Heute ist dieser Ort zur Stätte der Verehrung für Buddha und ein Pilgerzentrum für alle Buddhisten. Dort befindet sich natürlich nicht mehr nur ein mächtiger Baum. Eine kleine Stadt hat sich drum herum entwickelt, die nach Buddha benannt Bodhgaya heißt, und die - Buddha sei dank- wie eine Insel des Friedens inmitten dem bürgerkriegsähnlichen Chaos des Bundesstaates Bihar liegt. Oder ist die Friedfülle doch eher der indischen Armee zu verdanken, die den Pilgerort vor Übergriffen bewaffneter Banden schützt?
Eine Pilgereise kann also auch so beginnen: In Gaya, einer der tristen Stadt von einer halben Million Einwohner, vom grauem Bahnhof, auf staubigen Straßen, zwischen langweiligen Betonhäusern zum Parkplatz der Auto-Rikschas, und der Fahrer ruft: "Schnell, es dämmert schon. Nachts ist die Fahrt gefährlich, also los, steigen Sie schon ein”.
Von Gaya nach Bodhgaya, kaum zwanzig Kilometer durch Indiens Armenhaus. Zwanzig Morde täglich im Bundesstaat Bihar: Kämpfe unter den Angehörigen der unterschiedlichen Kasten, Bandenkriege, Raub, Entführungen. So steht es in der Zeitung. Und in der Rikscha erklärt es ein junger Mann so:
"In meinem Dorf gibt es keinen Strom, kein Wasser, keine Toiletten. Die Menschen streiten nur, manchmal werfen sie selbstgebastelte Bomben aufeinander. Sie trinken zuviel, auch mein Vater trinkt. Aber sie sind glücklich so, sie trinken und streiten, es ist ein Leben ohne Zwang. Es gibt kein Wasser. Lasst uns doch was tun! Aber sie sagen: wir brauchen nichts. Käme es von allein, schön, wenn nicht, dann eben nicht."
Die Landschaft auf der einstündigen Fahrt: flach, grün. Die Orte: einfache Lehmbaracken. Überall Menschen: dunkelhäutig, Frauen: in bunten Saris, Männer: mit simplen Wickeltüchern, Kinder: oft nackt. Die Fahrt: ohne Halt
"Es gibt auch in unseren Dörfern viele Tempel, aber nur wenige gehen dahin. Die Menschen bleiben lieber Zuhause und reißen Witze. In die Schule gehen auch nur die Hellhäutigen. In Bihar hängt alles von der Hautfarbe ab. "Schwarzer Mann” rufen sie mir zu. So ist es in unserem Dorf. Aber in Bodhgaya, wo ich jetzt lebe, ist es viel, viel besser."
Eine Kaserne der indischen Armee markiert den Ortsrand von Bodhgaya, Klosteranlagen den Weg in die Stadt hinein, eine fünfzig Meter hohe, mit Buddhafiguren verzierte Tempel-Pyramide den Ortskern.
"Alles hat eine Ursache, sagt Buddha. Hier ist es sehr friedvoll, Buddha zog umher, hier ließ er sich nieder, hier wurde er erleuchtet. Und deshalb ist Bodhgaya auch heute noch so friedlich, denn das war wiederum eine Ursache."
Bodhgaya: "Bodh” steht für Buddha, Buddha steht für Erleuchtung, seine Erleuchtung, die vor über 2.500 Jahren also hier stattgefunden hatte. Der Tempel aus dem 11. Jahrhundert heißt Mahabodi "Großer Bodi-Baum-Tempel”. Unter einem Bodi-Baum nämlich saß Buddha. Der Baum ist noch da, zumindest ein Ableger eines Ablegers davon. Denn als vor 2.000 Jahren, als der ältere Hinduismus fast verdrängt und ganz Indien buddhistisch war, wurde ein Ableger vom echten Baum nach Sri Lanka verpflanzt. Als 500 n. Chr. Mönche aus Sri Lanka in Bodhgaya einen ersten Tempel erbauten, brachten sie diesen Ableger wieder mit. Auch die Reisegruppen von Pilgern kommen meist aus Sri Lanka, dem einzigen Land in Südasien, das buddhistisch geblieben ist, nachdem in Indien Könige und Brahmanen den Hinduismus wiederbelebt hatten. Der Stamm des Baumes ist mit Tüchern umwickelt, von Gebetsfahnen umweht, mit Stelen umstellt und von Lotusblüten umkränzt, Pilger und Mönche umrunden ihn.
