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Engel

Wenn die Welt ihr Funktionieren einstellt, wenn sich die Marschordung der Dinge auflost, dann beginnen die Engel ihren Flug. Doch die Pfade der Erleuchtung sind verschlungen und sie führen durch dunkle Regionen. So ergeht es auch Jamie und Bill in Denis Johnsons Roman Engel. Das Paar geht durch die Hölle, und da begegnen sie ihrem Engel.

Walter van Rossum |
    Im kalifornischen Oakland besteigt Jamie einen Greyhound-Bus. Sie hat ihre beiden kleinen Töchter dabei, ein wenig Geld und ein paar Habseligkeiten. Jamie hat soeben ihren Mann verlassen, der sie belogen und betrogen hat. Sie will zu Verwandten im Norden der USA. Im Bus lernt sie Bill Houston kennen, ein Herumtreiber mit unzuverlässigem Charme. Bill überredet Jamie, die Reise in Pitsburgh zu unterbrechen, um sich ein paar schöne Tage zu genehmigen. Nun, die Party dauert nicht lange, dann ist das Geld verbraucht und beider Zusammenhang fürs erste auch. Man trennt sich. In Chicago verdient sich der stets bedröhnte Bill ein paar Dollars mit Handtaschenraub. Und Jamie, die ihm in unbestimmter Sehnsucht nachgereist ist, fallt einer brutalen Vergewaltigung zum Opfer J Aus verschiedenen Richtungen kommend treffen sich beide in der Tiefebene der ganz normalen amerikanischen Gewalt. \

    Sie begannen, es den 'Anschlag' zu nennen, und nach einer Weile war damit alles gemeint: dass sie sich gefunden hatten, als sie fast verloren waren; daß sie sich liebten und alle anderen hatten; dass sie sich mit halsbrecherischer Geschwindigkeit fortbewegten, ohne vom Fleck zu kommen; dass sie auf auf den Straßen erfroren.

    Gleichzeitig durchlebt Jamie in der psychiatrischen Klinik Delirien von zerreißender Wucht, poch worauf Bill und am Ende Jamie stoßen, äußert sich nicht in metaphysischen Weisheiten noch in moralischen Einsichten. Das Leben erkennt man nicht, man spürt es. Und es findet mit Sicherheit nicht in der aufgeregten Geschäftsordnung des Realen statt. Unsere Zivilisation verdeckt jede Idee des Lebens. Erst in den Evokationen des Todes schillert sie als sein unerreichbares Negativ, Denis Johnson zeigt, was das heißt. Und wie er es zeigt, ist gewiss nicht erbaulich, aber von rauer und bitterer Schönheit. Seine Engel sind keine Flötisten ewigen Friedens, sondern Furien des Verrinnens. Man findet sie nicht in der real existierenden Wirklichkeit, sondern an ihren Rändern, da wo sie sich verflüchtigt oder kolabiert. Denis Johnson rechtfertigt weder seine Figuren, noch verdammt er sie. Wir spüren ihre Quälen, aber wir erschöpfen uns nicht in mitleidiger Anteilnahme. Johnson erzählt von Bill und Jamie als Kronzeugen ihrer und unserer Zeit -gerupfte Engel, die keine Wege weisen, noch den Himmel preisen, gefallene Engel, die im Sturz das Leben berühren. Es ist nicht ihre Schuld, dass sie es vorher nicht kannten.

    Engel ist der erste Roman des heute 52jährigcn Denis Johnson. Er erschien bereits 1983 im amerikanischen Original und machte den Autor auf Anhieb berühmt. Dass dieses Buch fast zwanzig Jahre alt ist, entdeckt man allenfalls an beiläufigen zeittypischen Requisiten. Und in gewisser Weise handelt Engel auch von der Aufhebung von Zeit und Raum. Johnson schickt sein Heldenpaar quer durch den nordamerikanischen Kontinent, aber erst in kleinsten geschlossenen Zellenräumen entdecken sie schließlich ihre innere Realität und die vergitterte Schönheit der Welt. Und da Bill und Jamie in den letzten 18 Jahren kaum gealtert sind, scheint es so, dass die Meldungen vom Fortschritt und der gesellschaftlichen Dynamik den Lauf des Lebens nicht meinen.