Archiv


Esmeralda darf nicht sterben

Der missgestaltete Glöckner Quasimodo wurde einem breiten Publikum vertraut durch die Oper "Notre Dame" von Franz Schmidt. Jetzt haben der Dirigent Gerd Albrecht und der Regisseur Günter Krämer die vor 100 entstandene Oper in der Semperoper frisch auf die Bühne gebracht.

Von Frieder Reininghaus |
    Einstimmig dringt die Musik zunächst aus der Tiefe des Grabens nach oben in den grellgelb gestrichenen Hinrichtungsraum, in dem vor einer Spiegelscheibe eine blonde Frau mit verbundenen Augen in den elektrischen Stuhl gefesselt ist. Die große Normaluhr zeigt an, dass es für sie fünf vor zwölf ist. Indem der von Gerd Albrecht mit Bedacht und entschiedener Genauigkeit angeleitete Tonsatz sich in Polyphonie ausbreitet und den schaurig-schönen Stoff des Jahres 1482 unterfüttert, steigt eine Doppelgängerin der Delinquentin aus dem Spiegelbild und führt durch das kurze heftige Leben der Zigeunerin Esmeralda, die ihre verführerischen Tanz- und Gesangskünste auf den Märkten feil bot: Camilla Nylund setzt ihren makellosen Sopran rundweg überzeugend ein; das Tanzen wurde ihr von Regisseur Günter Krämers nüchtern-klarer Inszenierung erlassen.

    Als Victor Hugo sich vor 180 Jahren mit Esmeralda und dem legendären Glöckner von Notre Dame befaßte, erwies sich dies als Durchbruch einer neuen literarischen Strömung: Erstmals wurden Außenseiter und das Hässliche heroisiert, der Krüppel und das Anrüchige ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt. Es wurde auch der Auftakt einer massenmedialen Verwertungskette, an deren Ende die Video-Aufzeichnungen der Musicals stehen. Bereits kurz nach Erscheinen von Hugos Erfolgsroman zweigte die Verlegertochter Louise Angélique Bertin in Paris aus dem Sujet eine Oper ab. Noch mehrfach wurde seitdem versucht, die Musiktheaterbühnen mit jener Esmeralda zu erobern, die vier Männer je auf ihre Weise lieben: zunächst der heruntergekommene Gringoire, der sie als ihr Mann nicht berühren darf, und der Gardeoffizier Phoebus, der von ersterem aus Eifersucht umgebracht wird, bevor er sich selbst das Leben nimmt; dann der Archidiakon der Pariser Hauptkirche und dessen vom Schicksal nicht begünstigter Zögling Quasimodo. Mit Markus Butter und Jan-Hendrik Rootering verfügt die Dresdner Produktion über zwei Protagonisten der Spitzenklasse: letzterer als leicht linkisch auftretender Sympathieträger, der erkennbar nicht zur uniform kostümierten Mehrheitsgesellschaft gehört.

    Erfolgreicher als die verschiedenen Vertonungen des 19. Jahrhunderts war zu Beginn des zwanzigsten Franz Schmidts Romantische Oper mit
    einem Ton, aus dem recht angenehm der Weihrauchduft und zugleich beizender Jahrmarktsdunst aufzusteigen scheint, in dem Waffengeklirr und Chorfugen nachhallen, auch die erhabene Schönheit der gotischen Kathedrale in archaisierenden Figuren der Musik nachgezeichnet wurde. Zwar werden, nicht zuletzt wegen der möglicherweise ironisch zu verstehenden Gattungsbezeichnung, dem auf den Theaterweg gebrachten Schmidtschen Werk unverdrossen "spätromantische Qualitäten" zugeschrieben. Doch sollte es eher als Parallelerscheinung des Jugendstils wahrgenommen werden, vorm Hintergrund der Theorien von Sigmund Freund oder Otto Weininger gehört werden.

    Und tatsächlich lotet Markus Butter mit seinem zugleich agilen und virilen Bariton nicht nur das Herrschaftskalkül des kirchlichen Würdenträgers aus, sondern macht den inneren Konflikt eines Mannes hörbar, der, was er liebt, zwanghaft vernichten muss.
    Dirigent Albrecht und Regisseur Krämer heben darauf ab, dass mit Franz Schmid ein Weg neuer musikalischer Sachlichkeit begonnen habe. In diesem Sinn werden vom Bühnenbildner Herbert Schäfer zum Beispiel nicht die filigranen Steinmetzarbeiten des 12. Jahrhunderts herbeizitiert, sondern nur die Buchstaben des Namens der Kathedrale vergrößert und schlank in die Höhe gezogen.

    Nach Esmeraldas Hinrichtung, einem der vielen Justizmorde, bei dem die katholische Kirche mit von der Partie war, bleibt die Verklärung aus. Gerade auch der Schluss spricht für die Triftigkeit der neuen Dresdner Interpretation.

    Infos:
    Semperoper