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Eine Stunde Verspätung

Umwelt. - Auf dem Potsdamer Telegrafenberg stehen nicht nur zahlreiche Forschungszentren, sondern hier wird in der "Säkularstation Potsdam" auch das Wetter minutiös aufgezeichnet. Beim Studium der Daten stießen Meteorologen auf einen beunruhigenden Effekt, denn das tägliche Temperaturmaximum verspätet sich zunehmend.

Von Volker Mrasek | 10.10.2006
    "Das ist für die Klimatologie ungeheuer wertvoll. Das ist ein Schatz, den es sonst nirgendwo gibt."

    So beschreibt Friedrich-Wilhelm Gerstengarbe die Messreihen der so genannten Säkularstation auf dem Telegrafenberg in Potsdam. Seit fast 113 Jahren wird hier akribisch und - vor allem - ununterbrochen das Wetter protokolliert:

    "Und zwar eine ganze Bandbreite von meteorologischen Größen. Von der Temperatur bis zur Bedeckung, Wind und Luftdruck - alles, was Sie sich vorstellen können. Und das zu jeder vollen Stunde."

    Gerstengarbe forscht gleich nebenan, im Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung. Die Arbeitsgruppe des Meteorologen erkannte ihre Chance. Mit stündlichen Messwerten über einen derart langen Zeitraum könnte man einer - nicht so uninteressanten Frage - nachgehen: Ändert sich durch den Klimawandel vielleicht auch der Tagesgang der Temperaturen? Bisher konzentriert sich die Wissenschaft eher auf Jahres-, Monats- oder allenfalls Tages-Mittelwerte:

    "Genau das haben wir untersucht. Und haben dann verblüfft festgestellt: Hoppla, da ist tatsächlich Einiges an Veränderungen drin. Da es ja wärmer wird, könnte es sein, dass der Tagesgang einfach bloß vom Niveau her ein bisschen angehoben wird. Aber ganz so ist es nicht. Er hat auch seine Form verändert. Wir haben noch gelernt: Die Maximaltemperatur am Tag ist gegen 14 Uhr, zwei Stunden nach Sonnenhöchststand. Das hat sich schon verschoben um eine Stunde nach hinten, wenn Sie so wollen. Wir haben also das Temperaturmaximum jetzt um 15 Uhr."

    Dieser Befund ist nicht bloß von akademischem Interesse. Die eine Stunde Verspätung im Tagesgang habe durchaus praktische Konsequenzen für die Gesellschaft, sagt der Potsdamer Forscher:

    "Man muss sich dann auch mal überlegen, wenn so etwas kommt und dann auch noch Hitzeperioden, ob man dann zu den Zeiten überhaupt noch sinnvoll arbeitet."

    Nicht umsonst gebe es in den Ländern Südeuropas die Siesta, die Arbeitspause während der größten Tageshitze.

    "Dann fängt man zum Beispiel früher an zu arbeiten. Das wäre ja auch eine Möglichkeit. Also, solche Überlegungen kommen in den nächsten Jahren mit Sicherheit. Und besonders in Ballungsräumen. Wenn Sie in einer Großstadt sind oder in einem Ballungsraum, dann macht sich das besonders bemerkbar."

    Ein anderes Ergebnis der Daten-Analyse hat die Potsdamer Klimaforscher noch stärker aufgerüttelt. Sie haben sich nicht nur die täglichen Höchstwerte angeschaut, sondern auch, wie lange die Tageshitze heutzutage anhält. Stichwort: Rekordsommer 2003. Da war es nicht nur tagsüber drückend warm, sondern auch noch in den Abendstunden:

    "Was ein Sommertag ist, ist bekannt. Wir müssen einmal am Tag die Temperatur über 25 Grad haben. Die Frage war: Wie lange halten denn die 25 Grad am Tag an? Haben wir um 17 Uhr noch 25? Um 18 Uhr? Oder vielleicht sogar noch später? Und das Ergebnis war: Anfang des Jahrhunderts, also so um 1900, 1920, da war um 21 Uhr Schluss mit 25 Grad. Jetzt ist das nachts um eins."

    Die Potsdamer Messreihe bestätigt damit, dass der Hitzestress für die Bevölkerung bereits deutlich zugenommen hat. Biometeorologen wissen heute, dass es nicht so sehr gestiegene Tagestemperaturen sind, die den Menschen in einem Sommer wie 2003 zu schaffen machen, sondern eher die anhaltende Wärme in den Nachtstunden. Sie führt dazu, dass sich der Körper nicht mehr vom Thermo-Stress am Tag erholt. Gerstengarbe und seine Kollegen haben zwar nur die Daten aus Potsdam und damit gerade mal von einer einzigen Station. Doch die sei - Zitat - äußerst repräsentativ. Dass der Klimawandel auch den Tagesgang der Temperaturen stark verändert, das gelte im Prinzip für ganz Mitteleuropa.