Einklagbare Rechte für Europas Bürger

Auf dem EU-Gipfel von Nizza 2000 wurde die Grundrechte-Charta proklamiert. Erst mit der Ratifizierung der EU-Verfassung durch alle Mitgliedsstaaten wird sie geltendes Recht. In der Charta enthalten sind neben Menschen- und Freiheitsrechten auch Gleichheits- und soziale Grundrechte. Für die Praxis bedeutet das unter anderem: Die Bürger der Europäischen Union können künftig ihre Rechte beim Europäischen Gerichtshof in Luxemburg einklagen. Ruth Reichstein berichtet aus Brüssel.

    " Ich denke, es ist sehr wichtig, dass es in diesem Vertrag eine Charta gibt, die endlich die Rechte zusammen fasst, die viele Bürger schon jetzt in ihren eigenen Ländern haben, aber die bisher noch nicht auf europäischem Niveau gültig waren. Das wird dem Europäischen Gerichtshof ermöglichen, sich bei seinen Entscheidungen auf die Charta zu berufen. Über Präzedenzfälle können also die Bürgerrechte europäische Gesetzgebung werden. "

    Für John Palmer, Direktor des Brüsseler Think Tanks European Policy Center beinhaltet die Grundrechte-Charta zahlreiche Vorteile für die Europäischen Bürger. Sie könnten sich nämlich in Zukunft – wird die EU- Verfassung ratifiziert - auf die in dem Vertrag festgeschriebenen Rechte berufen und - falls notwendig – damit auch vor den Europäischen Gerichtshof in Luxemburg ziehen. Und das wäre eine perfekte Ergänzung zur schon bestehenden Menschenrechtskonvention, erklärt Dick Wstang, Direktor des Europa-Büros von Amnesty International:

    " Mit der Verfassung wird die Grundrechte-Charta bindend für die Mitgliedstaaten und vor allem für die Europäische Union an sich. Das war bisher nicht der Fall. Gegen EU-Politik konnte man beim bestehenden Europäischen Menschenrechtsgerichtshof nicht vorgehen, weil die EU keine Rechtspersönlichkeit hatte. Das war ein großes Problem. "

    Das würde mit der Verfassung anders werden. Auch die Kommission müsste sich in Zukunft für ihre Politik verantworten. Ein anderes Beispiel sind die Rechte der Arbeitnehmer. Gérard Fontenau von der Europäischen Vereinigung der Gewerkschaften:

    " Diese Artikel kann man zum Beispiel gegen Diskriminierung bei Einstellungsverfahren anwenden. Oft werden Bewerber mit ausländischen Wurzeln benachteiligt, obwohl sie die Nationalität des Staates und die gleichen Qualifikationen wie ihre Mitbewerber haben. Damit könnten sie dann also vor den Europäischen Gerichtshof in Luxemburg ziehen. Das gilt auch für die Benachteiligung von Frauen bei der Vergabe von höheren Posten oder der Bezahlung. "

    Und bereits jetzt gibt es Beispiele für solche Fälle, sagt Gewerkschaftler Fontenau:

    " Schon nach der Verabschiedung der Charta in Nizza hat der Europäische Gerichtshof in Luxemburg erklärt, dass er die Charta bei seinen Entscheidungen berücksichtigen wird und einige Monate später gab es tatsächlich eine Klage eines britischen Arbeitnehmers, dem man verweigert hat, Urlaub zu bezahlen. Er hat sich beschwert und der EU-Gerichtshof hat ihm recht gegeben mit Bezug auf die Charta. "

    Über die Möglichkeiten des einzelnen Bürgers hinaus sieht Politikwissenschaftler John Palmer aber auch eine politische Bedeutung der Charta:

    " Diese Charta gibt so wohl den europäischen Bürgern als auch der übrigen Welt ein klares Signal, dass die Europäische Union nicht einfach nur ein Handelsplatz oder eine wirtschaftliche Gemeinschaft ist, sondern auch eine Wertegesellschaft, in der alle Bürger die gleichen Rechte haben. "

    Für Palmer ist es deshalb unbedingt notwendig, die Verfassung und damit auch die Grundrechte-Charta zu ratifizieren.

    " Wenn wir die Charta nicht bekommen, dann werden wir im Bereich der Bürgerrechte sicherlich nicht die Fortschritte machen, die dem 21. Jahrhundert angemessen wären. "