Bilip Kumar leitet die Bibliothek des Tempels:
"Buddhisten glauben nicht an Gott oder göttliches. Hindus glauben an viele Götter, das ist der Unterschied. Beide aber lehren den gleichen Weg: Erreiche dein wahres unveränderliches "Ich” durch Meditation. Meist ist der Geist unruhig, Gedanken tragen uns ständig umher, jede neue Erinnerung verändert uns. So bleibt auch das "Ich” nie gleich. Erst wenn du nicht mehr gezwungen bist vom unruhigen Geist oder von der Außenwelt, hast du den neuen Zustand erreicht: das Nirwana. Nirwana ist nicht ein Paradies. Das Paradies ist bloß eine Einbildung unseres Geistes, Nirwana ist hingegen das Ende jenes Geisteszustandes, in dem wir derartige Vorstellungen nötig haben. Nirwana ist nicht das Ende, sondern nur das Ende deines heutigen Zustandes."
Bilip Kumar hat recht: es ist friedlich in Bodhgaya. Man kann es sehen: Am großen Tempel lassen tibetische Mönche - manche lesend und Gebete murmelnd, andere in einem rhythmischen Auf und Ab - das Ringen um innere Ruhe anschaulich werden. Zwischen dem Wäldchen aus Steinsäulen, der den Tempel umgibt, sitzen Meditierende - manche mit geschlossenen Augen starr im Lotussitz, andere lässiger mit einem Buch auf dem Kopf die gerade Haltung noch erzwingend.
Und in der Stadt, vorm Haupttempel ist’s verkehrsberuhigt. Bodhgaya, das Pilgerzentrum und Touristenmagnet ist Indiens einzige Stadt mit einer Fußgängerzone. Bäume spenden in exakten Abständen Schatten, eine Teeküche hat Schemel aufgestellt. Ein Mann bedient den Benzinkocher: "In Bodhgaya ist es friedlich, aber wo ich her komme, nur wenige Kilometer von hier, oh je...”. Ein Junge bringt die georderten Getränke. "Das mein Cousin. Der hat großes Glück gehabt, er ist in Bodhgaya geboren worden.”
"Es gibt viele Ursachen für die heutige schlechte Lage in Bihar. Politik, Analphabetismus, Kolonialzeit, vor allem aber werden die unteren Kasten und Klassen von den oberen ausgebeutet. Bei den Hindus gibt es Kastenschranken, im Buddhismus nicht. Ich als Buddhist erkenne Kasten nicht an, denn alles ist veränderlich, es gibt nichts Feststehendes. Ich erdulde nicht den derzeitigen Zustand, denn auch ich kann vorrücken. Ich bin nicht als Buddhist geboren, ich war Hindu. Meine Eltern sind Hindus. Doch ich bin vorrückt, bin Buddhist geworden, denn ich glaube an das Wissenschaftliche."
Bodhgaya besteht aus, natürlich Häusern, aber vor allem eben Tempeln und Klöstern. Der Hinduismus kennt keine Mönchsgemeinschaften, hinter dem großen Bodibaum-Tempel steht noch ein einziges altes Hindu-Heiligtum, das ist halbverfallenen. Die Kloster in Bodhgaya hingegen sind meist brandneu. Erbaut wurden sie von Mönchen und deren Geldgebern aus den buddhistischen Ländern Asiens: Die Nonnen und Mönche kommen aus Birma, Sri Lanka, Thailand, Korea, Buthan, Sikkim, Nepal, Vietnam, Chinesen aus Taiwan oder Japaner, Tibeter unterhalten gleich zwei Tempelanlagen. Und schließlich können auch Touristen in den Klöstern meditieren und diskutieren oder wie ein Mönch oder eine Nonne leben: früh raus, nichts essen ab Mittag, früh ins Bett, außerdem: Kein Fleisch, kein Fisch, nicht rauchen, nicht trinken, und kein Besuch auf dem Zimmer.
"Das Leben ist schmerzensreich. Aber hier suche ich die hundertprozentige Freude. Ich bin noch kein Mönch, ich bin Novize, aber ich weiß, dass Freude in der äußeren Welt nicht zu finden ist, deshalb bin ich hier. Ich habe zu essen und Zeit zu lernen und meditieren. Denn wenn ich unwissend bleibe, ist hundertprozentige Freude nicht möglich. Ich sollte ganz unabhängig werden von äußeren Dingen und Lebensumständen. Jetzt bin ich froh, weil wir miteinander reden. Doch diese Freude ist ganz selbstsüchtig. Ich sollte mir statt dessen egal sein, ob ich glücklich oder unglücklich bin."
