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Entdeckungsreise

Der "französische Beethoven" wird George Onslow auch genannt: 14 Jahre nach dem Bonner Komponisten geboren, wurde Onslow vor allem in Deutschland geschätzt. In seiner französischen Heimat war aber bald vergessen, was sich mit den neuen Aufnahmen des ebenfalls französischen Streichquartetts Quatuor Diotima ändern könnte.

Von Maja Ellmenreich |
    Mit vier eitlen Gockeln und mit Maja Ellmenreich. Guten Morgen!

    Die vier Herren vom französischen Quatuor Diotima besitzen Selbstironie. Denn so arrogant, so blasiert, wie sie sich auf dem Cover ihrer neuen CD zeigen, so selbstverliebt können sie gar nicht sein. In schwarzen und grauen Anzügen posieren sie vor der Kamera, als würden sie die coolsten Gesichtsausdrücke vor dem Spiegel üben. Das Ganze garniert mit knallroten Accessoires: Lederhandschuhen, Einstecktuch, Krawatte und Bauchbinde.

    Ganz frei von Eitelkeit werden die vier Musiker des Quatuor Diotima nicht sein. Denn in jedem Witz steckt ja bekanntlich ein Fünkchen Wahrheit. Doch zum einen macht Selbstironie sympathisch - und zum anderen hat das französische Streichquartett allen Grund zu Selbstbewusstsein. Das belegt auch die neue CD aus dem Hause naïve. Das Quatuor Diotima spielt unbekannte Streichquartette des Franzosen George Onslow.

    1. Musik - Track 3
    George Onslow: III. Scherzo. Allegro
    aus: Quartett für zwei Violinen, Viola und Violoncello Nr. 28
    Es-dur, op. 54


    Eigentlich sind sie Experten für Neue Musik - die vier vom Quatuor Diotima. Sie haben sich zunächst als Spezialensemble einen Namen gemacht und waren lange Zeit nur einem kleinen Kennerkreis vertraut. Hoch geschätzt von Komponisten wie Helmut Lachenmann und Brian Ferneyhough, reichlich geehrt mit Preisen und Stipendien, eingeladen zu Festivals und Konzertreihen auf der ganzen Welt. Doch ein reines Nischendasein in der Neuen Musik wollten die Absolventen der Konservatorien von Paris und Lyon wohl nicht fristen, betonen sie in ihrer Vita doch ausdrücklich, dass sie bei aller Liebe zur Avantgarde das klassische Streichquartettrepertoire nicht vernachlässigen wollen. Das Quatuor Diotima wäre aber nicht das Quatuor Diotima, wenn es sich daraufhin mit dem gängigen Repertoire begnügen würde. Gängig, durchschnittlich, gewöhnlich - diese Worte gehören überhaupt nicht ins Vokabular der vier Diotima-Musiker. Allein ihre Namenswahl legt das nahe. Diotima - damit nehmen sie Bezug auf eine Quartett-Komposition des Italieners Luigi Nono: "Fragmente - Stille. An Diotima" heißt dieses Werk von 1980, das teuflisch schwer zu spielen ist. Diotima, das ist eine literarische Figur von Platon, die Lehrerin des Sokrates, eine Philosophin, die das große Ganze im Blick hat und sich nicht in Details verliert.

    Kommen wir - nach all diesen Erklärungen - zu dem Schluss, dass das Quatuor Diotima mit seiner Namensgebung den eigenen Anspruch definiert und die Latte ziemlich hoch gelegt hat. Klingt vielleicht vermessen, aber das Quatuor Diotima nimmt die Höhe mit Leichtigkeit. Es schreckt nicht zurück vor technischen Schwierigkeiten, hegt offensichtlich große Lust am Komplizierten und Komplexen. Wie gesagt: Allgemein gängiges Repertoire passt da nicht hinein, deshalb spielt das Quatuor Diotima zum Neue-Musik-Ausgleich späte Beethoven-Quartette, Musik des frühen 20. Jahrhunderts und französische Quartettliteratur. Etwa die des englischstämmigen Franzosen George Onslow.

    2. Musik - Track 8 (Ausschnitt)
    George Onslow: IV. Finale. Allegro vivace
    aus: Quartett für zwei Violinen, Viola und Violoncello Nr. 29
    d-moll, op. 55


    Der "französische Beethoven" wird er auch genannt: George Onslow, Sohn eines englischen Vaters und einer Mutter aus der Auvergne, 14 Jahre nach Beethoven, nämlich 1784 geboren. Ein kammermusikalischer Vielschreiber war dieser Adelsspross, der eine seiner Abstammung adäquate Ausbildung genossen hatte: Literatur und Geschichte, Malerei und Musik standen auf seinem Stundenplan. Am meisten konnte er sich für die Musik begeistern, spielte ausgezeichnet Cello und begann zu komponieren - zunächst als Autodidakt, später professionell ausgebildet. Besonders in Deutschland wurde die Musik von George Onslow geschätzt, immer wieder verglichen mit der von Beethoven, Mozart, Schumann und Mendelssohn. In seiner französischen Heimat dagegen nahm man ihn bei Weitem nicht in dem Maße wahr, spielte seine Musik zwar in den Salons, aber vergaß sie auch bald wieder, nach seinem Tod 1853.

