Burkhard Müller-Ullrich: Unser nächstes Thema ist ein Buch, ein in rotes Leder gebundenes Buch, das ist 30 mal 40 Zentimeter groß und ziemlich dick, zehneinhalb Zentimeter. Seine Existenz war bislang ein Geheimnis, ein Gerücht, jetzt aber erscheint es als Faksimile. Und nun kann sich jedermann davon überzeugen, dass der vor bald einem halben Jahrhundert gestorbene Schweizer Tiefenpsychologe und Freud-Feind C. G. Jung nicht nur einen Knall hatte, sondern seinen Knall auch so geschickt bewirtschaftete, dass er als Genie erscheint. Am Telefon ist Anne Springer, stellvertretende Vorsitzende der DGPT, das ist die Deutsche Gesellschaft für Psychoanalyse, Psychotherapie, Psychosomatik und Tiefenpsychologie. Als Sie dieses sonderbare Werk, das ja wohl gar nicht zur Veröffentlichung bestimmt war – Jung hat die Arbeit daran ja mittendrin abgebrochen –, also als Sie dieses Dokument zum ersten Mal in die Hand bekamen, Frau Springer, was war Ihre persönliche erste Reaktion?
Anne Springer: Meine allererste Reaktion? Ich war befremdet. Ich war befremdet ob der Pracht und ob des pseudomittelalterlichen Duktus der Verfassung, der Erscheinungsform – es ist wie ein Evangeliar. Und dann habe ich es genauer angeguckt, und dann wird es schon sehr, sehr interessant, aber unter sehr verschiedenen Aspekten interessant.
Müller-Ullrich: Gehen wir mal ein paar durch. Da ist also zunächst einmal das Angstpanorama, was C. G. Jung da über sich selbst ausbreitet.
Springer: Ja, diese Angst wird sehr, sehr gut deutlich in diesem Buch. Ich glaube, man kann es auch verstehen als einen großen Kampf gegen die Gefahr durch die Psychose. Und in diesem Sinn ist es die Darstellung einer erfolgreichen Strategie.
Müller-Ullrich: Worauf deutet diese Verfremdungskunst – Sie sagten ja das Mittelalterliche, dass es wie ein Evangeliar gestaltet ist –, worauf deutet das hin?
Springer: Es war eine Welt, mit der eben Jung sich innerlich sehr verbunden fühlte. Ich glaube, er hatte große Probleme mit sich selbst, in der Neuzeit anzukommen, in der Moderne anzukommen, und hat sich mit dieser Welt sehr verbunden gefühlt und hat, glaube ich, mithilfe dieses Verfremdungseffekts auch versucht, etwas über sich zu sprechen, wofür er kein Gegenüber hatte. Dieses Werk ist ja begonnen worden nach dem Bruch mit Freud, und ich glaube, es ist auch eine Form der Verarbeitung – das ist jetzt alles Spekulation, das kann ich alles so nicht belegen –, aber es ist sicher eine Form, mit diesem Bruch umzugehen, was Eigenes zu finden, sich selbst darzustellen und sich in irgendeiner Form ein Gegenüber zu schaffen.
Müller-Ullrich: Nun ist das meiste, was Sie eben gesagt haben, also insbesondere auch das grenzwertig Psychotische und so weiter, alles schon bekannt. Was bringt denn jetzt das Anschauen dieses Materials über alles, was man bisher über C. G. Jung weiß, noch hinaus?
Springer: Ich glaube nicht, dass es in der gesamten Welt der Psychoanalyse wesentlich neue Erkenntnisse hervorbringen wird. Es wird viele geben, die sagen, wir haben es schon immer gewusst, der Mann war verrückt. Innerhalb der jungianischen Welt wird es, glaube ich, die innere Auseinandersetzung erheblich befördern, weil, es gibt einen Teil der jungianischen Welt, der selbst referenziell ist und der den Angstbewältigungscharakter dessen, was in diesem Buch erkennbar ist, wahrscheinlich nicht so gerne diskutieren wird, sondern eher im Sinne von, sage ich jetzt mal, respektlos-gläubig draufschauen wird. Und es wird einen anderen Teil geben, der sagt, hier wird mal wieder deutlich, dass man die jungianische Theorie von einem dritten Standpunkt – und das muss notwendigerweise ein außerjungianischer, psychoanalytischer Standpunkt sein – betrachten muss und daraufhin auch die Theorie durchforsten muss. Wenn's gut geht, verschärfen sich diese Auseinandersetzungen, weil ich glaube, die gesamte analytische Psychologie kann davon nur gewinnen.
