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Ende der Vorstellung. Die Poesie der Medien

Was haben eine Frau, ein Frosch und ein Fensterleder gemeinsam? Mit solchen Fragen fangen Witze an, die auf eine überraschende Ähnlichkeit zwischen verschiedenen Dingen aus sind. Damit wird ein alter Kern des Begriffs "Witz" aktiviert: Einen witzigen Intellekt hat laut John Locke derjenige, der Ähnlichkeiten nachspürt und Gemeinsamkeiten in der Verschiedenheit der Dinge entdeckt. Und Frauen, Frösche und Fensterleder haben – den Buchstaben F gemeinsam, was sonst, könnte die trockene Pointe lauten. Diese Entdeckung von Ähnlichkeiten zwischen völlig unterschiedlichen Objekten bereite dem menschlichen Gemüt Vergnügen, meint ein anderer britischer Denker des 18. Jahrhunderts: Edmund Burke. Und die Lektüre der Texte Jochen Hörischs belegt, dass er Recht hat.

Niels Werber |
    Denn in diesem überkommenen Sinn ist der Mannheimer Professor für Germanistik und Medienanalyse ein exemplarisch witziger Geist. Was haben die christliche Religion, der Kapitalismus und die Neuen Medien gemeinsam, lautet nämlich die Frage, die auch sein jüngstes Buch "Ende der Vorstellung. Die Poesie der Medien" ernsthaft stellt. Schon diese Fragestellung hat Witz, denn sie unterstellt Zusammenhänge und Übereinstimmungen in Bezirken, die zu trennen wir gewohnt sind. Eine der verblüffenden Antworten Hörischs ist folgende: runde Medien. Die Oblate sei das Medium der christlichen Eucharistie, das Geldstück das Medium der modernen Ökonomie und die CD-ROM das Medium unserer Epoche elektronischer audio-visueller Datenverarbeitung. Diese "kultischen Scheiben" Oblate, Münze, CD-ROM stehen exemplarisch und symbolisch für die drei großen, wie Hörisch sie nennt: "Leitmedien" unserer "christlich-abendländischen Kultur": Abendmahl, Geld und audiovisuelle Medien. Leitmedien heißen sie deshalb, weil sie in einer bestimmten historischen Epoche der Kultur den Rahmen vorgeben, in dem gleichsam das nackte Sein mit Sinn ausgestattet wird und umgekehrt der Sinn sozusagen Substanz erhält. In der Feier der Eucharistie, wenn sich der Wein in das Blut Christi und das Brot in seinen Leib verwandelt, wird diese Verbindung von Sinn und Sein augenfällig: unsere Existenz ist sinnvoll, weil Christus für uns am Kreuz gestorben ist:

    "Sichtbar ist die Transsubstantiation nicht, man muß bekanntlich an sie glauben. Sie invisibilisiert systematisch die Seite, die zählt. Zwischen der Oblate und der geweihten Hostie besteht kein sicht-, fühl- oder schmeckbarer Unterschied. Und dennoch markiert die Transsubstantiation eine Differenz, wie sie schärfer und markanter nicht sein könnte. Um Goethe zu bemühen: ob das trassubstantiierte Ding heilig ist oder profan, läßt sich ihm nicht ansehen. Man muß glaubend bezeugen, was man nicht sehen kann."

    Brot und Wein sind also Zeichen, die ihren Sinn dem Glauben daran verdanken, dass sie Christi Blut und Leib sind. Solange dieser Glaube währt, handelt es sich bei der "Eucharistie um ein geradezu übermächtiges Massenmedium", das die "Kollektive Aufmerksamkeit" von Millionen fesselt. Genau wie im Fall der modernen Massenmedien des Fernsehens oder Internets ist, wie man mit dem von Hörisch gern zitierten Soziologen Niklas Luhmann sagen könnte, die Realität dieses religiösen Massenmediums eine Konstruktion, seine Wirklichkeit ist eine vom Medium im Medium erzeugte Wirklichkeit. Dies hindert uns nicht daran, jedes TV-Bild für bare Münze zu nehmen, was umso leichter gelingt, als die modernen Massenmedien notorisch abblenden, dass sie nicht schlicht Wirkliches abbilden und verdoppeln, sondern durch die Einstellung, Apparatur und Postproduction erst herstellen. Auch moderne Massenmedien, so können wir das auf die Eucharistie gemünzte Zitat wiederholen, "invisibilisieren systematisch die Seite, die zählt.

