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Erster Weltkrieg
Sport im Schützengraben

Er brachte Tod, Hunger und Entbehrungen - doch Experten zufolge war der Erste Weltkrieg in Frankreich auch ein Sprungbrett für den Breitensport. Der Krieg wurde bald zu einem Stellungskrieg und viele Soldaten begannen, sich die Zeit zwischen den Gefechten mit Fußball oder Rugby zu vertreiben. Spätestens ab 1916 war Sport im Schützengraben ein durchgängiges Phänomen geworden.

Von Hans Woller | 05.04.2014
    Frankreich war bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs alles andere als eine Sportnation, Breitensport ein Fremdwort. Als Paris im Jahr 1900 die Olympischen Spiele austrug, interessierte sich im eigenen Land angeblich kaum jemand für das Ereignis - so zumindest klagt Pierre de Coubertin in seinen Memoiren.
    Außer Turnunterricht an öffentlichen Schulen, der eher militärischen Charakter hatte, war Sport in Frankreich damals eine Angelegenheit für eine kleine urbane Minderheit. Erst ab 1905 wurden überhaupt die ersten kleineren Sportverbände gegründet. Und selbst Rugby und Fussball, beide aus Grossbritannien importiert, waren noch sehr wenig verbreitet - und in unterschiedlichen Bevölkerungsschichten. Michel Merckel, ehemaliger Sportlehrer und Autor eines preisgekrönten Buchs über den Sport im Ersten Weltkrieg:
    "Fussball war damals ein Sport, der von der Bourgeoisie getrieben wurde, das Volk durfte Rugby spielen. Frankreich war nach der Dreyfusaffäre immer noch stark gespalten, das schlug sich sogar im Sport nieder: Fussball stand für die Rechte, die Katholiken, die vermögende Klasse. Rugby für die Linke, die Republikaner und die Laizisten."
    Noch keine Sportnation
    1914 gab es in Frankreich nur etwa 2000 Fußballvereine mit rund 200.000 Mitgliedern. Gleichzeitig muss in der Bevölkerung jedoch zumindest ein passives Interesse am Sport entstanden sein, denn bei Kriegsausbruch zählte man in Frankreich nicht weniger als 8 Sportzeitungen, wobei die Begeisterung für die zwei einzigen Profisportarten jener Zeit am größten war: Boxen und - dank der 1903 gegründeten Tour de France - Radsport.
    "1914 betrieben in Frankreich noch sehr wenige Leute Sport. 1919, direkt nach dem Krieg, wurden dann schon die großen Sportverbände gegründet, der Fußballverband, der Rugby- und Leichtathletikverband, weil Sporttreiben inzwischen ein echtes Massenphänomen geworden war. Das ländliche, das tiefe Frankreich hatte während der Kampfpausen hinter der Front den Sport entdeckt. Als der Krieg zu einem Stellungskrieg geworden war, langweilten sich die Soldaten in der Etappe. Das beunruhigte den Generalstab wirklich, der sie miltärischen Sport treiben lassen wollte, was aber unpopulär war. Einige Soldaten hatten einfach ihren Fußball und ihren Rugby-Ball mitgebracht und so breitete sich der Sport an der Front nach und nach aus. Es wurde auch geschwommen, gelaufen oder man spielte Badminton."
    In Zeitungen, die in den Schützengräben gemacht wurden und in unzähligen Feldpostbriefen finden sich bereits ab Herbst 1914 erste Hinweise auf sportliche Aktivitäten.
    "Ich habe mehrere Kameraden, die von diesem noblen Sport überhaupt keine Ahnung hatten und inzwischen zu Fanatikern des ovalen Balls geworden sind. Ihnen das Rugybspiel in den Schützengräben beizubringen ist eher lustig.”
    So schreibt ein ehemaliger Spieler des Pariser Rugby Clubs “Stade Francais”. Im nordfranzösischen Städtchen Frelinghien kam es an Heiligabend 1914 während einer mehrstündigen Verbrüderungsszene zwischen deutschen und englischen Soldaten neben dem Austausch von Geschenken und dem gemeinsamen Singen von Weihnachtsliedern auch zu einem legendären Fußballspiel zwischen einer deutschen und einer englischen Mannschaft. Ebenso legendär bleibt während der Schlacht an der Somme 1916 ein Angriff der englischen Einheit von Captain Nevill, die beim Vorrücken Fußbälle vor sich herjagte.
    Nach und nach führten die erwähnten Sportzeitungen eine Rubrik “Sport an der Front” ein. Der für seinen Patriotismus bekannte Henri Desgranges, Gründer der größten Sportzeitung “L'Auto” und der Tour de France, überschrieb bereits im November 1914 einen Artikel mit den Worten “Bälle, bitte Bälle für die Soldaten“, um fortzufahren:
    Soldaten verlangen: Mehr Fußbälle!
    "Kauft Fußbälle, die überall an der Front von unseren Soldaten verlangt werden. Es ist für sie ein angenehmer Zeitvertreib, zwischen zwei Kampfeinsätzen sich einem Vergnügen aus dem zivilen Leben hingeben zu können."
