin Arianna Gira resigniert.

    Der Meinung sind viele. Auch Andrea Poggio, Präsident der Umweltschutzorganisation Legamabiente Lombardia. Er hat in seinem Büro in Mailand aktenordnerweise Material zum Thema Kläranlage. Briefe an die Stadverwaltung, Sachgutachten, Informationskampagnen und Protestaktionen – gebracht hat das alles wenig. Deshalb greift Poggio jetzt zu einem anderen Mittel. Er plant eine Klage auf Schadenersatz für den erlittenen Umweltschaden:

    Wir wollten eine Möglichkeit, die das Italienische Recht bietet, nutzen, nämlich den Fall eines Umweltschadens. Dieser Schaden kann von öffentlicher Stelle, also von Stadt- und Gemeindeverwaltungen, den Regionen oder dem italienischen Staat, angezeigt werden. Das Gesetz wurde bisher nur gegen private Unternehmen angewendet, es wurde noch nie gegen eine öffentliche Verwaltung benutzt.

    Als Kläger fungieren mehrere Gemeinden entlang der Flüsse Lambro und Po, die sich auf die Initiative von Legamabiente hin zusammengetan haben. Die Umweltschutzorganisation stellt mit ihrer Rechtsabteilung das notwendige Fachwissen in Umweltgesetzgebung zur Verfügung und vermittelt auch zwischen den Gemeinden und der jeweiligen Interessen:

    Bis heute haben wir ca. 25 Stadt- und Provinzverwaltungen für die Sache gewinnen können, wir hoffen, es werden noch mehr. Wir planen, die Klage gegen die Stadt Mailand in den nächsten Monaten einzureichen, gemeinsam mit wichtigen technischen Gutachten.

    Der Mailänder Bürgermeister Gabriele Albertini gibt sich unbeeindruckt. Bis es zur Klage kommt, sei die erste der drei geplanten Kläranlagen zumindest teilweise in Betrieb. Aber auch das wäre nur ein kleiner Schritt, nämlich die Klärung von einem Achtel des Mailänder Abwassers. Der Abschluss des 30 Jahre alten Projektes "Abwasserreinigung" ist für frühestens 2006 angesetzt. Bis alle drei Anlagen gebaut und in Betrieb genommen sind, wird also noch viel Wasser den Lambro hinunter fließen - und zwar ungeklärt.