    Als Voraussetzung für die Wirkung der Eucharistie als Massenmedium hat Hörisch den Glauben benannt – aber wer tut dies noch in einer Zeit, in der die Religion nur noch erbauliche oder erhabende Rituale für feierliche Hochzeiten, rührende Beerdigungen oder fröhliche Weihnachten zur Verfügung zu stellen scheint, sich also als Dienstleistung konsumieren lässt. Man könnte vermuten, dass ein vom Glauben ungedecktes religiöses Massenmedium unter dem Deckmantel einer Kontinuität der einst heiligen Formen einen Funktionswandel durchlebt. Die Kirche besucht man nun, um sich erbauen oder unterhalten zu lassen. Die Eucharistie stiftet keinen Zusammenhang mehr zwischen Anfang und Ende, alpha und omega, sondern erzeugt allenfalls einen kleinen Schauer wie eine ergreifende Szene in einem beliebigen Hollywood-Film. Es fällt auf, dass Kirchenbesucher zunehmend die Ausstattung loben. Was könnte nun für diesen Wandel verantwortlich zeichnen?

    Der Glaube fällt durch das Geld, meint Hörisch. Er sieht im Geld jenes neue Leitmedium, das diesen Glauben erschüttert, das alte Medium der Religion ablöst und zugleich viele seiner Elemente in sich aufnimmt. In der Neuzeit, also seit dem 16. Jahrhundert, tritt "Geld an die Stelle Gottes". Die von vielen Soziologen beschriebene Säkularisierung begreift Hörisch also als Medienwechsel: nicht mehr das Abendmahl, sondern Geld stiftet nun die kulturell verbindlichen Relationen zwischen Sein und Sinn; und es versteht sich, dass sich damit auch die Vorstellungen von dem, was das Sein ist und was Sinn macht, fundamental ändern. Im Wunder der Anwesenheit Christi im Wein und Brot der Eucharistie wurde der Himmel auf die Erde geholt und so das Diesseits aufs Jenseits bezogen: alles, was ist, erhält vor Gott seinen Sinn zwischen Schöpfung und jüngstem Gericht, zwischen Vergangenheit und Zukunft. Geld dagegen ist vergesslich, "Pecunia non olet", bemerkte zurecht Vespasian, jener römische Kaiser, der Steuern auf die Abwässerversorgung erhob: Geld stinkt nicht. Man sieht dem Geld seine Herkunft nicht an, es könnte frisch gewaschen aus schwarzen Kassen kommen, und es lässt sich nicht darauf festlegen, wofür es in der Zukunft verwendet wird. Es ist, wie man seit Heraklit weiß, beliebig eintauschbar gegen knappe Güter, aber seinen Wert bezieht es nicht aus sich selbst, wie die Oblate, die für die Gläubigen der Leib Christi ist, sondern aus einem Bündel von Beziehungen. "Geld", so Hörisch, "wird so zum leeren wie absoluten Joker und d.h. zum komplexen, gewissermaßen für »alles« zuständigen Zeichen." Unsere Zukunft liegt nicht länger in Gottes Hand, sondern wird am Derivatenmarkt der Börse in Form von Futures gehandelt. Die uralten religiösen Begriffe erhalten nunmehr eine fiskalische Bedeutung, und die wahren Tempel der Neuzeit sind die Banken. "In God we trust”, steht auf dem amerikanischen Vierteldollar, und man ahnt nun, was damit gemeint ist. Geld ist nun unser Gott. Jochen Hörisch beschreibt diesen Übergang so:

    "Das eucharistische Massenmedium verdankt seine bewundernswert lange Dauer nicht zuletzt seiner virtuosen Markierung und zugleich auratischen Überschreitung der Grenze zwischen dem Sicht- und dem Unsichtbaren. Seitdem aber Gretchenfragen nicht mehr vermeidbar sind, nimmt ein zweites großes ontosemiologisches (also Sein mit Sinn versehende und Sinn als seiend ausweisendes) Massenmedium seine Funktion wahr: Geld. Es ähnelt nicht nur äußerlich in seiner klassischen Münzgestalt der Hosie; es teilt mit dem eucharistischen Massenmedium auch seine Verbindlichkeit; Geld hat, wie die Hostie, zweifellos Qualitäten, die nicht nur Binnen-Ethnologen wie Marx oder Dagobert Duck als fetischistisch beschreiben würden; Geld transsubstantiiert; Geld schafft Schuldner und Gläubiger; Geld wird emittiert und es missioniert; [...] und Geld muß suggerieren, dass an ihm mehr »dran« ist als das, was an ihm ersichtlich ist: Metall oder Papier zu sein."

