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Es weihnachtet wenig

Er hat in seiner ersten Spielzeit geschafft, was seinem Vorgänger Friedrich Schirmer in zwölf Jahren nicht gelungen ist: Hasko Weber führte das Stuttgarter Staatstheater zum begehrten Titel "Theater des Jahres". Seine erfolgserprobte Zusammenarbeit mit bewährten Kräften hat Weber in dieser Spielzeit fortgesetzt. Und er zeigt sich weiter risikofreudig.

Von Cornelie Ueding |
    Zwei weihnachtliche Uraufführungen. Jedenfalls kommt Weihnachten vor, in beiden Werken. Aber so recht heimelig soll es uns dabei nicht werden. Sohn sucht Vater, Vater sucht sich - auf diese knappe Formel ließe sich Rolf Kemnitzers heilloses Zweieinhalbpersonenstück "Der Waschboy" bringen. Solch eine Formel greift natürlich, wie leider auch die Personenregie der Stuttgarter Uraufführung, zu kurz und unterschlägt, dass der namenlose erwachsene Knabe aus der Vatersuche bereits eine einträgliche, das heißt karrierefördernde Testserie gemacht hat. Dabei verfährt er immer nach demselben Schema: Er verschafft sich Informationen über gut situierte Egomanen, die es mit der ehelichen Treue nicht so genau nehmen, die also durchaus Kinder haben könnten, von denen sie nichts wissen (wollen) - und dringt in deren Leben ein, wirft es in gelungenen Fällen aus der Bahn. Zum Schluss leitet er die Agentur, aus der "der Vater" geschasst wurde. Sagt er jedenfalls und will gehen - da versucht ihn Pappi kaltzumachen, und der Eindringling verschwindet in der Bodenluke, aus der er anfangs, wie Kai aus der Kiste, hochgekommen war. Der Alte bleibt allein zurück und widmet sich - von wegen Chance zum Neuanfang - wieder dem Riesenpandateddybären, mit dem er schon in einer Art Vorspiel herumtanzte, bevor er wütend auf das stumme Spielzeug einzudreschen begann.

    Die Chance einer weihnachtlich heilen Familie - vertan. Denn das Weihnachtsgeschenk war auch eine Mogelpackung: die schrille laszive Nutte entpuppt sich als die weggerannte Ehefrau des "Vaters". Spießertum, Feigheit, Einsamkeit und Wut über das verlorene Leben sind die Elemente, aus denen der Autor die Vaterfigur zusammengebastelt hat. Der Filius ist infantil, tückisch und verantwortungslos, weil emotional vernachlässigt. Solchen Schrumpffiguren Leben einzuhauchen, könnte nur gelingen, wenn ein Regisseur dem dürren Text zur Orientierung für seine Schauspieler so etwas wie einen gedanklichen Subtext hinzuerfände. Wie sollte das einem jungen Regisseur bei seinem Regiedebüt gelingen? Stefan Herrmann rettet sich, so wie es gerade Mode ist auf deutschen Bühnen, in Bilder: sprachlos, überdeutlich, nichts sagend wie die unappetitliche Weihnachtsmahl-Pommes-Schlacht, die wohl etwas über die auseinanderstrebende Familienbande aussagen soll.

    Im Umgang mit dem Unbestimmbaren, Ungreifbaren, auch Erschreckenden könnte eine Verbindung liegen zwischen diesem Schauspielabend und Marco Goeckes Stuttgarter Choreografie von Tschaikowskys "Nussknacker". Doch welch ein Unterschied! Wo die "Waschboy"-Familienszenen in einer nur behaupteten Realität vage und diffus bleiben und sich im Nebel einer nicht trennscharfen Dramaturgie verlieren, hat Goecke auf E.T.A. Hoffmanns Weihnachtsmärchen zurückgegriffen und übersetzt die Nachtseite der beängstigenden Geschichte, ihr unbestimmtes Grauen, in präzise Körpersprache. Da ruckeln sich mechanische Spiel- und Spielzeugfiguren in abgebrochenen Slap-Stick-Bewegungen, fragmentarisierten, gespreizten, rasant beschleunigten klassischen Ballettschritten, comicartigen Verrenkungen und Überdehnungen in ein anderes Leben. Es scheint, als wollten sie sich freistrampeln, aus den Körpergrenzen ausbrechen und die Zuckerwatte des allzu Weihnachtsmärchenhaften abstreifen, das sich über dieses Ballett gelegt hat. So folgen Anläufe auf Anläufe, um gleitend und springend, sich verdrehend und windend eine neue Sprache der Verständigung mit Fingern, Armen, Beinen und schließlich dem ganzen Körper in den geheimnisvoll dunklen Bühnenraum einzuschreiben. Eine poetisch-artistische Taubstummen- und Blindensprache, in der flatternde Hände die Arme verlängern, dem Körper Flügel verleihen oder den stummen Mund beredt machen.

    Michaela Springers Spielraum, in dem dieses Märchen um ein Mädchen, ihren Paten und einen Nussknacker ganz neu zu erzählt wird, ist von Schränken umstellt, die nach und nach ein merkwürdiges Innenleben zeigen. Es schneit - im Schrank. In einem anderen: Weihnachtslichterketten oder schwarzrote Lichtblasen. Verschlossene Türen, die sich selbsttätig öffnen und rasselnd, hohl klappernd, Nüsse düster wie Eierkohle ausschütten. Und aus den Ritzen und Zwischenräumen, den Einfallwegen des Unbewussten, des Fiktiven und des Abgründigen, lugen, schleichen, springen immer neue Figuren hervor und werden vom rätselhaft verlockenden Dunkel wieder verschluckt. Ein großer Abend des Balletts: ein Abend über die Wahrnehmung.