    Ein typischer Fall für das "Centre de Musique Romantique Française", das nicht etwa in Paris, sondern in einem venezianischen Palazzo beheimatet ist. Dort kümmert man sich seit einigen Jahren um die musikwissenschaftliche Erforschung und publizistische Verbreitung unbekannter französischer Musik der Romantik. Und dort machte man die vier Musiker des Quatuor Diotima auch mit dem umfangreichen Oeuvre von George Onslow bekannt. Allein 36 Streichquartette hat er hinterlassen, bei Weitem nicht alle liegen auf CD vor. Außer dem deutschen Mandelring Quartett hat sich kaum ein Ensemble um das Onslow-Repertoire für vier Streicher bemüht. Und eine Gesamteinspielung plant das Mandelring Quartett - nach eigenen Angaben - auch nicht.

    War also noch Platz in der Repertoire-Nische, die das Quatuor Diotima ja bekanntlich liebt. Es entschied sich für drei Onslow-Quartette aus dem Jahr 1834, mit den Opuszahlen 54 bis 56. Drei Stücke, die Onslow nach längerer Quartettpause komponiert hatte. Sein Interesse an der klassischsten aller klassischen Kammermusikbesetzungen war wiedererwacht, nachdem er Beethovens späte Quartette in einem Pariser Konzert erlebt hatte und - wie so viele andere auch - regelrecht verstört gewesen war. Dieses Erlebnis weckte offensichtlich Onslows Ehrgeiz und setzte seine Kreativität in Gang. Komplexer, umfänglicher und tiefgründiger als seine bisherigen Quartette wurden die drei folgenden, die George Onslow jeweils einem Musiker widmete. Das letzte, opus 56, etwa dem Cellisten Alexandre Chevillard - was auch im dritten Satz des Quartetts deutlich zu hören ist.

    3. Musik - Track 11 (Ausschnitt)
    George Onslow: III. Adagio cantabile e sostenuto
    aus: Quartett für zwei Violinen, Viola und Violoncello Nr. 30
    c-moll, op. 56


    Wer - wie das Quatuor Diotima - in der Neuen Musik zu Hause ist und zahlreiche Kompositionen uraufgeführt hat, ist mit allen spieltechnischen Wassern gewaschen. Da gibt es wohl keine Spielanweisung, die die Diotima-Musiker nicht schon befolgen mussten. Diese Souveränität verleiht ihnen eine beeindruckende Lässigkeit, die man insbesondere in musikalisch nicht allzu wichtigen Passagen bemerkt. So bereichernd die drei Onslow-Quartette für das Streichquartett-Repertoire sind - nicht jeder einzelne Takt ist ein großer Wurf. Da gibt es Überleitungen, Wiederholungen, insbesondere Sequenzen, die nur mit einer gewissen Beiläufigkeit gespielt werden dürfen. Penible Genauigkeit würde Schaden anrichten und schnell zu Manieriertheit führen.
    Das Quatuor Diotima läuft da keine Gefahr: Es musiziert frisch, keck lebendig, wo es der Notentext verlangt, weiß aber auch, wo Zurückhaltung angebracht ist.
    George Onslow steht mit einem Fuß noch in der Wiener Klassik, reicht aber mit dem anderen bereits in die Romantik hinein. Dass zur Beschreibung seiner Musik stets Namen anderer Komponisten bemüht werden, kommt nicht von ungefähr: Einen ganz individuellen Personalstil hat George Onslow nicht entwickelt. Für die französische Musikgeschichte ist er dennoch eine Ausnahmefigur, deren Werk es auch in Zukunft zu entdecken gilt. Das Quatuor Diotima hat mit seiner neuen Einspielung dazu einen wichtigen Beitrag geleistet!

    4. Musik - Track 6 (Ausschnitt)
    George Onslow: II. Scherzo. Presto
    aus: Quartett für zwei Violinen, Viola und Violoncello Nr. 29
    d-moll, op. 55


    Die erste CD des Quatuor Diotima für das Label naïve: ein gelungener Auftakt mit drei Streichquartetten von George Onslow.
    Vorgestellt und empfohlen von Maja Ellmenreich.


    Diskografie

    George Onslow:
    Quartett für zwei Violinen, Viola und Violoncello Nr. 28 Es-dur, op. 54
    Quartett für zwei Violinen, Viola und Violoncello Nr. 29 d-moll, op. 55
    Quartett für zwei Violinen, Viola und Violoncello Nr. 30 c-moll, op. 56

    Quatuor Diotima:
    Yun-Peng Zhao, Violine
    Naaman Sluchin, Violine
    Franck Chevalier, Viola
    Pierre Morlet, Violoncello

    naïve V 5200, LC 7496