Dienstag, 30. April 2024

Archiv


Essen gegen Görlitz

Stefan Koldehoff: : Wo es sonst um Milchquoten und Kohlesubventionen geht, in der europäischen Hauptstadt Brüssel, stand heute die Kultur auf der Agenda. Kultur aus Deutschland noch dazu, auch wenn sie europäisch ausstrahlen soll. Heute nämlich ist der Tag, an dem die beiden deutschen Bewerber um den Titel der Kulturhauptstadt 2010 sich in Brüssel einer Jury präsentieren müssen – jeweils 30 Minuten lang. Bis April soll dann entschieden werden, wer denn den Titel führen darf: Essen und das Ruhrgebiet oder die Doppelstadt Görlitz/Sgorselek und die deutsch-polnische Grenzregion.

Interview mit Oliver Scheytt, Koordinator der Essener und Peter Baumgart, künstlerischer Direktor der Görlitzer Bewerbung | 15.03.2006
    Die Präsentationen fanden hinter verschlossenen Türen statt, nicht mal durchs Schlüsselloch durfte die Presse schauen. Also fragen wir doch direkt die, die dabei waren, und zwar zunächst Oliver Scheytt, Koordinator der Essener Bewerbung und, weil auf dem Rückweg von Brüssel, am Mobiltelefon: Herr Scheytt, wie war’s denn?

    Oliver Scheytt: Wir hatten den Eindruck, es war eine sehr sehr gute Vorbereitung durch die Jury erfolgt. Die hatten sich auf die Fragen vorbereitet, auf unsere Bewerbung vorbereitet, die haben das Material gelesen. Eine sehr qualifizierte Diskussion schloss sich an, die auch spezifisch war. Also die haben Fragen genau zu unseren Themen gestellt. Aber wir hatten auch selber ein gutes Gefühl bei unserer eigenen Präsentation. Wir haben die halbe Stunde genau ausgeschöpft und haben unsere Botschaften, aber ich glaube auch unsere Emotionen die wir haben bei diesem Thema, rüberbringen können.

    Koldehoff: : In welcher Form denn eigentlich? Sind Sie mit Bergmannschor und eventuell noch einem Ballett von der Zeche Zollverein angereist? Oder wie präsentiert man sich?

    Scheytt: Nun, wir präsentieren uns gerade nicht mit Vorurteilen über das Ruhrgebiet. Sondern wir wollen ja gerade auch wegkommen von diesen Bildern von Staub und Ruß und so weiter. Längst ist in Essen jede Zeche geschlossen. Wir haben den Wandel deutlich gemacht auf den vier Aktionsfeldern, die wir haben. Das ist das Aktionsfeld der Kunst, die identitätsstiftend ist. Das ist das Aktionsfeld der Urbanität, wo es darum geht, zu sagen, wir haben auch eine schrumpfende Stadt, in der freies Land an Künstler und Architekten gegeben werden kann damit sie dort ihre Ideen verwirklichen können. Dann das Thema der Integration und Migration. Wir sind eine Region in der 140 Nationen vertreten sind. 90 Sprachen werden gesprochen. Wir sind ein Europa in klein. Und schließlich haben wir auch einiges getan um die Kreativwirtschaft fortzuentwickeln. Für diese vier Felder haben wir sehr gute Präsentatoren gehabt, sehr gute Menschen, die aus der Region stammen und sehr glaubwürdig für diese Felder sprechen können.

    Koldehoff: : Und wovon wird es dann Ihrer Meinung nach letztlich abhängen ob es Essen wird oder Görlitz?