"Wo leben hier eigentlich indische Mönche?” fragte ich im prachtvollen thailändischen Kloster. "Die hausen in einer kleinen Hütte, dahinten, wir geben ihnen manchmal was zu essen”, sagte ein Mönch aus Thailand. So kann ein Kloster also auch aussehen: Ein Garten, darin ein schlichtes einstöckiges Haus mit fünf Zimmern und einer Meditationshalle. Ein Mönch lebt darin und unterrichtet vier Novizen. Soumit Bodi ist einer von ihnen. Auch er ist als Hindu geboren, ist erst seit kurzem Buddhist.
"Ich habe es allein entschieden, dass es der richtige Weg ist. Es ist nicht schwer dem Buddhismus zu folgen. Das ist keine Frage von schwer oder leicht, hart oder weich. Backstein ist im Vergleich zu Eisen weich, gegenüber Schlamm aber hart. Ein und dasselbe Objekt bezeichnet man als hart und weich. Das zeigt: Unterscheidungen gibt es nur im Geiste. Froh und unglücklich gibt es nur im Geiste. Den Geist muß man ins Gleichgewicht bringen, das ist alles."
Die Fußgängerzone: Bettler, Händler, Flaneure. Drei Jungs stehen beieinander: "Hey kommt, wir kaufen uns was zu saufen”, sagt der eine. "Lasst es sein, es wird euch keine anhaltende Freude bringen”, der andere, "Hey, jetzt quatsch nicht wie ein Mönch ...”, der dritte.
"Unser Land steht erst seit fünfzig Jahren wieder auf eigenen Beinen, wir müssen unseren Weg noch finden. Das geht nur durch Bildung. Die Armut spielt keine Rolle. Es ist egal, ob wir reich sind oder arm, das Problem ist Unwissenheit. Die Menschen hegen viele Wünsche, deshalb haben sie auch viele Probleme. Manch einer denkt: Was soll ich tun? Dann kommt er zum Buddhismus und führt von da an ein bescheidenes und friedvolles Leben."
Das Kloster der japanischen Buddhisten ist das größte in Bodhgaya. Neben Tempelbauten gibt es eine Medizinstation, ein Internat und einen Kindergarten. "Sportsday” ist heute, Kinder marschieren über den gepflegten Rasen, die indischen Kindergärtnerinnen in langen Saris zackig vorweg, der japanischer Kampfrichter in dunkelblauem Overall und Schirmmütze pfeift, und die Kleinen rennen im geordneten Wettlauf den Sportplatz einmal auf und einmal ab.
Glück nennt es Deepak Kumar, daß Buddha einst nach Bodhgaya gekommen war. Denn ihm folgen die Buddhisten aus aller Welt, und denen die Armee. "Die Japaner”, sagt er, "bezahlen in Bodhgaya für alles, fließend Wasser, Bäume, Straßen, die Fußgängerzone, und die Armee sorgt für Ruhe, aber draußen im Lande...
"Bihar war immer arm, aber heute ist es total arm. In den Dörfern hungern die Menschen, es gibt keine Straßen. In den Dörfern funktioniert nichts mehr. Recht und Ordnung sind zusammen gebrochen, Jeden Tag werden 2 bis 3 Menschen ermordet, und 2 bis 3 gekidnapped. Kasten bekämpfen sich gegenseitig. Die Menschen sind ungebildet, sie denken nicht selbständig, sie denken nur an Rache. Wenn doch nur einmal einer nicht zurückschlagen würde. Wenn einmal zwei Leute umgebracht würden, und die betroffene Seite täte nichts, dann wäre es beendet. "
Am Rande der Innenstadt, gleich bei der Fußgängerzone ein flacher Bau, darin drei Räume mit Etagenbetten. Platz für fünfundvierzig Jungen und Mädchen. Auch so kann also ein Internat aussehen. Deepak Kumar ist der Leiter der Hilfsorganisation People first: "Wir unterhalten Schulen in 18 Dörfern für 2.000 Schüler und bringen Kinder in dieses Internat nach Bodhgaya, wo sie in Frieden weiter lernen können, denn Bildung”, sagt er, "ist der einzige Weg, etwas zu verändern”.
