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"Es gab sehr viele Unregelmäßigkeiten"

Allein in Moskau habe man rund 300 Fälle von Wahlfälschungen beobachtet, sagt Galina Michailowa, von der Oppositionspartei Jabloko. Da der Vertreter ihrer Partei, Grigori Jawlinski, nicht zugelassen wurde, habe es keine demokratische Alternative zu Wladimir Putin gegeben.

Galina Michailowa im Gespräch mit Silvia Engels | 05.03.2012
    Silvia Engels: Nun also doch im ersten Wahlgang. Nach Auszählung von mehr als 54 Prozent der abgegebenen Stimmen spricht alles dafür, dass der frühere russische Präsident und jetzige Ministerpräsident Wladimir Putin in sein altes Amt zurückkehrt. Mit 64 Prozent der Stimmen liegt er nach offiziellen Angaben bei der Wahl gestern gegen seine fünf Mitbewerber um die Präsidentschaft vorn. Durch diese absolute Mehrheit im ersten Wahlgang entfällt eine Stichwahl. Die Opposition bezweifelt diesen glatten Erfolg, die regierungsunabhängige Wahlbeobachterkommission "Golos" und die liberale Partei Jabloko beklagen ähnlich viele Unregelmäßigkeiten wie bei den Parlamentswahlen im vergangenen Jahr. – Zugeschaltet ist uns Galina Michailowa, sie ist Exekutivsekretärin des politischen Komitees im Analysezentrum von Jabloko. Guten Morgen, Frau Michailowa.

    Galina Michailowa: Guten Morgen.

    Engels: Was kritisieren Sie, was für Unregelmäßigkeiten hat es Ihren Informationen zufolge gegeben?

    Michailowa: Wir haben die Wahl beobachtet, zusammen mit der Wählerliga. Das ist eine neue unabhängige Organisation, die nach der Duma-Wahl entstanden ist. Das sind meistens die Leute, die auf den Demos waren, mit einer sehr großen Beteiligung. Und ja, es gab sehr viele Unregelmäßigkeiten. Ich glaube, das war im Umfang ungefähr wie bei der Duma-Wahl. Nur in Moskau haben wir 300 Fälle fixiert, wo die Leute mit den Bussen in die Wahllokale reingefahren worden sind und ohne Rechte abzustimmen abgestimmt haben. Es gab ja viele Entfernungen von Wahlbeobachtern, es gab ja keine Erlaubnisse, das Ganze zu fotografieren, aber die Hauptsache ist, dass mehr Leute als bei der Duma-Wahl das alles mit eigenen Augen gesehen haben, und das bedeutet, dass viele dieses Wahlergebnis als illegitim einschätzen. Aber die Hauptsache ist nicht die. Die Hauptsache ist, dass eigentlich es bei dieser Wahl keine richtige Wahl gab. Der Vertreter der demokratischen Opposition, Grigori Jawlinski, wurde nicht zugelassen, deswegen gab es überhaupt keine demokratische Alternative. Außerdem die organisierten Kundgebungen, die von Putin empfohlen wurden, und die richtigen Demos von der Wählerinitiative zeigen, dass eigentlich für Putin die größte Aufgabe war, im ersten Wahlgang zu gewinnen, das hat er auch nicht verheimlicht. Und das wird wiederum bedeuten, dass viele an dieses Ergebnis nicht glauben werden, und für heute zum Beispiel ist schon eine große Demo geplant.

    Engels: Frau Michailowa, Sie sprechen von 300 Fällen, die sie beobachtet haben wollen, ...

    Michailowa: Nur in Moskau!

    Engels: ... , nur in Moskau, wo in Busladungen quasi mehrfach von Wahllokal zu Wahllokal pendelnd abgestimmt worden sei. Was hören Sie denn vom Land, was hören Sie denn in anderen Regionen, denn dass Moskau ...

    Michailowa: In den anderen Regionen haben wir dasselbe gehört wie von den Wahlbeobachtern, die in Moskau waren. Ähnliche Fälle gab es in St. Petersburg, in Karatschai-Tscherkessien, im Gebiet Moskau, in Nischni Nowgorod und so weiter und so fort. In Moskau sind es so viele, weil in jedem Wahllokal mehrere Wahlbeobachter gearbeitet haben.

    Engels: Gehen Sie so weit zu sagen, dass Putin ohne diese, von Ihnen kritisierten Unregelmäßigkeiten nicht im ersten Wahlgang gewonnen hätte?

    Michailowa: Na ja, schon möglich. Aber möglich ist es auch, dass er bei der Wahl ohne Wahlfälschungen, sagen wir, 51 oder 52 Prozent bekommen hätte. Nach unabhängigen Tests, die "Golos" gemacht hat, sollte er 52 Prozent bekommen. Wie ich schon gesagt habe: Das war eine Wahl praktisch ohne richtige Wahl, weil es keine Alternative gab, weil alle anderen Kandidaten, die haben in einer oder anderer Weise Putin in seiner Politik unterstützt.

