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Erinnerungskultur in Frankreich

1941 richtet die Wehrmacht in einer Kaserne bei Compiègne das Lager Royallieu ein, das "Frontstalag 122". Ein Durchgangslager - die letzte Station vor der Deportation für mehr als 40.000 Menschen. Indem sie an alle Opfer der brutalen Repressionspolitik der deutschen Besatzer in Frankreich erinnert überwindet die Ausstellung im Memorial von Compiègne jahrzehntelange Gräben der Erinnerungskultur.

Von Katrin Hondl |
    Der Blick zurück beginnt mit der Geschichte eines Eisenbahnwagons: Jenes Salonwagens, in dem im Wald von Compiègne zwei folgenreiche Waffenstillstände geschlossen wurden: am 11. November 1918 zwischen dem Deutschen Reich und den Entente-Mächten Frankreich, Großbritannien und den USA und am 22. Juni 1940 zwischen dem Dritten Reich und Frankreich.

    Ein Jahr später, im Juni 1941, richtet die Wehrmacht in einer Kaserne bei Compiègne das Lager Royallieu ein, das "Frontstalag 122". Ein Durchgangslager - die letzte Station vor der Deportation für mehr als 40.000 Menschen.
    André Bessière, heute 82 Jahre alt, war einer von ihnen.

    "Es ist, als ob ich die Klingel zum Appell wieder hören würde. Wir rannten dann alle in die Gänge. Ich sehe hier in der Gedenkstätte auch viele bekannte Gesichter wieder. Ich war ja drei Monate lang hier. Wir kamen in kleinen Gruppen von 15 oder 20 im Lager an. Jeden Tag kamen Neue. Und jede Woche gab es einen Abtransport."

    André Bessière, der als Mitglied der Résistance verhaftet worden war, verließ das Lager Royallieu am 27. April 1944 - in einem Konvoi von 1700 Häftlingen, Richtung Auschwitz. Nur 833 von ihnen kamen wieder zurück.

    Was vorher geschah und wie es dazu kommen konnte - das ist das Thema der Dauerausstellung in der Gedenkstätte von Royallieu. Von Historikern bisher erstaunlicherweise kaum erforscht, veranschaulicht die Geschichte des "Frontstalag 122" die Komplexität und Vielfalt der Ereignisse, die die Zeit der deutschen Besatzung Frankreichs geprägt haben. Etwa die Rolle des Vichy-Regimes, das die Deutschen von Anfang an tatkräftig unterstützte, insbesondere mit der vorauseilenden Ausgrenzung von Juden und Freimaurern.

    Die Ausstellung zeigt das zum Beispiel mit einem Comic, in dem diese als 'Krankheitserreger der französischen Nation' bezeichnet werden. Zu sehen ist auch das berühmt-berüchtigte Foto, auf dem der Polizeichef des Vichy-Regimes, René Bousquet grinsend mit dem SS-Mann Bernhard Griese posiert.

    Indem sie an alle Opfer der brutalen Repressionspolitik der deutschen Besatzer in Frankreich erinnert - Widerstandskämpfer, Juden, aber auch Amerikaner und Russen - sowie eben auch an die Beihilfe der französischen Kollaborateure - überwindet die Ausstellung im Memorial von Compiègne die Gräben, die die Erinnerungskultur in Frankreich jahrzehntelang geprägt haben. Der Historiker Christian Delage, der die Ausstellung konzipiert hat:

    "on einem gewissermaßen positiven Geschichtsbild in der Nachkriegszeit - als die Resistance-Kämpfer im Mittelpunkt standen - kam man zu einem in Anführungszeichen "negativen" Geschichtsbild, wo man eher die Frage stellte, wie Frankreich mit Deutschland zusammengearbeitet hat - durch politische Entscheidungen nach der Niederlage von 1940, die die Beteiligung Frankreichs an der "Endlösung" vorbereiteten. Heute aber sind die historischen Voraussetzungen gegeben, dass diese unterschiedlichen Erinnerungskulturen sich begegnen - und ob man will oder nicht - hier in Compiègne begegnen sie sich."

    Christian Delage plädiert für "Erinnerungsarbeit", die er von der "Erinnerungsplicht" unterscheidet, wie sie gerade Frankreichs Staatspräsident Sarkozy gefordert hat. Delage hält nichts von der Idee des Präsidenten, dass französische Grundschulkinder Patenschaften für Holocaust-Opfer übernehmen sollen:

    "Dieses moralische Gebot ist nicht haltbar. Erinnerung basiert auf Freiwilligkeit - und das heißt sie muss kritisch, distanziert, analytisch sein - keine verordnete affektive Erinnerung."

    Der französische Erinnerungskultur-Kampf geht also weiter: In einem Appell, den das Magazin Nouvel Observateur gerade veröffentlicht hat, warnen Intellektuelle und Historiker unter anderem vor einem "schäbigen Wettstreit der Opfer" um ähnlich spektakuläre Aufmerksamkeit, wie sie Sarkozys Patenschaften-Idee für ermordete jüdische Kinder fordert.

    Der Staatspräsident ist unter dessen weiter in Sachen Erinnerungskultur unterwegs. Gestern zum Beispiel eröffnete er im Pariser Invalidendom ein sogenanntes "Historial", eine multi-mediale Ausstellungshow über Leben und Wirken des General de Gaulle. In Erinnerung an, so Sarkozy, den "großen Mann" des freien Frankreich.

    Die Gedenkstätte in Compiègne wird heute ohne den Staatspräsidenten eröffnet - er wird dort erst am 11. November erwartet - am 90. Jahrestag des Waffenstillstands von 1918.