"Die Eltern müssen auch gebildet werden. Einmal wollte ich einen Jungen in eine unserer Schulen unterbringen. Die Großmutter fragte mich: Warum wollte ihr meine Familie töten, denn wenn jemand den Luxus einer Bildung genießt, wird ein anderes Familienglied dafür sterben müssen. Wäre jemand gestorben, hätten sie gesagt: Du bist Schuld. Da bin ich sofort wieder aus dem Haus gelaufen. Diese Familie war total ungebildet."
Auch Bodhgaya ist in Indien: Am Ende der Fußgängerzone ist ein Markt, bunt, laut, eng und mit heiligen Kühe auf Raubzug an Gemüseständen. Und das ärmliche Bihar beginnt gleich am Ortsrand: "Hello friend”, ruft ein Kutscher, "Bitte steigen Sie ein, ich und meine Pferde haben lange nichts gegessen”.
"Das Leiden ist eine Grundzug des menschlichen Lebens. Die Frage ist: Woher rührt es? Neid und Habgier? Das ist die schlimmste Form des Leidens. Haben und Haben wollen führt dazu, daß Habende auf Kosten der Habenichtse leben. Und es ist der Grund für die Unsicherheit in Bihar. Doch Leiden muß nicht nur schlecht sein: Wenn jemand anderes Mangel an Essen, Wasser, Kleidung leidet, dann - hat Buddha gesagt - sollte dieses Leiden das edelste aller Gefühle in dir hervorrufen: Mitgefühl."
Rana Pratap, einst Vorsitzender des Verwaltungsrates des Mahabodhi-Tempels, ist Professor an der Magadha-Universität von Bodhgaya. Weit hinter dem Ort, gerade noch im Schutzbereich der indischen Armee, liegt das weitläufige Gelände, fast ein Park, mit Lotusblumenteichen darin. Der Gärtner fischt zwei Blüten heraus, und deutet auf die ferne Silhouette des großen Tempels: Leg sie Buddha zu Füßen.
"Das ist die Erleuchtung: Der Mittelweg, der zwischen Extremen hindurch führt. Verübe keine Exzesse. Damit hatte Buddha nichts neues gesagt, aber er war der einzige, der diese Werte verkörpert hat. Deshalb kann man ihn anbeten, nicht als Gott, aber als Mensch des Mitleidens und Mitfühlens. Ein Mensch, der Mitgefühl hat, ist der beste in einer Gesellschaft. Doch das Mitgefühl kommt nicht von allein, man muß im Innern danach verlangen und darüber meditieren. Du versuchst über dich selbst klar zu werden ohne deine Fehler bei anderen zu suchen. Schau in dich hinein, dann wirst ein anderer Mensch. Und das bräuchten wir in Bihar."
In der Fußgängerzone von Bodhgaya. Im Restaurant sagt der Wirt: "Hier im Ort ist es gut, aber draußen in Bihar, oh je, da sind alle verrückt, ihnen fehlt die Bildung”. Ein Gast sagt: "Ich finde es draußen besser, dort ist das Leben echt. Hier in Bodhgaya sind alle verrückt, sie lesen zuviel und tun so glücklich - und Sie, wo finden Sie es besser?”
"Wenn die Umwelt so schmerzlich ist, wie in Bihar, wird selbst der beste Mensch verrückt. Die buddhistischen Mönche aber könnten diese Lage ändern. Sie könnten dafür ihr Leben opfern. Ich habe mit vielen Mönchen in Bodhgaya gesprochen: "Wenn du dein Leben ohnedies schon auf diese Weise bestimmt hast, dann geh doch bitte schön in die üblen Orte, predige dort, lebe die Menschlichkeit vor. Die Menschen werden beginnen nachzudenken: "Ja, alle Menschen sind gleich, man sollte sich nicht gegenseitig umbringen”. Die übelsten Orte sind ganz nah, zehn, zwanzig Kilometer. Ich fordere die Mönche immer wieder auf dahinzugehen, denn auch sie sind Glieder dieser Gesellschaft, aber sie sind bislang nicht gefolgt."
