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Erhöhtes Risiko an zwei Orten außerhalb der Evakuierungszone

Epidemiologie. - Im März 2011 zerstörte ein Tsunami das Kernkraftwerk Fukushima Daiichi. Nach Explosionen traten damals große Mengen an Radioaktivität aus. Der Wind blies den größten Teil der Wolke aufs Meer. Acht Prozent der Gesamtfläche Japan sind seitdem mehr oder weniger radioaktiv belastet. Nun haben Wissenschaftler im Auftrag der WHO das gesundheitliche Risiko für die dort lebenden Menschen abgeschätzt. Die Ergebnisse wurden heute in Genf präsentiert und die Wissenschaftsjournalistin Dagmar Röhrlich fasst sie im Gespräch mit Lennart Pyritz zusammen.

Dagmar Röhrlich im Gespräch mit Lennart Pyritz | 28.02.2013
    Pyritz: Frau Röhrlich, was haben sich die Wissenschaftler angeschaut?

    Röhrlich: Die Wissenschaftler haben sich zum einen angeschaut, wie das Risiko für 23.000 Arbeiter aussieht, die auf der Anlage arbeiten seitdem. Dann die Bevölkerung in den belasteten Gebieten, das sind immerhin 2 Millionen Menschen. Dann den Rest Japans und schließlich noch das Risiko weltweit.

    Pyritz: Warum hat die WHO diese Studie durchgeführt?

    Röhrlich: Vor allen Dingen soll sie dabei helfen, der japanischen Regierung Hinweise geben, wie man die Nachsorge am besten gestaltet, wo man am genausten hinschauen muss. Und deshalb wurde sie auch durchgeführt, wenn man so will, nach dem Motto: die höchsten Dosen angenommen und die schlimmsten Folgen, damit man wirklich den schlimmsten Fall annehmen kann.

    Pyritz: Und welche Ergebnisse wurden heute in Genf vorgestellt?

    Röhrlich: Also zum einen rechnet man für keine der betroffenen Gruppen damit, dass es Tote oder Fehlgeburten aufgrund des Unfalls gegeben haben könnte. Und auch keine Missbildungen und auch nicht damit, dass irgendwann einmal in Zukunft Probleme dieser Art auftreten können. Wenn man jetzt das Krebsrisiko ansieht, darum geht es nämlich hauptsächlich: Weltweit sieht die WHO keine Gefahr, in Japan außerhalb der belasteten Gebiete auch nicht, und auch nicht für die meisten der zwei Millionen Betroffenen.

    Pyritz: Sie sagten gerade "die meisten". Gibt es denn dann andere Gruppen, die eher betroffen sein könnten?

    Röhrlich: Ja, und zwar die Leute, die außerhalb der evakuierten 20-Kilometer-Zone wohnten, die ist ja sofort in den Stunden und Tagen danach evakuiert worden. Aber in den Gebieten, wo dann durch den Regen und den Schnee, der dann gefallen ist, die Radioaktivität besonders intensiv runtergekommen ist und die dann später evakuiert worden sind. Das betrifft die Stadt Namie, die erst Wochen später evakuiert worden ist und ebenso das Dorf Iitate. Die Menschen, die dort lebten, die haben die höchsten Dosen abbekommen. Und da erwartet die WHO auch einen Effekt beim Krebsrisiko zu sehen.

    Pyritz: Was bedeutet das sozusagen in Krebsfälle umgerechnet?

    Röhrlich: Also wenn man sich das jetzt ansieht, das Risiko ist natürlich gestaffelt. Vor allen Dingen ist es für Kinder am höchsten. Und wenn man sich die höchste Risikogruppe ansieht, das sind bei den soliden Tumoren, die man betrachtet hat, Mädchen, die zum Zeitpunkt des Unfalls unter einem Jahr alt gewesen sind und die im am schlimmsten belasteten Gebiet gelebt haben. Da wird das Tumorrisiko im Laufe ihres Lebens um vier Prozent ansteigen. Und da wurde das auch vorgerechnet, was das bedeutet: Das heißt, von 100 Mädchen in dieser Altersgruppe würden normalerweise, ohne diesen Unfall 29 an Krebs, an solidem Tumoren im Lauf ihres Lebens erkranken. Und durch den Unfall wird es ein Mädchen mehr sein, also dann wird die Zahl auf 30 steigen. Beim Brustkrebs ergibt sich auch die Risikogruppe Mädchen, null bis ein Jahre alt zum Zeitpunkt des Unfalls. Und da wird der Erhöhung des Krebsrisikos bei sechs Prozent liegen. Bei der Leukämie sind es die Jungen, die sind am stärksten betroffen, die dort gelebt haben, null bis ein Jahre alt: sieben Prozent Anstieg. Und am deutlichsten ist der Anstieg beim Schilddrüsenkrebsrisiko, in den am höchsten belasteten Gebieten. Auch Mädchen unter einem Jahr: 70 Prozent. Das hört sich jetzt ganz schrecklich an, aber die Ausgangsbasis für diese Tumoren ist sehr niedrig. So dass also die WHO sagt, dass Kinder im Alter unter einem Jahr eh in ihrem Leben eine Wahrscheinlichkeit haben von 0,7 Prozent an Schilddrüsenkrebs erkranken. Und das wird sich dann auf 1,25 Prozent erhöhen.

    Pyritz: Was Sie jetzt gesagt haben, das gilt für die am stärksten betroffenen Gebieten. Wie sieht es denn in den anderen kontaminierten Gebieten aus?

    Röhrlich: Es gibt so eine zweite Zone, wo die Kontamination so etwa bei der Hälfte bis ein Drittel von dem gelegen hat, was in den am stärksten kontaminierten Gebieten ist. Da sieht man auch so etwa die Hälfte der Tumorrisiken [im Interview sagte die Gesprächspartnerin versehentlich Tumoren, die Redaktion], und da darunter erkennt man nichts mehr.