    Mammon, so könnte man angesichts dieser Kontinuitäten sagen, ist deshalb unser Gott geworden, weil das ökonomische Leitmedium ähnlich gebaut ist wie das der Religion und gleichsam under cover die Herrschaft übernehmen konnte. Ein gravierender Unterschied freilich wird von Hörisch noch einmal betont: "Geld konterkariert das Massenmedium, das es beerbt. Es stellt bei aller Anknüpfung an den theologischen Bestand doch von Transzendenz auf Immanenz um."

    Geld verbleibt im Diesseits, es verweist immer nur auf knappe Güter und nie auf die "letzten Dinge". Aber Geld ist längst nicht alles. Im 20. Jahrhundert sind es immer mehr die audiovisuellen Medien, welche die Relation zwischen Sinn und Sein bestimmen, indem sie das Sein entwerten und allen Sinn im Nonsens auflösen. Denn die Massenmedien, so lautet die von Lacan und Kittler entlehnte These Hörischs, sind "im auswendigsten Sinne realistisch. Sie speichern und übertragen nämlich das Reale: Licht und Schallwellen."

    Audiovisuelle Medien zeigen einfach das, was ist, ihre Botschaft ist die pure Tautologie: "Alles ist so, wie es ist. Nachrichten sind Nachrichten, Spielfilme sind Spielfilme, Gameshows sind Gameshows."

    Sie sind geist- und sinnlos, weil sie einfach alles übertragen, was sie übertragen. Das unterscheidet die Audiovision vom Text: Während wir in der Zeitung lesen, Bill Clinton habe dies und das in einer Ansprache mitgeteilt, zeigt das Fernsehen auch noch das Muster seiner Krawatte oder die Ringe unter seinen Augen und lässt uns auch die "Ähs" und "Mmhs" seiner Rede hören – die Schrift selektiert, das AV-Medium dagegen dupliziert.

    Während das Geld via Preise und Zinsen über Knappheit und Überfluss, über Chancen und Risiken informiert, ist die einzige und immergleiche Botschaft der AV-Medien, dass alles ist, was der Fall ist, vom Pickel auf dem Dekolleté, den das Foto festhält, und dem Krächzen der Stimme, das der Phonograph aufnimmt, bis zu den Brioni-Anzügen von Gerhard Schröder in der Television. Da die neuen Medien nicht unterscheiden, sondern unterschiedslos festhalten, was ist, stiften sie auch keinen Sinn, übrigens auch und gerade das Radio nicht, das Hörisch zufolge weder "Geist" noch "Sinn" habe, sondern nur "Schallwellen" übertrage. Auf den Gedanken, dass Schallwellen genau wie Lichtwellen auch Informationen transportieren können, kommt Hörisch anscheinend nicht – seine an der Medientechnik ansetzende Theorie übersieht, dass auch die Massenmedien mit der sogenannten Realität hochselektiv umgehen und sie keinesfalls einfach "tautologisch" übertragen. Zwar ist es richtig, dass die "AV-Medientechnik eine a-metaphysische auf Sicht- und Hörbarkeit abstellende Technik" ist, während "Brot und Wein bzw. Geld" auf etwas verweisen, was "nicht ersichtlich" ist, aber diese Aussage trifft eben nur für die Medientechnik zu und nicht für die audiovisuelle Kommunikation, wie sie hier und jetzt beispielsweise als Radiosendung stattfindet, in der ja nicht nur das Timbre der Sprecherstimmen übertragen wird, sondern auch Informationen mitgeteilt werden, zu denen man sich zustimmend oder kritisch, gleichgültig oder interessiert verhalten kann. Und nicht nur sprachliche Beiträge, sondern auch das Reale, das übertragen wird, kann einen Informationswert bekommen: die Ringe unter den Augen des Staatsmannes, der niedergeschlagene Blick eines Fußballers oder das Zittern in der Stimme eines Zeugen werden in der Audiovision nicht stumpfsinnig verdoppelt, sondern liefern einen informativen Mehrwert.