Und ich? Die Fahrt von Bodhgaya zurück in die Kreisstadt Gaya, vorbei an den kargen Feldern, den armen Hütten, führte noch einmal das Land, wohin diese Reise zum Ort von Buddhas Erleuchtung eigentlich geführt hatte. Die Auto-Rikscha fuhr schnell, es dämmert schon. Der Fahrer warnte noch: "Passen Sie bloß im Bahnhof auf, da wird geklaut”, und ich bestieg den Spätzug, um in der Nacht den Bundesstaat Bihar ohne weiteren Halt zu verlassen.
Eine Pilgereise kann also auch so beginnen: In Gaya, einer der tristen Stadt von einer halben Million Einwohner, vom grauem Bahnhof, auf staubigen Straßen, zwischen langweiligen Betonhäusern zum Parkplatz der Auto-Rikschas, und der Fahrer ruft: "Schnell, es dämmert schon. Nachts ist die Fahrt gefährlich, also los, steigen Sie schon ein”.
Von Gaya nach Bodhgaya, kaum zwanzig Kilometer durch Indiens Armenhaus. Zwanzig Morde täglich im Bundesstaat Bihar: Kämpfe unter den Angehörigen der unterschiedlichen Kasten, Bandenkriege, Raub, Entführungen. So steht es in der Zeitung. Und in der Rikscha erklärt es ein junger Mann so:
"In meinem Dorf gibt es keinen Strom, kein Wasser, keine Toiletten. Die Menschen streiten nur, manchmal werfen sie selbstgebastelte Bomben aufeinander. Sie trinken zuviel, auch mein Vater trinkt. Aber sie sind glücklich so, sie trinken und streiten, es ist ein Leben ohne Zwang. Es gibt kein Wasser. Lasst uns doch was tun! Aber sie sagen: wir brauchen nichts. Käme es von allein, schön, wenn nicht, dann eben nicht."
Die Landschaft auf der einstündigen Fahrt: flach, grün. Die Orte: einfache Lehmbaracken. Überall Menschen: dunkelhäutig, Frauen: in bunten Saris, Männer: mit simplen Wickeltüchern, Kinder: oft nackt. Die Fahrt: ohne Halt
"Es gibt auch in unseren Dörfern viele Tempel, aber nur wenige gehen dahin. Die Menschen bleiben lieber Zuhause und reißen Witze. In die Schule gehen auch nur die Hellhäutigen. In Bihar hängt alles von der Hautfarbe ab. "Schwarzer Mann” rufen sie mir zu. So ist es in unserem Dorf. Aber in Bodhgaya, wo ich jetzt lebe, ist es viel, viel besser."
Eine Kaserne der indischen Armee markiert den Ortsrand von Bodhgaya, Klosteranlagen den Weg in die Stadt hinein, eine fünfzig Meter hohe, mit Buddhafiguren verzierte Tempel-Pyramide den Ortskern.
"Alles hat eine Ursache, sagt Buddha. Hier ist es sehr friedvoll, Buddha zog umher, hier ließ er sich nieder, hier wurde er erleuchtet. Und deshalb ist Bodhgaya auch heute noch so friedlich, denn das war wiederum eine Ursache."
Bodhgaya: "Bodh” steht für Buddha, Buddha steht für Erleuchtung, seine Erleuchtung, die vor über 2.500 Jahren also hier stattgefunden hatte. Der Tempel aus dem 11. Jahrhundert heißt Mahabodi "Großer Bodi-Baum-Tempel”. Unter einem Bodi-Baum nämlich saß Buddha. Der Baum ist noch da, zumindest ein Ableger eines Ablegers davon. Denn als vor 2.000 Jahren, als der ältere Hinduismus fast verdrängt und ganz Indien buddhistisch war, wurde ein Ableger vom echten Baum nach Sri Lanka verpflanzt. Als 500 n. Chr. Mönche aus Sri Lanka in Bodhgaya einen ersten Tempel erbauten, brachten sie diesen Ableger wieder mit. Auch die Reisegruppen von Pilgern kommen meist aus Sri Lanka, dem einzigen Land in Südasien, das buddhistisch geblieben ist, nachdem in Indien Könige und Brahmanen den Hinduismus wiederbelebt hatten. Der Stamm des Baumes ist mit Tüchern umwickelt, von Gebetsfahnen umweht, mit Stelen umstellt und von Lotusblüten umkränzt, Pilger und Mönche umrunden ihn.
