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EU-Türkei-Beziehungen
"Die Drohungen bedeuten praktisch nichts"

Das EU-Parlament will die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei auf Eis legen, der türkische Präsident Erdogan droht mit der Öffnung der Grenzen für Flüchtlinge. Gerhard Knaus von der Denkfabrik "Europäische Stabilitätsinitiative" hält das alles für bedeutungslos. Im DLF machte er deutlich, dass er das Flüchtlingsabkommen derzeit nicht in Gefahr sieht.

Gerald Knaus im Gespräch mit Martin Zagatta | 26.11.2016
    Die türkische Staatsflagge weht neben der Europafahne.
    Die türkische Staatsflagge weht neben der Europafahne. (picture alliance / dpa / Matthias Schrader)
    Das EU-Parlament und die Türkei verhielten sich wie zwei Duellanten: "Sie fordern sich auf, gehen aufs Feld und schießen mit Absicht aneinander vorbei", sagte Knaus. Die Entschließung des Parlaments, die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei auf Eis zu legen, sei erstens nicht bindend; und zweitens sei unklar, was das praktisch bedeuten würde. Denn wenn die Verhandlungen "nur suspendiert", aber nicht abgebrochen würden, flössen beispielsweise weiter EU-Beitrittshilfen. Man wolle damit lediglich signalisieren, dass man nicht abhängig sei. "Man ist es aber doch", betonte Knaus.
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    Gerald Knaus, Politikwissenschaftler, Vorsitzender und Mitgründer der Europäischen Stabilitätsinitiative (ESI) (privat)
    Und auch Erdogans Drohung, die Grenzen für Flüchtlinge zu öffnen, sei nicht so bedeutsam wie gedacht, so Knaus. Das Flüchtlingsabkommen funktioniere weiterhin. Denn Erdogan habe mit etwas gedroht, das mit dem Abkommen nichts zu tun habe. Er habe sich bei seiner Ankündigung, die Grenzen zu öffnen, auf die Landgrenze zu Bulgarien bezogen - nicht aber auf die Flüchtlinge, die über das Mittelmeer nach Griechenland kämen. Und nur die seien Teil des Abkommens, nicht aber die Sicherung der Landgrenzen.
    Abbruch der Verhandlungen wäre "dramatischer Schritt"
    In der Türkei innenpolitisch etwas zu erreichen, sei schwierig, sagte Knaus. "Die EU müsste Dinge tun, die etwas bedeuten." Würde sie die Beitrittsverhandlungen etwa komplett abbrechen, "wäre das ein dramatischer Schritt", den man in Ankara verstehen würde. Zudem müsse man die Bevölkerung erreichen. Denn nicht alle Türken würden Erdogans Kurs begrüßen. Als Beispiel nannte er das kürzlich gekippte Gesetz zur Straffreiheit in bestimmten Fällen von Vergewaltigungen. Das Gesetz sei zurückgezogen worden, weil die Menschen sich dagegen gewehrt hätten.