    Diese theoretischen Ungereimtheiten mögen daher rühren, dass der Medienbegriff changierend verwendet wird: bisweilen sind Techniken gemeint, die hardware sozusagen, manchmal aber meint Medium dagegen einen semiotischen Prozess, software also. Nimmt man die neuen Medien so, wie Hörisch es sich eigentlich vorgenommen hat, als "ontosemiologische Leitmedien" nämlich, die für uns Sinn und Sein verbinden, dann ist jene physikalische Seite der Medien, die nur Schallwellen oder Licht überträgt die uninteressante. Denn wir rezipieren weder Schallwellen noch Licht, sondern mitgeteilte Informationen, die kognitiv oder kommunikativ weiterverarbeitet werden. Daher handelt es sich auch bei den Sendungen der Massenmedien, um einmal mit Niklas Luhmann gegen Hörisch zu argumentieren, "nicht und niemals um eine Bestandsaufnahme der Welt »wie sie ist«".

    Hörisch hatte aus seiner Behauptung, dass die audiovisuellen Medien die »Welt wie sie ist« wiederholen und daher "realistisch" und "a-metaphysisch" seien, die weitreichende Schlussfolgerung gezogen, mit dem Wechsel zu diesem Leitmedium habe sich das Abendland dem Nonsens hingegeben, denn die schlichte tautologische Wiederholung der Oberfläche der Welt auf den Photos und Bildschirmen unbekümmert darum, was wichtig und was unwichtig ist, wäre ja tatsächlich sinnlos:

    "Neue Medien kennen keine transzendenten Botschaften, sondern nur die reine Sichselbstgleichheit. Ihre Botschaft lautet, dass alles so ist, wie es ist, und dass geschieht, was geschieht. Mit den technischen Medien findet die Geschichte des Platonismus" – der Glaube an ein sinnvolles »Dahinter« also, man denke an das Höhlengleichnis – "ein tautologisches Ende."

    Der Hohenpriester einer alles sinnlos wiederholenden Mediengesellschaft, deren Wappentier der Papagei sein müsste, heißt für Hörisch Thomas Gottschalk: "Thomas Gottschalk. Geniales Pseudonym! Der ungläubige Thomas überrascht durch perfekte Beherrschung der Liturgie. Das Kirchenvolk ist heiter-ergriffen und auch hier albern-enthusiastisch. [...] Der auffallend bunt gekleidete Papageno-Priester tut alles, um seinem Namen gerecht zu werden. Er ist wild entschlossen, mit Gott schalkhaft umzugehen. [...] Der ungläubige Thomas initiiert sich selbst in den Kultus, dessen unablässig lachender Priester er ist."

    Gottschalk, dessen Namen der witzige Philologe wortwörtlich nimmt, wird zum Beleg für die These von der translatio imperii, dem Übergang der Herrschaft, von der Religion an die AV-Medien. Seine Show "Wetten dass vergleicht Hörisch mit einer Messe ohne Sinn, aus Pascals ungeheuerer Wette um das Seelenheil ist die Saalwette auf einem Null-Niveau geworden. Es kann nun nicht mehr überraschen, dass Hans Magnus Enzensbergers "Essay über das Fernsehen als Nullmedium" und buddhistische Meditationsmaschine als "glanzvoll" gelobt wird, denn genau darauf läuft Hörischs Beschreibung der audiovisuellen Medien hinaus: ihre Sendungen haben keine Botschaft, ihr Sinn ist der Unsinn. Vor dem Hintergrund dieser Überzeugung, dessen Stimmigkeit doch wohl allenfalls auf einen kleinen Teil der Medien-Formate beschränkt ist, kommt Hörisch zu sehr pauschalen Aussagen über Massenmedien schlechthin: so meint er etwa, die ökonomische Berichterstattung wäre "vom Kaffeesatzlesen grundsätzlich nicht unterschieden", und weiter und viel allgemeiner:

    "Im durchkommerzialisierten Mediensystem hat der reife Kapitalismus kultisch zu sich selbst gefunden. Und das ist gut so. Denn die Alternative hieße: ernst statt albern, [...] sinnfixiert statt sinnenfreudig, begeistert statt entgeistert, versammelt statt zerstreut sein zu müssen. Und diese Alternative käme uns teuer zu stehen. Das ist der eigentliche Stand postmoderner Auf- und Abgeklärtheit. Norbert Bolz hat mit seiner klugen Nonsens- These über die Emanzipation von der monolithischen Sinngesellschaft schlicht recht. Kultischen Nonsens billigend in kauf zu nehmen – das ist der coole Preis, den die späte Moderne für ihre alberne Friedfertigkeit von uns verlangt."

