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Eine moralische Autorität

Bei der Niederschlagung des Aufstands im Warschauer Getto 1943 entkam einer der Kommandeure der jüdischen Kämpfer, Marek Edelman. Nach dem Krieg lebte er als Arzt in Polen - und gehörte zu den Gründern der Gewerkschaft Solidarnosc.

Von Johanna Herzing |
    Eine Freundin hatte Marek Edelman erzählt, dass in New Orleans Beerdigungen stets von den schrillen Klängen einer Jazz-Band begleitet würden. Das gefiel ihm so gut, dass er sich für sein eigenes Begräbnis das gleiche Geleit wünschte. Als Marek Edelman, der letzte Anführer des Warschauer Getto-Aufstands, im Oktober 2009 zu Grabe getragen wurde, folgten den Musikern rund 2.000 Menschen zum Jüdischen Friedhof in Warschau. Edelman war in Polen eine moralische Autorität. Den Heldenstatus wies er aber stets energisch von sich. Edelman war sarkastisch, streitlustig und unangepasst. Kein Erbarmen kannte er mit Journalisten, die ihn insbesondere in der – Zitat: "alljährlichen Hochphase" -, also in der Zeit um den Jahrestag des Getto-Aufstands belagerten. Krzysztof Burnetko, einer der zwei Biografen:

    "Bis zum Ende seines Lebens fürchteten wir uns angesichts seines Hauses in der Zelwerowicza Straße in Łódź. Wir mussten uns jedes Mal lange überlegen, wer jetzt die Klingel drückt, denn Dr. Edelman war ziemlich aufbrausend und scharfzüngig, wenn ihm etwas nicht gefiel. Er sagte alles stets gerade heraus. Und wir hatten tatsächlich große Angst, ihm welche Frage auch immer zu stellen."
    Besonders heikel waren Themen wie etwa das Leben im Getto. Wobei Edelman das Unverständnis der Nachgeborenen für die banale Logik des Hungers in Rage bringen konnte. So auch die Frage, ob die Menschen aus dem Warschauer Ghetto tatsächlich der Nazipropaganda glaubten und in die Züge nach Treblinka stiegen, weil man ihnen Brot und Marmelade versprach. Krzysztof Burnetko:

    "Er begann, uns anzuschreien: Es ginge hier schließlich nicht darum, ob man diese Lügen geglaubt hätte, sondern darum, dass die Menschen hungrig waren und alles geglaubt hätten, um einen halben Laib Brot und etwas Marmelade zu bekommen. Dann schickte er uns feiste Journalisten, die sich an Schinken ergötzen und nicht wissen, was Hungern bedeutet, raus. Er verfiel eine Weile in Schweigen und sagte dann, dass es ihm sehr leid täte: Aber in den 20 Jahren, die er mit uns rede, hätten wir überhaupt nichts verstanden."
    Edelmans Lebensthema und seine Lebensaufgabe war es, die Erinnerung wachzuhalten, an die Opfer des Holocaust, an die Freunde, die er durch die Nazis verlor.

    "Als er diese achtzehn-, neunzehn-, zwanzigjährigen Jungen und Mädchen – er selbst war nicht viel älter - im Getto-Aufstand anführte, hat er für sie Verantwortung übernommen. Dass er ein Anführer war, war reiner Zufall; eigentlich hätte das jemand anderes machen sollen, aber es kam eben so. Als diese Jungen und Mädchen dann starben, fühlte sich Edelman weiterhin für sie verantwortlich. Und so blieb er in Polen, trotz der antisemitischen Kampagne zu Zeiten der Volksrepublik und auch als seine Familie emigrierte. Das war Ausdruck seines Verantwortungsbewusstseins."
    Entsprechend der Bedeutung, die Edelman selbst diesem Lebensabschnitt beimaß, erscheint es gerechtfertigt, dass etwa die Hälfte der Biografie den Kriegsjahren gewidmet ist. Besonders die in Osteuropa verbreitete jüdisch-sozialistische Organisation, der "Bund" hat Marek Edelman geprägt. Darüber erfährt der Leser viel. Auch das Leben im Warschauer Ghetto und die Formierung des jüdischen Widerstands in der Kampforganisation ŻOB wird detailliert aufbereitet. Damit reichern die Autoren die persönlichen Erinnerungen Edelmans an und ergänzen das bereits 1977 erschienene Buch von Hanna Krall über Marek Edelman. "Dem Herrgott zuvorkommen" heißt Kralls Reportagensammlung und viele der Schilderungen sind mittlerweile zu wahren Legenden geworden. Wie beispielsweise diese, die Edelman beständig wiederholte:

    Auf der Zelazna hatten zwei Deutsche einen alten Juden auf ein Fass gestellt. Mit großen Scheren begannen sie, ihm den Bart zu stutzen. Ringsherum stand eine kleine Menschenschar, die dem Spektakel belustigt zuschaute. Viele lachten. Dieser Mann auf dem Fass war der schlimmsten Erniedrigung ausgesetzt, schlimmer als Peitschenhiebe. Als ich das sah, beschloss ich, mich nie im Leben auf ein Fass stellen zu lassen.
    Doch Marek Edelmans Biografie erschöpft sich nicht in der Geschichte seines Überlebens im Warschauer Ghetto und seiner Vergangenheit als Anführer des Aufstands von 1943. Und so bleibt der Nachkriegsgeneration zu bestaunen, wie Edelman sich trotz der antisemitischen Hetzkampagne, die das kommunistische Regime 1968 startet, zum angesehenen Herzchirurgen emporarbeitet. Wie er zu einem führenden Mitglied der Solidarność wird und sich auch nach 1989 politisch engagiert. Ob im Israel-Palästina-Konflikt, im Tschetschenien- oder im Kosovo-Krieg, Edelman mischte sich stets ein, schrieb Petitionen, begleitete Hilfskonvois. Diesem Leben eine Biografie zu widmen, war überfällig. Der Informationsrahmen, in den die beiden Biografen das Erzählte einbetten, ist leider teilweise etwas zu detailversessen. Bestimmte Passagen sind für den deutschen Leser nur schwer zugänglich, da sie zu viele Vorkenntnisse in Bezug auf die polnische Geschichte vorausetzen. Das können auch die Fußnoten und das Personenregister nicht ganz auffangen. Zudem, und das zählt zu den bedauerlichsten Mängeln dieser Biografie, ist die Übersetzung aus dem Polnischen zum Teil nicht nur leidlich, sondern gar inakzeptabel. Da ist von "Aussiedlung" die Rede, wenn es um "Deportationen" geht; entsprechend sind Juden, die ins Getto gepfercht werden, "Aussiedler". Dieses Buch ist zweifelsohne ein wichtiges Buch und insbesondere für Edelman-Apologeten eine Fundgrube. Dem weniger passionierten und zähen Leser, dem es vor allem um einen Eindruck von der Person Marek Edelman geht, möchte man aber doch eher Hanna Kralls Buch ans Herz legen.

    Witold Beresch und Krzysztof Burnetko: Marek Edelman erzählt. Das Buch ist im Parthas Verlag erschienen. 420 Seiten kosten 24 Euro. Unsere Rezensentin war Johanna Herzing (ISBN: 978 - 3869640129).