Bilip Kumar leitet die Bibliothek des Tempels:
"Buddhisten glauben nicht an Gott oder göttliches. Hindus glauben an viele Götter, das ist der Unterschied. Beide aber lehren den gleichen Weg: Erreiche dein wahres unveränderliches "Ich” durch Meditation. Meist ist der Geist unruhig, Gedanken tragen uns ständig umher, jede neue Erinnerung verändert uns. So bleibt auch das "Ich” nie gleich. Erst wenn du nicht mehr gezwungen bist vom unruhigen Geist oder von der Außenwelt, hast du den neuen Zustand erreicht: das Nirwana. Nirwana ist nicht ein Paradies. Das Paradies ist bloß eine Einbildung unseres Geistes, Nirwana ist hingegen das Ende jenes Geisteszustandes, in dem wir derartige Vorstellungen nötig haben. Nirwana ist nicht das Ende, sondern nur das Ende deines heutigen Zustandes."
Bilip Kumar hat recht: es ist friedlich in Bodhgaya. Man kann es sehen: Am großen Tempel lassen tibetische Mönche - manche lesend und Gebete murmelnd, andere in einem rhythmischen Auf und Ab - das Ringen um innere Ruhe anschaulich werden. Zwischen dem Wäldchen aus Steinsäulen, der den Tempel umgibt, sitzen Meditierende - manche mit geschlossenen Augen starr im Lotussitz, andere lässiger mit einem Buch auf dem Kopf die gerade Haltung noch erzwingend.
Und in der Stadt, vorm Haupttempel ist’s verkehrsberuhigt. Bodhgaya, das Pilgerzentrum und Touristenmagnet ist Indiens einzige Stadt mit einer Fußgängerzone. Bäume spenden in exakten Abständen Schatten, eine Teeküche hat Schemel aufgestellt. Ein Mann bedient den Benzinkocher: "In Bodhgaya ist es friedlich, aber wo ich her komme, nur wenige Kilometer von hier, oh je...”. Ein Junge bringt die georderten Getränke. "Das mein Cousin. Der hat großes Glück gehabt, er ist in Bodhgaya geboren worden.”
"Es gibt viele Ursachen für die heutige schlechte Lage in Bihar. Politik, Analphabetismus, Kolonialzeit, vor allem aber werden die unteren Kasten und Klassen von den oberen ausgebeutet. Bei den Hindus gibt es Kastenschranken, im Buddhismus nicht. Ich als Buddhist erkenne Kasten nicht an, denn alles ist veränderlich, es gibt nichts Feststehendes. Ich erdulde nicht den derzeitigen Zustand, denn auch ich kann vorrücken. Ich bin nicht als Buddhist geboren, ich war Hindu. Meine Eltern sind Hindus. Doch ich bin vorrückt, bin Buddhist geworden, denn ich glaube an das Wissenschaftliche."
Bodhgaya besteht aus, natürlich Häusern, aber vor allem eben Tempeln und Klöstern. Der Hinduismus kennt keine Mönchsgemeinschaften, hinter dem großen Bodibaum-Tempel steht noch ein einziges altes Hindu-Heiligtum, das ist halbverfallenen. Die Kloster in Bodhgaya hingegen sind meist brandneu. Erbaut wurden sie von Mönchen und deren Geldgebern aus den buddhistischen Ländern Asiens: Die Nonnen und Mönche kommen aus Birma, Sri Lanka, Thailand, Korea, Buthan, Sikkim, Nepal, Vietnam, Chinesen aus Taiwan oder Japaner, Tibeter unterhalten gleich zwei Tempelanlagen. Und schließlich können auch Touristen in den Klöstern meditieren und diskutieren oder wie ein Mönch oder eine Nonne leben: früh raus, nichts essen ab Mittag, früh ins Bett, außerdem: Kein Fleisch, kein Fisch, nicht rauchen, nicht trinken, und kein Besuch auf dem Zimmer.
"Das Leben ist schmerzensreich. Aber hier suche ich die hundertprozentige Freude. Ich bin noch kein Mönch, ich bin Novize, aber ich weiß, dass Freude in der äußeren Welt nicht zu finden ist, deshalb bin ich hier. Ich habe zu essen und Zeit zu lernen und meditieren. Denn wenn ich unwissend bleibe, ist hundertprozentige Freude nicht möglich. Ich sollte ganz unabhängig werden von äußeren Dingen und Lebensumständen. Jetzt bin ich froh, weil wir miteinander reden. Doch diese Freude ist ganz selbstsüchtig. Ich sollte mir statt dessen egal sein, ob ich glücklich oder unglücklich bin."
