Wolfram Hogrebe: In einem sehr weiten Sinne könnte man auch von Dienstleistung sprechen, und zwar Dienstleistung an der Reflexionskultur der Menschen. In diesem Sinne hat sich die Philosophie seit Sokrates verstanden. Man sollte das auch nicht überinterpretieren. Herr Lübbe hat soeben einen Vortrag heute hier gehalten und auch über das Bedürfnis der Religion in unserer Gegenwart gesprochen. Auch dort ist geltend gemacht worden, dass die Philosophie insofern formelles Gewissen einer Zeit ist, als sie abtastet, was zu sagen gerechtfertigt ist und was nicht.
Koldehoff: Formelles Gewissen einer Zeit, haben Sie gerade gesagt. Diese Zeit oder diese Zeiten werden ja nicht einfacher mit den Jahren. Im Gegenteil: Die Welt divergiert immer stärker in ihren Erklärungsmustern, in den Deutungsmustern, die man braucht, um sie zu verstehen. Spüren Sie denn so etwas wie ein steigendes Bedürfnis nach philosophischen Erklärungen dieser immer komplizierter werdenden Welt?
Hogrebe: Vielleicht sollte man den Anspruch an die Philosophie auch nicht zu hoch schrauben. Sie ist in dem Sinne, um Ihren Ausdruck wieder aufzugreifen, Dienstleister, indem sie hilft die Übersicht zu behalten, die Registraturen dieser sehr schnellen Zeit zu ordnen nach ihren gerechtfertigten Ansprüchen an uns und nach den ungerechtfertigten. Aber ein Beispiel, wo die Philosophie sicher hilfreich sein kann, ist der Dialog zwischen Orient und Okzident, speziell der Dialog mit der islamischen Welt. Was man hier berücksichtigen muss, ist, dass "beide Weltbilder" auf einer gemeinsamen Vergangenheit aufruhen, die philosophisch geprägt ist, nämlich auf der Philosophie von Platon, Aristoteles und Plotin. Das sind Bezugsgrößen, ebenso für das islamische Denken wie für das westliche Denken, und insofern kann die Philosophie ihren Beitrag leisten, um den Dialog mit der islamischen Welt auf ein Niveau zu heben, das über die Konfrontationshaltung, die heute leider sehr festgefroren ist, hinausgeht.
Koldehoff: Das heißt im Umkehrschluss, den Vorwurf des gedanklichen oder des kulturellen Imperialismus, wie er ja manchmal von Vertretern islamischer Kulturen erhoben wird, müssen sie sich als Philosoph nicht von Ihren Kollegen anhören?
Hogrebe: Gerade nicht. Ich war selbst Anfang des Jahres im Iran und habe dort mit Kollegen in Teheran, in Isfahan und in Shiraz gesprochen, speziell auch mit dem älteren Bruder des Staatschefs, Chamenei, und dieser ältere Bruder ist selber Philosoph. Und gerade mit ihm konnte ich ermitteln, dass ein großer Bedarf besteht an Austausch auf philosophischer Basis. Allerdings muss man anerkennen, dass, wenn man mit Vertretern des islamischen Denkens spricht, ihr spirituelles Bedürfnis anerkennt, und das ist auch eine Aufgabe, dass wir unsere anthropologischen Konzepte einmal auf den Prüfstand stellen müssen, denn zu diesen spirituellen Bedürfnissen hat die westliche Philosophie in den letzten Jahren, von Ausnahmen selbstverständlich abgesehen, nicht sehr viel gesagt.
Koldehoff: Die andere große, dialogische Störung, die unsere Gesellschaft zur Zeit beschäftigt, ist die in Richtung Westen, in Richtung USA. Da gibt es offensichtlich Missstimmungen. Ist so etwas Thema für Philosophen?
Hogrebe: Also, im tagespolitischen Sinne sicher nicht. Das sollte auch ein Philosoph nicht machen, denn er kann nicht besser informiert sein als jeder Zeitgenosse in solchen Fragen auch.
Koldehoff: Träger des kulturellen Programms Mensch, heißt es bei Ihnen in der Definition des Kongressthemas. Was könnte denn dazu führen aus Sicht eines Philosophen, dass dieses kulturelle Programm Mensch wieder stärker auf der Tagesordnung der Gesellschaft steht? Stärker als vielleicht die ganzen Konflikte und die Orientierungslosigkeit.
Hogrebe: Dieser Ausdruck, "kulturelles Programm Mensch", soll indizieren, dass wir die Zugehörigkeit vom Wesen zur Gattung Homo Sapiens nicht nur biologisch definieren dürfen. Der Ausdruck Homo Sapiens ist nicht nur ein Deskriptor für eine besondere Gruppe von Primaten. Das ist er im biologischen Sinne sicher, aber im philosophischen Sinne sind Organismen dieser Art zugleich in das Programm Mensch hineingestellt, und das ist ein Vernunftprogramm. Das ist sehr relevant für die ethischen Fragen, und Wolfgang Wieland, einer der bedeutensten Philosophen der Gegenwart, wird heute Abend dazu einen Vortrag halten, von dem wir sehr viel erwarten.
Koldehoff: Der Bonner Philosophie-Professor, Wolfgang Hogrebe, war das zum 19. deutschen Kongress für Philosophie.
Link: mehr ...
98.html