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Elazar Barkan: Völker klagen an. Eine neue internationale Moral

Am 3. April dieses Jahres blies die israelische Armee zum Angriff auf das palästinensische Flüchtlingslager von Jenin. Erklärtes Ziel dieser Offensive war die Festnahme oder Exekution militanter Palästinenser, die von den Israelis für Selbstmordanschläge verantwortlich gemacht wurden. Als acht Tage später die Waffen endlich schwiegen, bot das Lager ein apokalyptisches Bild des Schreckens. Offensichtlich war, dass es viele Tote gegeben hatte, aber niemand konnte sagen, wie viele. Die israelische Armee hatte das Schlachtfeld hermetisch abgeschirmt und verwehrte noch zwei Tage nach dem Angriff nicht nur der Presse, sondern sogar den Vertretern vom Internationalen Roten Kreuz den Zugang. Die Vorwürfe wurden immer lauter, dass es in Jenin ein Kriegsverbrechen, ein Massaker an der palästinensischen Bevölkerung, gegeben habe. Der UN-Sicherheitsrat beschloss mit Zustimmung der USA eine internationale Untersuchungskommission, doch Israel hintertrieb deren Arbeit und machte eine Aufklärung unmöglich. Daraufhin wurden nicht etwa Sanktionen angedroht, der Sicherheitsrat legte seinen einstimmigen Beschluss resigniert zu den Akten und beschäftigte sich mit anderen Themen. Solche Vorgänge machen skeptisch gegenüber der Rede von einer "neue(n) internationale(n) Moral". Dennoch glaubt der amerikanische Historiker Elazar Barkan Anlass zu Optimismus zu haben. "Völker klagen an" ist sein Werk überschrieben, in dem er untersucht, was es mit der neuerdings so oft zitierten neuen Moral in den internationalen Beziehungen auf sich hat.

Hans Martin Lohmann |
    Der aktuell ausgetragene Streit darüber, ob Befehlshaber und Soldaten der US-Streitkräfte sich im Zweifels- und Ernstfall vor dem internationalen Strafgerichtshof zu verantworten haben, sofern ihnen bei ihren Einsätzen Menschenrechtsverletzungen nachgewiesen werden können, verweist nach Ansicht vieler Beobachter auf eine neue Qualität der internationalen Beziehungen: Die Welt schaut nicht mehr gleichgültig zu oder weg, wenn im Rahmen zwischenstaatlicher, innerstaatlicher oder transnationaler militärischer Konflikte elementare Menschenrechte in Mitleidenschaft gezogen werden. So wenig der ehemalige serbische Diktator und Kriegsverbrecher Slobodan Milošević ungeschoren davonkommt, so wenig dürfen im Prinzip amerikanische Bürger darauf hoffen, in vergleichbaren Fällen geschont zu werden (auch wenn die Realität gegenwärtig anders aussieht). Es geht um Schuld, um Schuldanerkenntnis und um angemessene Sühne.

    Um das Thema Schuld und Sühne, Verbrechen und Wiedergutmachung, historisches Unrecht und Entschädigung kreist auch das Buch des amerikanischen Historikers Elazar Barkan. Auch Barkan konstatiert einen neuen Umgang der postnationalen Staatengemeinschaft mit kollektiv begangenem Unrecht gegenüber Gruppen und Ethnien und nennt das vorsichtig optimistisch "eine neue internationale Moral". Um diesen Wandel im moralischen Bewusstsein der Völker zu verdeutlichen, bezieht sich der Autor auf nicht weit zurückliegende Ereignisse der deutschen Geschichte:

    Der Versailler Vertrag von 1919 hat den Verlierern harte Bedingungen diktiert. In der öffentlichen Erinnerung haben die Kriegsentschädigungen, die Deutschland 1919 auferlegt worden waren, einen großen Anteil am Ausbruch des Zweiten Weltkrieges gehabt. Das Kalkül der Versailler Vertragsbedingungen wurde von Realpolitikern stark kritisiert und als Scheitern einer Politik der Rache wahrgenommen. Die Alliierten hatten aus dieser Erfahrung gelernt und haben 1945 Deutschland keine Reparationszahlungen auferlegt. Statt dessen übernahmen die Vereinigten Staaten die Bürde des Wiederaufbaus von Europa und Japan und initiierten den Marshallplan. Das bedeutete die Einführung eines neuen Faktors in die internationalen Beziehungen: Statt das moralische Recht zu beanspruchen, die Ressourcen des Feindes auszubeuten, so wie es bisher gehalten wurde, unterstützt der Sieger die zukünftige Versöhnung und hilft seinen besiegten Feinden, wieder auf die Beine zu kommen... In diesem Kontext des Verzichts auf Rache wurde das moderne Konzept der Entschädigungen geboren.

