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Erlernter Musikgeschmack

Biologie. – Fast jede Vogelart hat ihr eigenes, immer gleiches Lied. So auch der Kanarienvogel, doch bevor der in der Brutsaison die klassische Arie trällert, kann er zumindest im Labor eine Sturm-und-Drang-Phase durchleben, wie die neue Ausgabe der Zeitschrift "Science" berichtet.

Von Volkart Wildermuth | 13.05.2005
    Die klassische Melodie des Kanarienvogels. Kurze Silben werden mehrmals wiederholt und dann gewechselt also: AAA, BBBBB, CCCC und so weiter, eine Vogelgrammatik, so festgelegt wie das Reimschema eines Sonetts. Schon die Küken im Nest rufen lauter nach Futter, wenn sie diese Klänge hören. Und wenn sie die ersten eigenen Töne piepsen, findet sich in ihren Stimmübungen das gleiche Muster.

    Timothy Gardner von der Rockefeller Universität in New York wollte wissen, ob Kanarienvögel denn überhaupt nicht aus dieser strengen Liedform ausbrechen können. Dazu zog er Jungvögel in schalldichten Kabinen auf, so dass sie nie die Melodien eines ausgewachsenen Kanaries hören konnten. Stattdessen ertönte alle zwei Stunden ein Lied, das sich für Kanarienvögel wie der reinste Punk anhören muss: auch wenn die Silben vertraut klingen, es gibt keine einzige Wiederholung. Die Dauerbeschallung zeigte Wirkung. Nach einem Jahr sangen die Kanarienvögel nicht klassische Melodien, sondern eine exakte Kopie des Punksongs. Gardner:

    "Wir dachten, Jungvögel haben ein Gehirn, das speziell darauf ausgelegt ist, das Lied ihrer eigenen Art zu kopieren. Überraschender Weise sind die jungen Kanarienvögel aber in der Lage ganz unterschiedliche Melodien zu imitieren."

    Verblüfft spielte Timothy Gardner anderen Jungvögeln einen zweiten Punksong vor: Und auch der wurde begeistert aufgenommen. Statt wie erwartet, starr festgelegt zu sein, haben junge Kanarienvögel also die Fähigkeit auch neue Formen aufzugreifen. Bis zu zehn Sekunden dauerte ihre Kopie des Punksongs. Eine beachtliche Leistung, wenn man bedenkt, dass erwachsene Kanarienvögel ihre Wiederholungsarien gerade mal mit zweieinhalb Sekunden Klangmaterial füllen. Doch die Flexibilität der jugendlichen Sturm-und-Drang-Phase endete mit dem Nahen der Brutperiode. Die Testkanaries formten den Punksong um, übernahmen nur einige Silben und pressten sie in die Form der klassischen Kanarienarie mit ihrem Muster aus Wiederholungen. Gardner:

    "Auf eine Art war ich richtig schockiert. Diese Vögel hatten so hart an der Kopie dieses künstlichen Liedes gearbeitet, viele Stunden jeden Tag, fast ein Jahr lang, nur um dann alles umzuarbeiten, wenn sie erwachsen werden. Eine paradoxe Abfolge, aber vielleicht benötigt das Lernen von Liedern diese Freiheit in der Jugend."

    Es könnte sein, das erst das Experimentieren mit Klangvarianten dem Vogel eine perfekten Kontrolle über seinen Schnabel erlaubt. In der Brutsaison ist dann aber Schluss mit lustig. Auf Punksongs reagieren Kanarienweibchen nicht, die mögen perfekt dargebrachte Wiederholungen. Deshalb sorgt ein Schuss des männlichen Hormons Testosteron für einen Umbau im Gehirn und die Rückkehr zur klassischen Liedform. Der Prozess erinnert Timothy Gardner an die Entstehung neuer Sprachen auf Sklavenplantagen. Hier verständigten sich verschleppte Menschen aus ganz verschiedenen Nationen über ein Mischmasch aus Satzfetzen der unterschiedlichen Muttersprachen:

    "Neu geborene Kinder formen unter diesen Bedingungen innerhalb einer Generation eine neue, vollständige Sprache. Wahrscheinlich werden angeborene Grammatikregeln nach und nach aktiviert, während die Kinder älter werden. Sie nehmen das Wortmaterial auf und bringen es in eine neue, korrekte Form. So ähnlich wandeln die Kanarienvögel unnatürliche Klänge letztlich in ein Kanarienlied um."

    Manchmal blitzt bei den Vögeln allerdings eine Erinnerung an die jugendliche Rebellion durch. Für Timothy Gardner ein Zeichen, dass der pubertäre Hormonschwall die Erfahrungen der Jugend nicht löscht, sondern nur zurückdrängt.