    Scheytt: Nun, die beiden Bewerbungen sind ja sehr sehr unterschiedlich. Das eine ist eine kleine Stadt an der Grenze zu Polen, das andere ist der drittgrößte Ballungsraum in Europa. Mit Sicherheit keine leichte Aufgabe, aber ich setze natürlich darauf, dass der Jury klar wird, dass wir in diesem drittgrößten Ballungsraum mit Kultur einiges erreichen wollen, was auch für Europa, für ganz Europa, wichtig ist. Diese Verständigung, dieses Netzwerk das wir haben, zu 150 Partnerstädten, dieser Austausch mit Europa, davon kann auch Europa profitieren und wir natürlich auch.

    Koldehoff: : Oliver Scheytt, vielen Dank, Koordinator der Essener Bewerbung. Mitgehört hat sein Kollege Peter Baumgart, künstlerischer Direktor der Görlitzer Bewerbung. Auch an ihn zunächst die Frage: Gutes Gefühl nach dem heutigen Tag?

    Baumgart: Es war eine sehr lebendige Präsentation. Ein Dialog würde ich sagen, hat sich ergeben kurz nach Beginn der Präsentation. Und das ist ja eigentlich unser Thema: Dialog der Kulturen. Wir waren vertreten mit verschiedenen Menschen aus der Stadt, aus der Region und vor allem auch mit Menschen, die mit uns in Verbindung stehen. Mit dem Schweizer Schriftsteller Michael Guggenheimer, der ja eine ganz besondere persönliche Geschichte mit dieser Stadt hat. Oder auch mit einer Studentin der Hochschule Zittau/Görlitz, die jetzt in Dresden studiert. [Evelina Biskop] aus Sgorselek, die in kürzester Zeit unglaublich viel in Deutschland, an einer deutschen Hochschule, erreicht hat. Und das ist ja genau unser Thema, dieser Dialog der Kulturen.

    Koldehoff: : Wie ist denn grundsätzlich, Herr Baumgart, die Initiative aufgenommen worden, dass sich zum ersten Mal eine deutsche und eine polnische Stadt zusammen bewerben? Den Regeln entspricht das ja eigentlich nicht.

    Baumgart: Nun, ich habe gehört, oder wir haben nach der Präsentation vernommen, marvellous. Und ich muss sagen, dieses marvellous kam so überzeugend rüber, dass ich glaube, dass genau diese Bewerbung, nämlich eine deutsch-polnische, die für den Ost-West-Dialog steht, mit Beziehungen Nord-Süd, dass genau die sehr sehr gut angekommen ist. Und natürlich gab es auch Nachfragen. Es gab auch kritische Nachfragen, gerade was unsere Infrastruktur angeht. Das ist ja eine kleine Stadt. Sie sagten es ja bereits, beide Städte zusammen 100.000 Einwohner. Aber es ist eine kleine Stadt in einer sehr großen Region und die Region ist bei uns eingebunden und insofern war das was wir zur Infrastruktur zu sagen hatten, glaube ich, glaubhaft und sehr gut vermittelt.

    Koldehoff: : Und hat man anschließend in der Görlitzer Delegation gewettet, wie es denn ausgehen wird?

    Baumgart: Nein, wir waren erst einmal wirklich sehr glücklich, dass uns diese Präsentation, die ja auch keine multimediale Präsentation war, sondern eine Präsentation von Menschen für Menschen, dass sie uns wirklich so gut gelungen ist. Wir waren sehr sehr erleichtert und wir haben danach einen Sekt aufgemacht und haben erst einmal entspannt und angestoßen. Unsere Ministerin, Barbara Ludwig, war dabei. Sie war sehr glücklich. Sie hat uns viele Monate begleitet und sich sehr für diese Bewerbung eingesetzt. Und da war es erst einmal angesagt, wirklich zusammen zu sein und zu sagen, das haben wir gut gemacht.

    Koldehoff: : So, und bevor Sie jetzt mit der Lokomotive im Hintergrund zusammenstoßen, vielen Dank Peter Baumgart, künstlerischer Direktor der Görlitzer Bewerbung für die Kulturhauptstadt 2010. Im April, wie gesagt, wird es ein Ergebnis geben.