"Wo leben hier eigentlich indische Mönche?” fragte ich im prachtvollen thailändischen Kloster. "Die hausen in einer kleinen Hütte, dahinten, wir geben ihnen manchmal was zu essen”, sagte ein Mönch aus Thailand. So kann ein Kloster also auch aussehen: Ein Garten, darin ein schlichtes einstöckiges Haus mit fünf Zimmern und einer Meditationshalle. Ein Mönch lebt darin und unterrichtet vier Novizen. Soumit Bodi ist einer von ihnen. Auch er ist als Hindu geboren, ist erst seit kurzem Buddhist.
"Ich habe es allein entschieden, dass es der richtige Weg ist. Es ist nicht schwer dem Buddhismus zu folgen. Das ist keine Frage von schwer oder leicht, hart oder weich. Backstein ist im Vergleich zu Eisen weich, gegenüber Schlamm aber hart. Ein und dasselbe Objekt bezeichnet man als hart und weich. Das zeigt: Unterscheidungen gibt es nur im Geiste. Froh und unglücklich gibt es nur im Geiste. Den Geist muß man ins Gleichgewicht bringen, das ist alles."
Die Fußgängerzone: Bettler, Händler, Flaneure. Drei Jungs stehen beieinander: "Hey kommt, wir kaufen uns was zu saufen”, sagt der eine. "Lasst es sein, es wird euch keine anhaltende Freude bringen”, der andere, "Hey, jetzt quatsch nicht wie ein Mönch ...”, der dritte.
"Unser Land steht erst seit fünfzig Jahren wieder auf eigenen Beinen, wir müssen unseren Weg noch finden. Das geht nur durch Bildung. Die Armut spielt keine Rolle. Es ist egal, ob wir reich sind oder arm, das Problem ist Unwissenheit. Die Menschen hegen viele Wünsche, deshalb haben sie auch viele Probleme. Manch einer denkt: Was soll ich tun? Dann kommt er zum Buddhismus und führt von da an ein bescheidenes und friedvolles Leben."
Das Kloster der japanischen Buddhisten ist das größte in Bodhgaya. Neben Tempelbauten gibt es eine Medizinstation, ein Internat und einen Kindergarten. "Sportsday” ist heute, Kinder marschieren über den gepflegten Rasen, die indischen Kindergärtnerinnen in langen Saris zackig vorweg, der japanischer Kampfrichter in dunkelblauem Overall und Schirmmütze pfeift, und die Kleinen rennen im geordneten Wettlauf den Sportplatz einmal auf und einmal ab.
Glück nennt es Deepak Kumar, daß Buddha einst nach Bodhgaya gekommen war. Denn ihm folgen die Buddhisten aus aller Welt, und denen die Armee. "Die Japaner”, sagt er, "bezahlen in Bodhgaya für alles, fließend Wasser, Bäume, Straßen, die Fußgängerzone, und die Armee sorgt für Ruhe, aber draußen im Lande...
"Bihar war immer arm, aber heute ist es total arm. In den Dörfern hungern die Menschen, es gibt keine Straßen. In den Dörfern funktioniert nichts mehr. Recht und Ordnung sind zusammen gebrochen, Jeden Tag werden 2 bis 3 Menschen ermordet, und 2 bis 3 gekidnapped. Kasten bekämpfen sich gegenseitig. Die Menschen sind ungebildet, sie denken nicht selbständig, sie denken nur an Rache. Wenn doch nur einmal einer nicht zurückschlagen würde. Wenn einmal zwei Leute umgebracht würden, und die betroffene Seite täte nichts, dann wäre es beendet. "
Am Rande der Innenstadt, gleich bei der Fußgängerzone ein flacher Bau, darin drei Räume mit Etagenbetten. Platz für fünfundvierzig Jungen und Mädchen. Auch so kann also ein Internat aussehen. Deepak Kumar ist der Leiter der Hilfsorganisation People first: "Wir unterhalten Schulen in 18 Dörfern für 2.000 Schüler und bringen Kinder in dieses Internat nach Bodhgaya, wo sie in Frieden weiter lernen können, denn Bildung”, sagt er, "ist der einzige Weg, etwas zu verändern”.