    Wahrscheinlich war es überhaupt nur so möglich, dass die 1948 bzw. 1949 neugegründeten Staaten Israel und Bundesrepublik Deutschland schon zu Beginn der fünfziger Jahre auf höchster politischer Ebene in erfolgreiche Verhandlungen darüber eintraten, in welcher Weise und Höhe die Deutschen den Juden Kompensationszahlungen leisten sollten. Die junge Bundesrepublik zahlte also nicht an die Kriegssieger, sondern an jene, die zwischen 1933 und 1945 unter den Deutschen am meisten zu leiden hatten. Dieses, wie immer wohlkalkulierte, freiwillige Schuldeingeständnis der Deutschen und die daraus resultierenden materiellen wie moralischen Verpflichtungen gegenüber den Juden und dem Staat Israel bildeten Barkan zufolge den Maßstab und das "Modell" für alle zukünftigen Forderungen nach Entschädigung: Verbrechen der Vergangenheit werden in Rechte und Ansprüche der Gegenwart transformiert.

    In den zwei Teilen seines Buches, deren einer sich mit den Vermächtnissen des Zweiten Weltkriegs beschäftigt, während es im anderen um die Erbschaft des Kolonialismus geht, beleuchtet der Autor sehr unterschiedliche Fälle von historischem Unrecht und Entschädigung. So rollt Barkan das hierzulande wohl eher unbekannte Schicksal der so genannten "Trostfrauen" auf, d.h. von zumeist koreanischen Frauen, die während des Zweiten Weltkriegs den japanischen Eroberern als Sexsklavinnen dienen mussten und dabei zum Teil schlimmsten Misshandlungen ausgesetzt waren. Barkan schreibt:

    Die von den Japanern verübten Kriegsgräuel sind im allgemeinen weniger bekannt als die der Deutschen. Zu den berüchtigtsten japanischen Kriegsverbrechen zählen Bombardierungen mit Giftgas in China, grausame medizinische Experimente mit Gefangenen, Massenhinrichtungen und brutale Zwangsarbeit in japanischen Bergwerken. In diesem Kontext wurden die 'Trostfrauen’ zum Symbol von Japans Weigerung, seine Schuld einzugestehen und Verantwortung für die verübten Kriegsverbrechen zu übernehmen.

    Es dauerte lange, ehe die japanische Gesellschaft bereit war, ihre historische Schuld in diesem Fall wenigstens ansatzweise zu bekennen, was auch damit zu tun haben mag, dass die überlebenden Opfer von Zwangsprostitution ihre "Schande" vielfach verschwiegen und dass die Opfer von Sexualverbrechen traditionell als mitschuldig betrachtet werden. Erst in den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts kam es zu japanisch-koreanischen Verhandlungen und zu einem vorsichtigen und ambivalenten Schuldeingeständnis Japans. Mehr noch als die Deutschen nach dem Krieg (wegen Hamburg und Dresden und der Vertreibung aus den ehemals deutschen Ostgebieten) fühlen sich die Japaner wegen Hiroshima und Nagasaki in erster Linie als Opfer und nicht als Täter.

    So unterschiedlich die historischen Beispiele für Unrecht und seine Kompensation auch sein mögen, die Barkan anführt, so sehr scheinen sie einem einheitlichen Trend, nämlich einem laut Autor "wachsenden moralischen Trend", zu unterliegen: Liberale Gesellschaften neigen offenbar dazu, ihre Gerechtigkeitsvorstellungen und ihre Sensibilität für eigene Schuld, auch wenn diese in der Vergangenheit liegt, auf die Gegenwart zu übertragen. Mitgefühl mit den Opfern der Vergangenheit gehört in den Demokratien des Westens heute zum guten Ton – und ist nicht nur eine moralische Blüte politischer Korrektheit.

    Leider geht der Autor nur ganz beiläufig auf ein Phänomen ein, das, vor allem in den Vereinigten Staaten, inzwischen weitverbreitet ist und sich zunehmender Beliebtheit erfreut. Ich meine das in Mode gekommene Ausmaß, in welchem sich ethnische, religiöse, kulturelle oder sonst wie definierte Bevölkerungsgruppen, die sich gerne als "unterdrückte Minderheiten" bezeichnen, zu historischen Opfern stilisieren. Es scheint, als sei der Opferstatus – ob von Frauen, von Farbigen, von Schwulen oder Lesben – ein besonders erstrebenswerter Status, der zur Sicherung und Bestätigung der eigenen individuellen und Gruppenidentität beiträgt. Hier verkehrt sich die von Barkan thematisierte Problematik insofern in ihr Gegenteil, als es nicht mehr primär um die gesellschaftliche Anerkennung und Wiedergutmachung eines Unrechts geht, sondern viel mehr um die Erringung öffentlicher Aufmerksamkeit, einer bekanntlich knappen Ressource.

    Eins aber dürfte klar sein. Die von Barkan ausgemachte "neue internationale Moral" wird in keinem Falle verhindern, dass die so genannte Realpolitik irgendwelche moralischen Bedenken kennt, sobald ihr Vollzug auf der Tagesordnung steht. Barkans Moral tritt immer erst dann in ihr Recht, wenn, um mit Hegel zu sprechen, eine Gestalt des Lebens alt geworden ist.