Freitag, 10. Mai 2024

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Erinnerungen

Klimakatastrophe, Erschöpfung der Erdölreserven, fortdauernd strahlende atomare Endlager oder genetische Veränderungen von Mensch und Natur: diese Schlagworte aus den Umweltdebatten der letzten Jahrzehnte forderten vor allem eine signifikante Antwort heraus, nämlich den Ruf nach einer neuen, einer ökologischen Ethik. Wichtigster Vordenker ist Hans Jonas mit seinem Buch Das Prinzip Verantwortung aus dem Jahr 1979. In seiner Dankesrede für den Friedenspreis des deutschen Buchhandels skizziert Jonas 1987 die Reichweite einer neuen Umweltethik:

Hans-Martin Schönherr-Mann | 07.05.2003
    Schritthaltend mit den Taten unserer Macht reicht unsere Pflicht jetzt über den ganzen Erdkreis und in die ferne Zukunft. Sie ist unser aller Pflicht, denn wir alle sind Mittäter an den Taten und Nutznießer an den Gewinnen der kollektiven Macht. Jetzt und hier, so sagt uns die Pflicht, sollen wir unsere Macht zügeln, also unseren Genuß kürzen, um einer künftigen Menschheit willen, die unsere Augen nicht mehr sehen werden.

    Um heute für Mensch und Umwelt überhaupt verantwortlich handeln zu können, muss man vor allem die Fern- und Nebenwirkungen der modernen Technik abschätzen. Man braucht also zunächst Einblick in die Welt. Erst dann kann die Ethik dem Menschen sagen, was er zu tun hat. Hans Jonas lernte diese Problematik bereits während seines Studiums in den zwanziger Jahren bei Martin Heidegger in Marburg kennen. Dabei entstanden auch zahlreiche Freundschaften, beispielsweise zu Karl Löwith, Leo Strauss, Günter Anders und vor allem zu Hannah Arendt, über die er in seinen sehr lebendigen, nur manchmal etwas weitschweifigen Erinnerungen berichtet:

    Wir redeten viel, denn sie brauchte eine Vertrauensperson. Das ist mit ein Element, das dazu beitrug, daß es zu keiner erotischen Beziehung zwischen uns kam, da man nicht gleichzeitig Vertrauter und Liebhaber sein kann. Ich wurde ihr Confidant.

    Von Heidegger inspiriert erkennt auch Hannah Arendt, dass der Einblick in das Sein einen Anspruch entwickelt, den das abendländische Denken seit seinen Anfängen im antiken Griechenland antreibt. Hannah Arendt hat dazu einmal bemerkt:

    Es geht ja um den Bestand der Welt, und keine von Menschen erstellte Welt, die dazu bestimmt ist, die kurze Lebensspanne der Sterblichen in ihr zu überdauern, wird diese Aufgabe je erfüllen können, wenn Menschen nicht gewillt sind, das zu tun, was Herodot als erster bewußt getan hat – nämlich legein ta eonta, das zu sagen, was ist. Keine Dauer, wie immer man sie sich vorstellen mag, kann auch nur gedacht werden ohne Menschen, die Zeugnis ablegen für das, was ist und für sie in Erscheinung tritt, weil es ist.

    Einblick in die technischen Fernwirkungen kann für Hans Jonas das Problem der Umweltzerstörung nicht allein lösen. Die technische Entwicklung verlangt vielmehr eine Selbstbeschränkung des Menschen, die nur aus seinem ethischen Verantwortungsgefühl entspringt. Der heute führende deutsche Rechtsphilosoph und Ethiker Otfried Höffe stellt fest:

    Hans Jonas ist für einige Jahre Wortführer der ökologischen Ethik gewesen, das wiederum vor allem im deutschen Sprachraum. Er hat einem Prinzip neues Gewicht gegeben, das wir eigentlich schon von Albert Schweitzer kennen, nämlich (. .) Ehrfurcht vor dem Leben. Unter diesem Prinzip wirft er einen Blick auf die technisch wissenschaftliche Zivilisation und der Blick ist als Kontrapunkt zu verstehen. Er hat also eine gewisse Einseitigkeit. Er sieht mehr die Schwierigkeiten und Probleme und Gefahren bis hin zur Gefahr einer Katastrophe, eines kollektiven Selbstmordes, während die Chancen, die in dieser Zivilisation auch stecken – man denke nur an die Medizin mit ihrer humanitären Verpflichtung – diese Chancen kommen eigentlich etwas kurz."

    Alle bisherige Ethik, so Hans Jonas, beschränkt sich auf den überschaubaren Nahbereich des menschlichen Handelns. Wenn die moderne Technik jedoch die Biosphäre insgesamt bedroht und damit auch die Zukunft der Menschheit in Frage stellt, dann muß der ethische Horizont globalisiert werden: Dem Menschen wächst sowohl die Verantwortung für die Natur insgesamt wie für die Menschheit zu, und zwar bis auf unabsehbare Zeiten – für Jonas eine auch religiöse Perspektive. Es verwundert nicht, wenn der renommierte Theologe Hans Küng in Hans Jonas durchaus einen Wegbereiter einer global erweiterten Ethik sieht, die Küng als Weltethos aus verschiedenen kulturellen Traditionen entwickeln will:

    Es geht um eine neuartige Ethik in Sorge um die Zukunft, die klug macht, wie er sagt, und in Ehrfurcht vor der Natur. Für mich war das auch im Hinblick auf die Idee eines Weltethos eine ganz entscheidende Einsicht, daß es eine Verantwortung der Weltgesellschaft für ihre eigene Zukunft gibt, und daß das bedeutet eine Verantwortung des Menschen für seine Mitwelt und seine Umwelt und schließlich auch für seine Nachwelt.

