Vergessen kann durchaus das Leben erleichtern. Menschen, die nicht mehr vergessen können, ertrinken gerade zu in ihren Erinnerungen und Assoziationen. Sie haben deshalb Mühe, das Wichtige vom Unwichtigen zu trennen. Verfolgt von ihren Erinnerungen werden auch Patienten mit einem posttraumatischen Stresssyndrom. Schon ein bekannter Geruch reicht oft aus – und die Schrecken der Vergangenheit werden für sie wieder lebendig. Hilfe ließe sich hier vielleicht in den Genen finden, dachte sich der Basler Psychologe Dominique de Quervain. Zusammen mit seinem Kollegen Andreas Papassotiropoulos bat er deshalb rund 1800 junge Schweizer zu einem Test:
"Der erste Schritt war die Untersuchung einer großen Anzahl von gesunden Probandinnen und Probanden, die die Aufgabe hatten, sich an positive und negative Ereignisse zu erinnern. Anschließend haben wir eine großangelegte genetische Studie durchgeführt mit dem Ziel, Gene zu identifizieren, die mit dieser Fähigkeit zusammenhängen."
Weil solche Erbgutabschnitte interessante Kandidaten für die Arzneimittelforschung wären, hatten sich schon andere auf die Suche gemacht. Bisher allerdings weitestgehend erfolglos.
de Quervain: "Ein großes Problem der bisherigen genetischen Ansätze war, dass man sich auf die signifikantesten Effekte konzentriert. Das heißt, man hat so getan, als seien psychiatrische Erkrankungen einfach zu erklären genetisch, als hätten sie zu tun mit einem oder zwei Genen. Dem ist definitiv nicht so."
Die beiden Forscher wählten deshalb eine andere Suchmethode.
"Das Neue an unserem Ansatz ist nur, dass wir uns nicht mehr auf Einzelgene konzentrieren, sondern wir schauen uns funktionelle Gennetzwerke an. Der Vorteil eines Gennetzwerkes ist, dass dieses Netzwerk Ihnen Informationen gibt über den gesamten Ablauf und nicht nur Informationen über einen Spieler dieses molekularen Prozesses."
Die Überlegung: Wenn nicht die Störung eines einzelnen Gens, sondern erst die gestörte Zusammenarbeit verschiedener Gene anfällig für ein posttraumatisches Stresssyndrom macht, dann verbindet die Betroffenen nicht unbedingt eine einzige Mutation. Dann verrät erst ein bestimmtes Muster aus mehreren Gen-Veränderungen, ob jemand anfällig für die Krankheit ist. Etwa 20 Ziele für Medikamente, die die Erinnerung beeinflussen könnten, spürten die Wissenschaftler mit ihrer neuen Methode auf.
"Wir wollten möglichst schnell natürlich zu Resultaten kommen, also testen, ob so ein Medikament auch wirklich das Gedächtnis beeinflusst, und haben deshalb geschaut, gibt es in der Schweiz erhältliche Medikamente, mit denen man eine Untersuchung durchführen kann."
Das Mittel, auf das sie stießen, gibt es rezeptfrei in jeder deutschen Apotheke. Es handelt sich um ein Antiallergikum: den Wirkstoff Diphenhydramin.
"Wir hatten das Medikament verabreicht und dann im Prinzip das Gleiche wie bei der genetischen Studie gemacht. Nämlich die Probanden hatten Bilder zu sehen bekommen, emotionale und neutrale, und mussten die auch 90 Minuten später wieder erinnern. Und wir haben gesehen, dass unter Diphenhydramin dann signifikant weniger negative Bilder erinnert wurden, hingegen die positiven und neutralen Bilder wurden nicht beeinträchtigt."
Wie das Medikament genau wirke, wisse man noch nicht, meinen die beiden Mediziner. Das sollen weitere Untersuchungen noch zeigen. In einem Punkt legen sie sich jedoch heute schon fest: Allergiker können das Mittel weiter bedenkenlos einnehmen – es sollte nur am besten nicht direkt vor einer Examensprüfung sein.