Müller-Ullrich: Dass die Jungjünger nicht genug kriegen können von den Hinterlassenschaften ihres Meisters, das versteht sich ja wohl von selbst.
Springer: Das wird es immer geben, ja.
Müller-Ullrich: Auf der anderen Seite, wenn man wissenschaftshistorisch drangeht, findet man da noch beispielsweise den Antisemitismus verschärft oder irgendwelche Erkenntnisse dieser Art?
Springer: Nein, ich glaube nicht gerade den Antisemitismus verschärft, also dieser Teil von Jung ist ja klar und bekannt, sondern die Frage wird sein: Wie gehen die Post-Jungianer, die heutigen Jungianer damit um? Also wenn Sie sich zum Beispiel die Vision Jungs vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges angucken, in diesem Buch drin, dann wird es diejenigen geben, die sagen, der Meister ist groß, er hat's geahnt, schaut euch diese Vision an. Also die werden das Prophetentum benennen, nochmals und nochmals. Und der andere Teil wird sagen, was darin fehlt. Und das verknüpft sich dann indirekt mit Ihrer Frage nach Jungs Antisemitismus. Was in diesem Buch fehlt, ist die Selbstreflexion von einem dritten Standpunkt aus: Wer bin ich und warum bin ich so, dass ich so denke, so fantasiere. Und diesen ganzen Teil als das Fehlende zu benennen und sich daraufhin auch die Theorie der Jungianer kritisch anzugucken, das ist eigentlich eine Chance, die neu hervorgebracht wird durch dieses Buch, was ja die Erben nun endlich mal Gott sei Dank freigegeben haben.
Müller-Ullrich: Genau. Letzte Frage zu dieser Freigabe: Was hat denn jetzt im Jahr 2009 ausgerechnet dies bewirkt?
Springer: Vielleicht eine Mischung: Das kann den großen Meister nicht gefährden und auch eine Einsicht in die Realität, dass man nicht mit solchen Geheimnissen arbeiten kann, sondern dass man der Welt offenlegen muss, wer war dieser Mann.
Müller-Ullrich: Vielen Dank, Frau Springer, für Ihre Auskünfte über das "Rote Buch" von Carl Gustav Jung, das jetzt für 168 Euro im Buchhandel käuflich zu erwerben ist. Wir sprachen mit der Psychologin Anne Springer in Berlin.
Anne Springer: Meine allererste Reaktion? Ich war befremdet. Ich war befremdet ob der Pracht und ob des pseudomittelalterlichen Duktus der Verfassung, der Erscheinungsform – es ist wie ein Evangeliar. Und dann habe ich es genauer angeguckt, und dann wird es schon sehr, sehr interessant, aber unter sehr verschiedenen Aspekten interessant.
Müller-Ullrich: Gehen wir mal ein paar durch. Da ist also zunächst einmal das Angstpanorama, was C. G. Jung da über sich selbst ausbreitet.
Springer: Ja, diese Angst wird sehr, sehr gut deutlich in diesem Buch. Ich glaube, man kann es auch verstehen als einen großen Kampf gegen die Gefahr durch die Psychose. Und in diesem Sinn ist es die Darstellung einer erfolgreichen Strategie.
Müller-Ullrich: Worauf deutet diese Verfremdungskunst – Sie sagten ja das Mittelalterliche, dass es wie ein Evangeliar gestaltet ist –, worauf deutet das hin?
Springer: Es war eine Welt, mit der eben Jung sich innerlich sehr verbunden fühlte. Ich glaube, er hatte große Probleme mit sich selbst, in der Neuzeit anzukommen, in der Moderne anzukommen, und hat sich mit dieser Welt sehr verbunden gefühlt und hat, glaube ich, mithilfe dieses Verfremdungseffekts auch versucht, etwas über sich zu sprechen, wofür er kein Gegenüber hatte. Dieses Werk ist ja begonnen worden nach dem Bruch mit Freud, und ich glaube, es ist auch eine Form der Verarbeitung – das ist jetzt alles Spekulation, das kann ich alles so nicht belegen –, aber es ist sicher eine Form, mit diesem Bruch umzugehen, was Eigenes zu finden, sich selbst darzustellen und sich in irgendeiner Form ein Gegenüber zu schaffen.