    So verallgemeinert Hörisch zunächst die audiovisuellen Medien zu einer einzigen "Nonsens-Veranstaltung", um dann die "Blödel-, Kalauer- und Nonsenshelden" von Helge Schneider bis Guildo Horn als Erlöser zu feiern, die der Welt den Frieden bringen, wenn ihre "blöde Friedfertigkeit" auch nur um den Preis eines allgemeinen "Sinnverzichts" ankommt. Das Fernsehen mutiert zum Friedensbringer und die Talk-Show zur humanitären Mission. Dass die "späte Moderne" aber tatsächlich keinesfalls so "friedfertig" ist, wie Hörisch unterstellt, weiß jeder, der ab und an auf einen anderen Kanal umschaltet, um sich auf CNN oder NTV die Bilder des aktuellen Krieges anzuschauen. Das Lachen über den postmodernen Nonsens-Pazifismus mag manchem dann im Halse stecken bleiben.

    Nun ist Jochen Hörisch aber ein Professor für Germanistik, und zwar ein sehr prominenter, und man wird sich nach alldem vielleicht fragen, was diese Epochentheorie der Medien denn mit der Literatur zu tun haben soll, heißt sein Buch doch Die Poesie der Medien. Diese Frage könnte Hörisch zunächst einmal mit einer sehr generellen These beantworten: die drei Leitmedien, so lautet die Annahme seines Unternehmens, stellen seit zwei Jahrtausenden die Kernthemen der europäischen Literatur: Erst Brot und Wein, dann Geld und nun die Neuen Medien sind ihre wichtigsten Motive. "Dichtung hat ein hohes mediales Bewusstsein", deshalb kann man von einer "Poesie der Medien" in der Bedeutung sprechen, dass die Medien Inhalte der Literatur stellen. Aber, wie immer bei solchen Genitiven, gilt auch der umgekehrte Fall: "Poesie der Medien" meint auch, dass die Poesie den Medien gehört, dass die Medien sich die Poesie aneignen und sich in sie einschreiben – so wie der Telegrammstil um 1900 Einzug in die avantgardistische Dichtung gehalten hat oder die jüngste Romanliteratur durch die schnellen Schnitte der MTV-Videoclipästhetik mitgeprägt worden ist. Und bestimmte Gedichte sind undenkbar ohne den im Radio gespielten Schlager, ohne dass sie unbedingt das Radio eigens thematisieren müssten. Die Poesie wählt sich also nicht nur souverän ihre Themen und unter ihnen auch das eine oder andere Medium, sondern die Poesie selber wird von den Medien, auf die sie trifft, mitkonstituiert.

    Eine weitere Kernüberzeugung Hörischs lautet also: Im Verhältnis von Leitmedien und Literatur kommt der Poesie die Rolle eines ungewöhnlich genauen und ingeniösen Beobachters zu. Sprecher 2: "Zu den Funktionen von Literatur zählt, mit äußerster Aufmerksamkeit die Massenmedien (wie Abendmahl, Geld und AV-Technologie) zu beobachten, die ihr schärfster Konkurrent auf dem Markt der Sinnangebote sind.