    Als 1917 ein gewisser Charles Simon, der sich um den französischen Vorkriegsfußball verdient gemacht hatte, im Kampf fiel, gründeten seine Freunde den “Cup Charles Simon”, dessen 1. Endspiel noch während des Kriegs im Mai 1918 ausgetragen wurde. Nach dem Krieg sollte daraus der bis heute sehr populäre französische Pokalwettbewerb hervorgehen.
    Im Januar 1915 konnte man in der Sportzeitung “L'Auto” den Titel lesen: “Zwei Generäle spielen Fußball an der Front” und auf der zweiten Seite:
    “Wir wollen hinweisen auf das Match zwischen den Generalstäben der ersten und der zweiten englischen Kavalerieeinheit, welches an der Front großes Interesse gefunden hat."
    Die Präsenz von Hunderttausenden Briten mit ihrer wesentlich ausgeprägteren Sportkultur und ihrer Begeisterung für den Mannschaftssport an der Seite der Franzosen, war für die Verbreitung des Sports in den französischen Einheiten ein ganz entscheidendes Element. Michel Merckel:
    "1916, während der berühmten Schlacht an der Somme, kam es z.B. zu Fußballspielen mit den Engländern. Da bekamen die Franzosen eine echte Fußballektion erteilt und auch eine Rugbylektion , von den Neuseeländern, denn die All Blacks, Spieler der neuseeländischen Nationalmannschaft , waren auch zugegen. Nach den Meutereien 1917 wird Petain dem Sport in der Etappe dann sogar bedeutende materielle Mittel zur Verfügung stellen. Offiziere wurden damit beauftragt, Sportveranstaltungen zu organisieren. Und nach Ankunft der Amerikaner wird sich der Sport ab 1918 dann endgültig auf breiter Ebene entwickeln. Sie hatten entlang der 750 Kilometer langen Front amerikanisch-französische Soldatenfoyers geschaffen. In jedem dieser Foyers gab es Trainer und Erzieher, die Begegnungen und Wettkämpfe zwischen Regimentern oder zwischen alliierten Einheiten organisierten."
    Als die neuseeländische Rugby-Nationalmannschaft vergangenen November zu einem Freundschaftsspiel in Paris war, trat sie geschlossen am Triumphbogen an, um ihrer Vorfahren zu gedenken - 13 Mitglieder der All Blacks hatten zwischen 1914 und 18 in Frankreich ihr Leben gelassen. Der heutige Kapitän:
    "Wir haben einiges über die Geschichte gelernt und was hier passiert ist und wie es unseren Vorfahren bei den All Blacks dabei ergangen ist. Für die All Blacks und mich ist das sehr bewegend, unseren Vorgängern zu gedenken und hier unter dem Triumphbogen zu stehen."
    Ende 1915 hatte die französische Armee in Lothringen auf einer ehemaligen Pferderennbahn den so genannten “Poilu's Parc” eingerichtet - Poilu, die familiäre Bezeichnung für die französischen Soldaten des ersten Weltkriegs. Der Vergnügungspark bot damals neben Musik, Tanz, Theater und Volksfestelementen auch viele gut besuchte Sportveranstaltungen wie Radrennen, Kurz- und Langstreckenläufe und andere Leichtathletikdisziplinen, an denen auch Soldaten teilnahmen.
    Rehabilitation durch Sport
    Unmittelbar nach dem Krieg sollte der Sport sogar bei der physischen und psychischen Rehabilitation von Hunderttausenden französischen Kriegsgeschädigten eine Rolle spielen.
    "Es gab etwa den Fall von Joseph Guillemot, der an der Front durch Senfgas schwer verletzt worden war und dabei eine Lunge verloren hatte . Er hatte mit Leichtathletik erst an der Front begonnen, im zivilen Leben davor nie Sport getrieben. Nach dem Krieg beginnt er dann seine Reha und wird schaffen, was kein anderer Franzose je geschafft hat, später auch Michel Jazy nicht: Er wurde Olympiasieger über 5000 Meter, 1920, in Antwerpen."
    Für Michel Merckel ist der französische Breitensport in jenen Kriegsjahren im Hinterland der Schützengräben überhaupt erst geboren worden. Der Autor spricht in diesem Zusammenhang sogar von einem “unerwarteten Erbe des Ersten Weltkriegs”. Soldaten, meist aus dem bürgerlich, urbanen Milieu, haben in diesen vier grausamen Jahren ihre sportlichen Fähigkeiten und Kentnisse an die große Masse der Soldaten ländlicher Herkunft weitergegeben. Und auch die Frauen, die zu Hause jahrelang auf sich alleine gestellt waren und für die der 1. Weltkrieg einen gewaltigen Emanzipationsschub darstellte, hatten in jener Zeit angefangen, Sport zu treiben - das erste Frauenfußballspiel in Frankreich fand im September 1917 statt.