Müller-Ullrich: Nun ist das meiste, was Sie eben gesagt haben, also insbesondere auch das grenzwertig Psychotische und so weiter, alles schon bekannt. Was bringt denn jetzt das Anschauen dieses Materials über alles, was man bisher über C. G. Jung weiß, noch hinaus?
Springer: Ich glaube nicht, dass es in der gesamten Welt der Psychoanalyse wesentlich neue Erkenntnisse hervorbringen wird. Es wird viele geben, die sagen, wir haben es schon immer gewusst, der Mann war verrückt. Innerhalb der jungianischen Welt wird es, glaube ich, die innere Auseinandersetzung erheblich befördern, weil, es gibt einen Teil der jungianischen Welt, der selbst referenziell ist und der den Angstbewältigungscharakter dessen, was in diesem Buch erkennbar ist, wahrscheinlich nicht so gerne diskutieren wird, sondern eher im Sinne von, sage ich jetzt mal, respektlos-gläubig draufschauen wird. Und es wird einen anderen Teil geben, der sagt, hier wird mal wieder deutlich, dass man die jungianische Theorie von einem dritten Standpunkt – und das muss notwendigerweise ein außerjungianischer, psychoanalytischer Standpunkt sein – betrachten muss und daraufhin auch die Theorie durchforsten muss. Wenn's gut geht, verschärfen sich diese Auseinandersetzungen, weil ich glaube, die gesamte analytische Psychologie kann davon nur gewinnen.
Müller-Ullrich: Dass die Jungjünger nicht genug kriegen können von den Hinterlassenschaften ihres Meisters, das versteht sich ja wohl von selbst.
Springer: Das wird es immer geben, ja.
Müller-Ullrich: Auf der anderen Seite, wenn man wissenschaftshistorisch drangeht, findet man da noch beispielsweise den Antisemitismus verschärft oder irgendwelche Erkenntnisse dieser Art?
Springer: Nein, ich glaube nicht gerade den Antisemitismus verschärft, also dieser Teil von Jung ist ja klar und bekannt, sondern die Frage wird sein: Wie gehen die Post-Jungianer, die heutigen Jungianer damit um? Also wenn Sie sich zum Beispiel die Vision Jungs vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges angucken, in diesem Buch drin, dann wird es diejenigen geben, die sagen, der Meister ist groß, er hat's geahnt, schaut euch diese Vision an. Also die werden das Prophetentum benennen, nochmals und nochmals. Und der andere Teil wird sagen, was darin fehlt. Und das verknüpft sich dann indirekt mit Ihrer Frage nach Jungs Antisemitismus. Was in diesem Buch fehlt, ist die Selbstreflexion von einem dritten Standpunkt aus: Wer bin ich und warum bin ich so, dass ich so denke, so fantasiere. Und diesen ganzen Teil als das Fehlende zu benennen und sich daraufhin auch die Theorie der Jungianer kritisch anzugucken, das ist eigentlich eine Chance, die neu hervorgebracht wird durch dieses Buch, was ja die Erben nun endlich mal Gott sei Dank freigegeben haben.
Müller-Ullrich: Genau. Letzte Frage zu dieser Freigabe: Was hat denn jetzt im Jahr 2009 ausgerechnet dies bewirkt?
Springer: Vielleicht eine Mischung: Das kann den großen Meister nicht gefährden und auch eine Einsicht in die Realität, dass man nicht mit solchen Geheimnissen arbeiten kann, sondern dass man der Welt offenlegen muss, wer war dieser Mann.
Müller-Ullrich: Vielen Dank, Frau Springer, für Ihre Auskünfte über das "Rote Buch" von Carl Gustav Jung, das jetzt für 168 Euro im Buchhandel käuflich zu erwerben ist. Wir sprachen mit der Psychologin Anne Springer in Berlin.