    Hörisch weist sofort darauf hin, dass diese Funktionsbestimmung verblüffen muss, verfügt doch gerade die Literatur kaum über das entsprechende Sachwissen, um diesem Beobachtungsauftrag kompetent nachzukommen:

    "Wie ein Ministerium, ein Krankenhaus, ein Atomkraftwerk oder ein Multimedia-PC funktionieren, dürfte den wenigsten Literaten auch nur ansatzweise vertraut sein" – von Literaturwissenschaftlern, die Ergänzung sei erlaubt, zu schweigen –. Aber: "Dezidierte Ansichten zu den Komplexen zu pflegen, über die sie kein eigentliches Sachwissen hat, gehört zum systematischen Dilettantismus der Literatur [...] Nun stellt aber Literatur gerade aufgrund ihrer fachlichen Inkompetenz systematisch so etwas wie semantischen Überfluß her. Sie liefert alternative und in der Regel äußerst unwahrscheinliche Wirklichkeitsversionen. – Das macht Literatur, die den Stand des aktuellen Fachwissens systematisch verfehlt und die deshalb im Hinblick auf den Stand der Dinge stets nach wie vor geht, nie aber punktgenau sein kann, nach wie vor zu einer spannenden Lektüre."

    Um es an einem Beispiel zu veranschaulichen: über Autos informiert man sich am Besten beim Ingenieur oder KFZ-Meister, was Autofahren aber heißen kann, erfährt man viel besser in den Romanen Gabriele D’Annuncios. An Werken von Goethe bis Gernhardt führt Hörisch überaus einfallsreich und mit "Witz" gesegnet vor, wie die Literatur auf Medien reagiert und uns so unsere beim Zappen oder Surfen vergessene Lage vorführt. Denn gerade weil das Buch heutzutage eine "exzentrische Position" einnimmt und durchaus ersetzbar zu sein scheint, gelingt dem von funktionalen Zwängen entlasteten literarischen Blick "von der Peripherie" aus auf "das tumultuöse Zentrum" eine "bessere" Beschreibung unseres "Medienzeitalters" als den Neuen Medien selbst:

    "Das alte Medium Literatur beobachtet die Möglichkeiten, das, was wir Wirklichkeit nennen, wahrzunehmen, aufzuzeichnen, zu speichern, zu bewahren, weiterzugeben und medientechnisch zu »manipulieren«, mit äußerster Aufmerksamkeit."

    Hörisch versucht diese These in zahlreichen Analysen literarischer Texte zu veranschaulichen. Dabei gelingen ihm bisweilen Deutungen von luzider Evidenz. Interessant ist etwa seine Lektüre der "Wahlverwandtschaften", dessen Faszination Hörischs Texte immer wieder erlegen sind. Aus der Perspektive einer Poesie der Medien erscheint Goethes Roman als Abgesang auf die Religion und als Morgenröte der Neuen Medien, als dessen Botschafter der englische Lord fungiert, in dem Hörisch einen "postreligösen Medienapostel" ausmacht. Zwar ist der Lord kein Kommunikationstalent, sondern im Gegenteil der kleinen Landpartie adeliger Müßiggänger sogar geradezu lästig, doch wird er geschätzt als Meister einer neuen Medientechnik, der Camera Obscura. Während sich im Roman "nur Sprech- und Schreibszenen" finden, die "die Kommunizierenden auseinandertreiben und entzweien", und Ottilie Charlottes Kind wohl nur deswegen ertrinken lässt, weil sie eine Leserin ist und sich auf schwankendem Kahn nicht entscheiden kann, ob sie das Buch oder das Kind ins Wasser fallen lassen soll, glücken die Videoübertragungen des Lords vortrefflich. Alle freuen sich über seine medialen Verdopplungen der Welt, die den Betrachter gestatten, "hier in der Einsamkeit die Welt so bequem zu durchreisen". Hörisch folgert:

    "So entsteht jenseits all der desaströsen Konversations-, Lese und Schreibszenen der Wahlverwandtschaften eine medientechnische Alternative zum Feld des Sprechens, Schreibens und Lesens. Und siehe: sie ist gut."

    Es bleibt nicht bei Goethe, und es bleibt auch nicht in jedem Fall bei kohärenten Lektüren, denn sein Interesse verleitet Hörisch gelegentlich zu einer Stellenkunde, die ihn nur noch das aus Texten zitieren lässt, was zu seiner These von der translatio imperii der Leitmedien passt, sich aber trotz dieser rigorosen Selektion genereller Thesen über die Werke nicht enthält. Hörisch zappt von einer Stelle zur nächsten und generiert so sein eigenes, spannendes und oft erhellendes Lektüreprogramm. Wer sich für die Rolle informationstechnischer Konstruktionen der Realität in der Geschichte der Literatur interessiert, kommt jedenfalls an der Poesie der Medien nicht vorbei.