"Die Eltern müssen auch gebildet werden. Einmal wollte ich einen Jungen in eine unserer Schulen unterbringen. Die Großmutter fragte mich: Warum wollte ihr meine Familie töten, denn wenn jemand den Luxus einer Bildung genießt, wird ein anderes Familienglied dafür sterben müssen. Wäre jemand gestorben, hätten sie gesagt: Du bist Schuld. Da bin ich sofort wieder aus dem Haus gelaufen. Diese Familie war total ungebildet."
Auch Bodhgaya ist in Indien: Am Ende der Fußgängerzone ist ein Markt, bunt, laut, eng und mit heiligen Kühe auf Raubzug an Gemüseständen. Und das ärmliche Bihar beginnt gleich am Ortsrand: "Hello friend”, ruft ein Kutscher, "Bitte steigen Sie ein, ich und meine Pferde haben lange nichts gegessen”.
"Das Leiden ist eine Grundzug des menschlichen Lebens. Die Frage ist: Woher rührt es? Neid und Habgier? Das ist die schlimmste Form des Leidens. Haben und Haben wollen führt dazu, daß Habende auf Kosten der Habenichtse leben. Und es ist der Grund für die Unsicherheit in Bihar. Doch Leiden muß nicht nur schlecht sein: Wenn jemand anderes Mangel an Essen, Wasser, Kleidung leidet, dann - hat Buddha gesagt - sollte dieses Leiden das edelste aller Gefühle in dir hervorrufen: Mitgefühl."
Rana Pratap, einst Vorsitzender des Verwaltungsrates des Mahabodhi-Tempels, ist Professor an der Magadha-Universität von Bodhgaya. Weit hinter dem Ort, gerade noch im Schutzbereich der indischen Armee, liegt das weitläufige Gelände, fast ein Park, mit Lotusblumenteichen darin. Der Gärtner fischt zwei Blüten heraus, und deutet auf die ferne Silhouette des großen Tempels: Leg sie Buddha zu Füßen.
"Das ist die Erleuchtung: Der Mittelweg, der zwischen Extremen hindurch führt. Verübe keine Exzesse. Damit hatte Buddha nichts neues gesagt, aber er war der einzige, der diese Werte verkörpert hat. Deshalb kann man ihn anbeten, nicht als Gott, aber als Mensch des Mitleidens und Mitfühlens. Ein Mensch, der Mitgefühl hat, ist der beste in einer Gesellschaft. Doch das Mitgefühl kommt nicht von allein, man muß im Innern danach verlangen und darüber meditieren. Du versuchst über dich selbst klar zu werden ohne deine Fehler bei anderen zu suchen. Schau in dich hinein, dann wirst ein anderer Mensch. Und das bräuchten wir in Bihar."
In der Fußgängerzone von Bodhgaya. Im Restaurant sagt der Wirt: "Hier im Ort ist es gut, aber draußen in Bihar, oh je, da sind alle verrückt, ihnen fehlt die Bildung”. Ein Gast sagt: "Ich finde es draußen besser, dort ist das Leben echt. Hier in Bodhgaya sind alle verrückt, sie lesen zuviel und tun so glücklich - und Sie, wo finden Sie es besser?”
"Wenn die Umwelt so schmerzlich ist, wie in Bihar, wird selbst der beste Mensch verrückt. Die buddhistischen Mönche aber könnten diese Lage ändern. Sie könnten dafür ihr Leben opfern. Ich habe mit vielen Mönchen in Bodhgaya gesprochen: "Wenn du dein Leben ohnedies schon auf diese Weise bestimmt hast, dann geh doch bitte schön in die üblen Orte, predige dort, lebe die Menschlichkeit vor. Die Menschen werden beginnen nachzudenken: "Ja, alle Menschen sind gleich, man sollte sich nicht gegenseitig umbringen”. Die übelsten Orte sind ganz nah, zehn, zwanzig Kilometer. Ich fordere die Mönche immer wieder auf dahinzugehen, denn auch sie sind Glieder dieser Gesellschaft, aber sie sind bislang nicht gefolgt."
Und ich? Die Fahrt von Bodhgaya zurück in die Kreisstadt Gaya, vorbei an den kargen Feldern, den armen Hütten, führte noch einmal das Land, wohin diese Reise zum Ort von Buddhas Erleuchtung eigentlich geführt hatte. Die Auto-Rikscha fuhr schnell, es dämmert schon. Der Fahrer warnte noch: "Passen Sie bloß im Bahnhof auf, da wird geklaut”, und ich bestieg den Spätzug, um in der Nacht den Bundesstaat Bihar ohne weiteren Halt zu verlassen.