    Engels: Das Regierungslager weist die Vorwürfe einer Manipulation zurück. Was entgegnen Sie dem Vorwurf von dieser Seite, wonach Ihre Partei Jabloko einfach nur schlechter Verlierer sei und die Niederlage nicht anerkennen wolle?

    Michailowa: Nun, sie haben unseren Kandidaten nicht zugelassen. Das ist ein Problem. Und nicht zufällig 40 Prozent von den Leuten, die auf diesen großen Demos waren, haben nach allen Umfragen für "Jabloko" gestimmt und wollten Jawlinski unterstützen.

    Engels: Nun zeigt sich auch bei den auch offiziellen Ergebnissen, dass in Moskau selbst Putin gar nicht über so viel Zustimmung verfügt hat. Auf dem Land dagegen ist diese Zustimmung größer. Sehen Sie da auch ein Auseinanderklaffen, dass Putin möglicherweise tatsächlich mehr Rückhalt in anderen Regionen doch hat, oder vermuten Sie dort stärkere Manipulation?

    Michailowa: Da ist der Druck viel stärker und es gibt ja bei uns die Orte, wo es nur einen Betrieb gibt und wo die Leute nach dem Befehl abgestimmt haben. Und es gibt ja die Regionen, wo sehr wenige Nutzer vom Internet sind, und die Leute sind durch Propaganda manipuliert worden. Im ersten und im zweiten Fernsehen können sie nur Putin sehen und die anderen waren nicht überzeugend genug.

    Engels: Heute hat die Opposition – Sie haben es angesprochen – zu einer Großdemonstration aufgerufen. Was fordern sie?

    Michailowa: Sie fordern eine freie und faire Wahl. Die Leute, sie sind – und das muss man klar sehen -, die haben unterschiedliche Auffassungen und die meisten davon waren von der Politik sehr fern. Sie beginnen erst, einfach zu verstehen, in welchem Regime sie leben. In der Regel fordern wir freie und faire Wahlen und einige Forderungen wurden schon formuliert: Neuwahlen der Duma und politische Reformen und Freilassung von allen politischen Gefangenen.

    Engels: Und "Jabloko", Ihre Partei, wird sich diesen Forderungen anschließen?

    Michailowa: Wir haben uns schon angeschlossen, wir waren bei diesen großen Demos immer dabei, und eine der Forderungen zum Beispiel von der letzten großen Kundgebung war die Wiederherstellung von Jawlinski als Wahlkandidaten. Das hat aber nichts gebracht wie keine von den anderen Forderungen auch.

    Engels: In den vergangenen Monaten haben wir schon für russische Verhältnisse sehr große Protestkundgebungen gesehen. Auf der anderen Seite zeigt ja trotz möglichen Manipulationen der Wahl, dass in der Tat Wladimir Putin auch in Teilen der Bevölkerung Rückhalt hat. Spricht das dafür, dass sich die russische Gesellschaft weiter spaltet?

    Michailowa: Schon möglich, aber ich glaube, das wird anders laufen. Putin hat keine von den großen Problemen, die vor Russland stehen, gelöst. Er hat viel versprochen und das zeigt, dass er die ganze Zeit, die er an der Macht war, nicht genutzt hat, um diese Reformen zu machen. Das ist schlicht unmöglich, alles zu machen, was er versprochen hat, und uns stehen ziemlich schlechte Zeiten bevor und demnächst werden die Leute merken, dass alle diese Versprechungen leer waren. Dann ist es möglich, dass nicht nur die kreative Klasse, wie es bei uns gesagt wird, auf die Straße geht, sondern auch die anderen, die ihre Renten nicht erhöht sehen, und die Leute, die ihre Gehälter nicht erhöht sehen, und die Vertreter der Industrie, die weiter wenig verdienen, und so weiter.

    Engels: Welche Entwicklungen erwarten Sie konkret in den nächsten Monaten, Massendemonstrationen tatsächlich?

    Michailowa: Ich glaube ja, wenn vielleicht diese Demonstrationen nicht so groß werden, dann wird das sich trotzdem verbreiten auch in der Provinz. Es wird immer über Moskau gesprochen, aber diese Proteste finden nicht nur in Moskau statt, sondern auch in Großstädten. Vielleicht werden die Leute auch in nicht so großen Städten auf die Straße gehen, und dann muss die Macht irgendwie darauf reagieren. Man kann hier nicht immer davor die Augen schließen. Ich befürchte bloß, dass sie mit Gewalt reagieren werden, und das wäre gefährlich für Russland.

    Engels: Galina Michailowa, sie ist Exekutivsekretärin des politischen Komitees im Analysezentrum der Oppositionspartei "Jabloko". Wir sprachen mit ihr über die Kritik, die sich im Oppositionslager an der Präsidentschaftswahl in Russland breit macht. Vielen Dank für das Gespräch, Frau Michailowa.

    Michailowa: Bitte schön.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.