    In Marburg promoviert Hans Jonas 1928 bei dem Theologen Rudolf Bultmann mit einer Studie über spätantike Religiosität, die ihm die Verantwortlichkeit des Menschen für seine Zukunft bereits nahe brachte. 1933 emigrierte er zunächst nach London und ging 1935 nach Palästina. Dort schloß er sich der jüdischen Selbstverteidigungsorganisation Hagana an, einer Untergrundorganisation, die die englische Kolonialverwaltung nicht tolerierte. Nach dem Tod seines Vaters, ein Textilfabrikant, sollte seine Mutter nach Palästina übersiedeln. Sie hatte auch schon ihre Einwanderungsgenehmigung. Doch der Bruder von Hans Jonas war seit dem 9. November 1938 in Dachau inhaftiert und die Nazis deuteten an, er würde nur frei gelassen, wenn er nach Palästina auswandern dürfe. So übertrug die Mutter ihr Visum auf ihren Sohn. Vergebens bemühte sich Hans Jonas um ein neues Visum. In seinen Erinnerungen, die jüdische Schicksale im 20. Jahrhundert eindringlich vorführen, heißt es:

    Einmal waren die Engländer (. .) zurückhaltend geworden und schränkten die Zahl der jüdischen Einwanderer nach Palästina stark ein – ausgerechnet zu der Zeit, als die Zertifikate am allerdingendsten benötigt wurden. Aber die Engländer hatten ihre Gründe, die keineswegs antijüdisch oder antisemitisch waren, sondern mit der aktiven Revolte der Araber gegen das zionistische Programm in Palästina zusammenhingen. Es ging ja sehr blutig zu. Ich war damals in der Hagana bereits aktiv in der Abwehr arabischer Angriffe auf jüdische Siedlungen tätig, und die Engländer, die große Interessen in der ganzen arabischen Welt hatten, ließen ihre Politik (. .) von diesen Faktoren bestimmen.

    Der Beginn des zweiten Weltkrieges versperrte solche Fluchtwege endgültig. Hans Jonas trat 1940 in die englischen Armee ein, der er bis 1945 in der jüdischen Brigade diente. Er kämpfte an der Seite der alliierten Truppen bis Kriegsende in Italien. 1945 marschierte die jüdische Brigade von dort durch Deutschland bis ins holländische Venlo. So konnte er seine nahegelegene Heimatstadt Mönchengladbach besuchen, wo er erfahren mußte, daß seine Mutter in Auschwitz ermordet worden war.

    Anfang der fünfziger Jahre lehrte Jonas an kanadischen Universitäten. Dort begegnete ihm ein Student, der als Pilot im März 1945 Mönchengladbach bombardiert hatte, eine Mission, die nach dessen Bekunden sehr erfolgreich verlaufen war. Jonas erinnert sich:

    Von diesem Großangriff hatten mir Freunde in Gladbach mit Schaudern erzählt – es war die schrecklichste Nacht dieses Krieges gewesen. (. .) Da sagte ich: ‚Jetzt werde ich Ihnen einmal zeigen, wie es vom Boden aussah.’ Ich ging an meinen Schreibtisch und zog ein großes Couvert heraus, gefüllt mit Fotografien, (. .). Die Bilder von unserer ehemaligen Fabrik zeigten, daß das nichts als Trümmer waren, einschließlich des Maschinenparks und der Webstühle. ‚Da sehen Sie, sagte ich, das war einmal meine väterliche Fabrik. Und Ihre gründliche Arbeit führt dazu, daß ich keine Entschädigungszahlung für unser Eigentum erhalten konnte.’ Darauf sah mich dieser reizende junge Mann bedauernd an und sagte: ‚I am sorry, Professor Jonas.’ Und ich erwiderte: ‚Don’t be sorry. Ganz im Gegenteil, ich danke Ihnen für das, was Sie getan haben. Auch ich hätte das getan, wenn ich ein Flieger gewesen wäre.’

    Die Erfahrung des Holocaust, daß Gott in höchster Not nicht eingriff, verstärkte bei Hans Jonas die Impression, daß die Menschheit für die Biosphäre und für sich ganz alleine die Verantwortung trägt. Daher muß die Menschheit der technologischen Entwicklung selber Grenzen setzen. Doch eine kulturelle Umkehr, eine Abkehr von der Technik fordert Jonas nicht, so daß seine Ethik bis heute aktuell bleibt:

    Eine Patentlösung für unser Problem, ein Allheilmittel für unsere Krankheit gibt es nicht. Dafür ist das technologische Syndrom viel zu komplex, und von einem Aussteigen daraus kann nicht die Rede sein. (. .) Denn das technologische Abenteuer selber muß weitergehen; schon die rettenden Berichtigungen erfordern immer neuen Einsatz des technischen und wissenschaftlichen Ingeniums, der seine eigenen neuen Risiken erzeugt.