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Erlösung und Verführung

Am 25. Juli sind die Bayreuther Festspiele mit Wagners "Parsifal" eröffnet worden. Der opulenten Inszenierung von Stefan Herheim hat Dirigent Daniele Gatti eine transparente und sehr, sehr langsame Musik entgegen gestellt.

Von Christoph Schmitz |
    Wenn der "Parsifal" als Wagners letztes Werk die Summe seines Schaffens ist, dann versucht die Inszenierung von Stefan Herheim so etwas wie die Summe der Parsifal-Deutungen zu ziehen. Man könnte auch sagen, Herheim übersetzt in Bilder alles, was zum "Parsifal" je gedacht, geschrieben und kritisiert worden ist. Und das Kongeniale dabei: die zahlreichen Deutungsansätze als psychologische Studie, als Kunstreligion oder Operettenspaß verbinden sich zu einem großen stimmigen, magischrealen Imaginationsraum, der einen über weite Strecken aus dem Staunen nicht entlässt. Was Herheim erzählt, beginnt schon während des Vorspiels zum ersten Aufzug.

    In einer Gründerzeitvilla, die an Wahnfried erinnert, liegt eine Frau im Bett und ringt mit dem Tod. Priester und Arzt stehen ihr bei, ihren kleinen Jungen im Matrosenanzug versucht sie ein letztes Mal an sich zu drücken, doch der verweigert sich. Diese Frau ist Herzeleide, Parsifals Mutter. So übersetzt Herheim immer wieder die im Verlauf des Stücks als Reminiszenz lediglich erzählten Geschichten in konkrete Bilder, macht die Vergangenheit sichtbar, pflanzt die Vergangenheit der Gegenwart ein, schichtet die Zeiten im Augenblick. Gurnemanz zentralen Satz, "zum Raum wird hier die Zeit", hat Herheim szenisch umgesetzt. Und dadurch, dass die Kulissen permanent in Bewegung sind, der Raum gestaucht und wieder geöffnet wird, entsteht eine schwebende Atmosphäre, die das zeitliche Kontinuum und den dreidimensionalen Raum auflöst.

    Nach Herzeleides Tod phantasiert der kleine Parsifal, wie er von seiner Mutter verführt wird. Ein alles verschlingendes Bett wird zum Zeichen des gierigen Eros, der den Menschen mit Haut und Haar für sich beansprucht. Hier assoziiert Herheim einerseits psychoanalytische Zugriffe aufs Werk und thematisiert die Leib-Skepsis der Gralsgemeinschaft und die Sexualitätsphobie der Wagnerzeit. Der Regisseur geht aber noch weiter: Die Männerrunde der Ritter rekrutiert ihren Kreis nicht selbstlos aus Knappen, sondern bedient sich ihrer als Lustobjekt. Aber auch bei diesem homoerotischen und pädophilen Deutungsversuch bleibt Herheim nicht stehen, den Gral selbst interpretiert er als Kind: Im Kind steckt alle Hoffnung auf eine bessere Welt, das aber von Interessen und Ideologien immer wieder missbraucht wird. Und sogleich wird auf einen weiteren Interpretationsansatz verwiesen, der einen antisemitischen Zug der Komposition herauslesen will: Klingsor, der Böse, der sich selbst kastriert hat, als der beschnittene Jude, Kundry, die Jüdin, die aus dem rassenreinen Kreis verbannt wird.

    Thomas Jesatko sang den Klingsor mit kraftvollem Bass. Überhaupt war die Sängerleistung in dieser Bayreuther Neuinszenierung insgesamt auf hohem Niveau. Christopher Ventris hatte für den reinen Tor den rechten schlanken Tenor. Detlef Roth konnte mit seinem Bariton die Qualen und Leidensausbrüche des Amfortas sehr intensiv gestalten. Mihoko Fujimura als Kundry strahlte dunklen Glanz in der Tiefe, wurde leider etwas schrill in den Höhen, und Kwangchul Youn als Gurnemanz füllte mit seinem Bass den Saal mit Leichtigkeit.

    Und alle wirkten in ihren Rollen wie verschmolzen mit der Regieopulenz von Herheim. Der erzählte nämlich neben den Parsifal-Deutungen auch eine politische Geschichte, die Geschichte Deutschlands vom Kaiserreich, über den ersten und zweiten Weltkrieg bis zur Bonner Republik. Am Ende stehen die Gralsritter in den Abgeordnetenreihen des Deutschen Bundestages. Hinter ihnen der Bundesadler in einem Spiegel, der sich ganz am Schluss so dreht, dass sich Bühne und Publikum darin wie in einer Weltkugel spiegeln als demokratische und friedliche Gemeinschaft: Wirklichkeit und Zukunftsvision zugleich, denn die Gefährdung muss man nach der Vorgeschichte des Missbrauchs immer mitdenken.

    Daniele Gatti dirigierte diesen Parsifal klangschön, transparent und sehr, sehr langsam. Der erste Aufzug dauerte 15 Minuten länger als üblich. Aber in der Langsamkeit gingen Spannung und Rhythmus selten verloren, vom dritten Aufzug abgesehen. Dieser Parsifal war kein frisch gepresster Orangensaft wie unter Piere Boulez, sondern eher wie ein gut gelagerter Wein, wie Gatti vor der Aufführung sagte, ein nicht allzu schwerer Barbera.