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EU-Frust am Bosporus

Seit über zehn Jahren bemüht sich die Türkei um den EU-Beitritt. Bisher ohne Erfolg. Das türkische Parlament hat nun Konsequenzen aus den stockenden Verhandlungen gezogen und über 40 Gesetze gestoppt, die eigentlich der Harmonisierung mit der EU dienen sollen.

Von Gunnar Köhne |
    "Wir haben eine klare Botschaft an die Europäische Union: Wenn ihr den Stecker herausziehen wollt, wenn ihr die Verbindung zu uns kappen wollt – bitte sehr, zögert nicht. Erwartet aber nicht, dass wir den Stecker als Erste ziehen!"

    Bei Egeman Bagis, dem türkischen Chefunterhändler mit der EU, hat sich augenscheinlich viel Frust angesammelt. In einem Fernsehinterview am vergangenen Dienstag platzte ihm der Kragen, als ihn die Journalistin nach den schneckenhaften Fortschritten bei den Beitrittsverhandlungen fragte. Dies liege nicht an der Türkei, sondern allein an dem Unwillen Brüssels, sich überhaupt noch mit der Türkei zu beschäftigen. Der Widerstand einiger EU-Staaten, insbesondere Frankreichs und Deutschlands, sei nach wie vor so stark, dass im ersten Halbjahr dieses Jahres wahrscheinlich gar kein Verhandlungskapitel für den Beitritt eröffnet werden können.

    Erst 13 von 35 Verhandlungskapiteln konnten bisher begonnen werden, allesamt von eher minderer Bedeutung, wie das zuletzt eröffnete Kapitel Lebensmittelsicherheit. Fünf Kapitel werden von Frankreich kategorisch blockiert, acht Kapitel von Zypern.

    Über diplomatische Kanäle, so hieß es im türkischen Nachrichtensender "CNNTüRK", habe man Brüssel wissen lassen, dass im türkischen Staatsapparat kaum Motivation mehr vorhanden sei, die EU-Anpassung voranzubringen. Denn die Hoffnung auf eine Vollmitgliedschaft sei bei den Verantwortlichen gleich null. Wen wundert es, fragt der Istanbuler EU-Experte Cengiz Aktar, schließlich werde den Türken ja von EU-Politikern wie Nicolas Sarkozy regelmäßig bedeutet, dass sie so oder so nicht willkommen seien im europäischen Club. Gleichzeitig müsste die Türkei rund 2700 Gesetze und Vorschriften auf EU-Standard bringen – und viele von ihnen kosteten viel Geld.

    "Das beste Beispiel ist das Verhandlungskapitel über die Umweltpolitik. Das ist für die Türkei eine sehr teure Harmonisierung – man rechnet mit Kosten für die türkische Industrie von bis zu 140 Milliarden Euro. Wenn aber die türkische Wirtschaft nicht sicher sein kann, ob diese Investitionen am Ende auch zum EU-Beitritt führen – dann werden sie nicht bereit sein, diese Summe aufzubringen und damit ihre Wettbewerbsfähigkeit aufs Spiel zu setzen."

    Eine in der vergangenen Woche veröffentlichte Meinungsumfrage zeigt wie stark die EU-Begeisterung auch im Volk gesunken ist: Unter 1540 Personen zwischen 18-60 Jahren in den Großstädten Istanbul, Izmir und Ankara gaben knapp 60 Prozent an, dass sie an eine EU-Mitgliedschaft ihres Landes überhaupt nicht mehr glaubten. Auf die Frage, welches Land sie als größten Gegner einer türkischen EU-Mitgliedschaft ansähen, landete Frankreich mit gut 30 Prozent auf Platz Eins, gefolgt von Deutschland mit 23 Prozent. Jeder zweite der Befragten fand, dass die eigene Regierung genug tue für einen erfolgreichen Beitrittsprozess.

    Tatsächlich ist die EU-Annäherung von der Türkei - allen markigen Worten zum Trotz - nicht völlig eingestellt worden: Nahezu jeden Tag wird ein neues Gesetz oder eine neue Verordnung nach dem EU-Regelwerk erlassen – sei es zur Fischerei oder zur Verkehrspolitik. Änderungen jedoch, die Geld kosten, wie ein von Brüssel gefordertes Gesetz zur Kontrolle staatlicher Subventionen, sind von der Regierung Erdogan auf Eis gelegt worden – jedenfalls bis zu den Parlamentswahlen im Juni. Sollte es bis Mitte des Jahres nicht Bewegung in der Zypernfrage geben - dem immer noch größten Hindernis für eine uneingeschränkte Fortsetzung des Beitrittsprozesses – und sollte der Türkei von Brüssel keine klare Perspektive etwa in Form eines Beitrittsdatums angeboten werden, dann, so vermutet Cengiz Aktar, werde dieser quälende Zustand wohl noch fortdauern:

    "Auch wenn sich der Beitrittsprozess verlangsamt hat und er sich sicher noch weiter verlangsamen wird, so wird er doch so lange nicht zu einem Ende kommen, solange die EU keine formale Entscheidung zum Stopp der Verhandlungen getroffen hat. Keine türkische Regierung wird sich trauen, diesen Prozess von sich aus zu beenden."

    Nächste Woche wird der französische Staatspräsident Sarkozy in Ankara erwartet – gerade einmal fünf Stunden hat Sarkozy für diesen Besuch eingeplant. Für die türkische Öffentlichkeit ein Affront und ein weiterer Beweis dafür, dass neben Deutschland vor allem Frankreich die Türkei nicht in der EU haben will.