    Das Interview in voller Länge:
    Martin Zagatta: Massenentlassungen, Verhaftungen, zuletzt auch von Oppositionspolitikern, Foltervorwürfe. Kann die EU unter diesen Umständen noch über einen Beitritt verhandeln mit der Türkei? Das EU-Parlament hat in dieser Woche Nein gesagt, und auf die Forderung der Abgeordneten, die Beitrittsverhandlungen mit Ankara sofort auszusetzen, hat Präsident Erdogan nun höchst verärgert reagiert und ganz unverhohlen mit dem Bruch des Flüchtlingspaktes gedroht. Gerald Knaus ist Direktor der Denkfabrik Europäische Stabilitätsinitiative, er berät auch die Bundesregierung und gilt als der Erfinder, als der Vater des Flüchtlingsabkommens mit der Türkei. Guten Morgen, Herr Knaus!
    Gerald Knaus: Guten Morgen!
    Zagatta: Herr Knaus, ist dieser Bruch jetzt noch zu kitten, oder ist die Lage jetzt völlig verfahren?
    "Sie verhalten sich wie zwei Menschen bei einem Duell"
    Knaus: Na ja, die Lage ist verfahren, und sie wird es auch länger bleiben, und gleichzeitig funktioniert das Flüchtlingsabkommen. Man hat manchmal das Gefühl, auch in den letzten Tagen wieder, dass das Europäische Parlament und die Türkei sich verhalten wie zwei Menschen bei einem Duell. Sie fordern sich auf, dann gehen sie auf das Feld, und dann schießen sie mit Absicht aneinander vorbei, denn die Drohungen bedeuten praktisch bis jetzt nichts. Das Europaparlament hat nicht die Möglichkeit, die Verhandlungen zu suspendieren, es kann es nur empfehlen, aber noch viel wichtiger, es ist überhaupt nicht klar, was das eigentlich praktisch bedeutet, die Verhandlungen zu suspendieren. Das EU-Geld für die Vor-Beitrittshilfen würden weiterhin fließen, die Fortschrittsberichte würden weiterhin geschrieben werden, das Einzige, was passiert oder passieren würde, man würde keine Kapitel öffnen. Allerdings sind in den letzten sechs Jahren nur drei Kapitel geöffnet worden, und die Tatsache, ein Kapitel zu öffnen, bedeutet auch eigentlich nicht sehr viel. Man will signalisieren, man ist nicht voneinander abhängig, aber man ist es letztlich dann doch.
    Zagatta: Gilt das auch für die Türkei? Also was würde denn passieren – Sie sagen, das Flüchtlingsabkommen funktioniert, es funktioniert bestimmt insofern, als jetzt ja weniger, sehr viel weniger Flüchtlinge hier auch ankommen –, was würde denn passieren, wenn die Türkei da ihre Grenzen wieder aufmachen würde? Würden dann deutlich mehr Flüchtlinge überhaupt kommen, oder wären die nicht ohnehin schon abgeschreckt mit den Zuständen, was da im Moment in Griechenland mit ihnen passiert, mit den Meldungen, die dort auch ankommen, dass die Balkanroute geschlossen ist, also was würde da passieren?
    "Sie wollen signalisieren, ihr braucht uns"
    Knaus: Zunächst mal fand ich es sehr interessant, genauer hinzusehen, was die türkischen Politiker eigentlich machen. Sie wollen signalisieren, ihr braucht uns, die EU hängt von der Türkei auch ab, nur ganz konkret hat Präsident Erdogan von der bulgarischen Landgrenze gesprochen, also von der Situation in Edirne und auch davon, dass die türkischen Behörden eben Leute auch davon abhalten, in großer Zahl an die bulgarische Landgrenze zu kommen. Jetzt muss man wissen, Bulgarien wird im Flüchtlingsabkommen überhaupt nicht erwähnt, im Flüchtlingsabkommen geht es nur um die Ägäis. Das heißt, sich zu konzentrieren auf Bulgarien, damit signalisiert Präsident Erdogan, egal ob es ein Abkommen gibt oder nicht, und wenn es nie eines gegeben hätte, die Türkei ist für die EU an ihren Landgrenzen mit Griechenland und Bulgarien ein unersetzbarer Partner. Im Mittelmeer hält die Türkei weiterhin die Position aufrecht, dass sie sagt, wir nehmen weiterhin jeden, der die griechischen Inseln erreicht, zurück – nach einem Verfahren auf den griechischen Inseln, das sie EU natürlich durchführen muss –, wir nehmen die Leute zurück, schicken damit ein Signal an die Schlepper und an die Flüchtlinge, sich nicht in die Boote zu setzen. Das Problem da ist die Verknüpfung mit der Visaliberalisierung, doch in diesem Fall hat Erdogan mit etwas gedroht, was mit dem Flüchtlingsabkommen konkret gar nichts zu tun hat.
    Zagatta: Was empfehlen Sie da jetzt, soll man das jetzt alles relativ gelassen sehen, weil da beide Seiten eigentlich mit etwas drohen, was noch gar nicht vorgesehen ist? Und was passiert dann, wenn tatsächlich da die rote Linie überschritten wird? Also die EU muss ja irgendwie sich jetzt verhalten, auf diese Verhaftungen reagieren, was passiert dann, wenn wie angekündigt oder angedroht demnächst die Todesstrafe wieder eingeführt wird in der Türkei?
    "Wir brauchen eine viel realistischere Diskussion"
    Knaus: Ja, also ich glaube, wir brauchen eine viel realistischere Diskussion. Wir müssen erstens einmal klarmachen, für die EU Einfluss zu nehmen auf die innenpolitischen Entwicklungen in der Türkei – das ist schwierig. Wenn man es wirklich will, wenn man wirklich rote Linien ziehen will, dann muss die EU zunächst einmal bereit sein, klar zu sagen, dass sie Dinge macht, die etwas bedeuten. Also Suspendieren der Verhandlungen bedeutet nichts, ein vollkommenes Abbrechen der Verhandlungen wäre ein dramatischer Schritt. Die Frage ist, ist die EU bereit – und dazu braucht sie Einstimmigkeit unter den Mitgliedsländern – zu sagen, wenn die Todesstrafe eingeführt wird, dann würden die Verhandlungen wirklich abgebrochen werden. Das wäre ein sehr, sehr starkes Signal, das würde verstanden. In Ankara sieht man natürlich auch … und kennt man den Unterschied zwischen Suspendierung und Abbrechen. Die andere Frage ist: Es gibt auch viele andere Instrumente, die die EU derzeit noch nicht benützt, auch die EU-Mitgliedsländer, also etwa im Europarat – warum wird im Europarat nicht vom Ministerrat, also von der Vertretung der Mitgliedsländer, jemand beauftragt bei der Frage der politischen Gefangenen? Und das beinhaltet natürlich auch die Frage, ob die Journalisten als politische Gefangene gesehen werden müssen, also dass Leute, die wegen ihrer Meinungsäußerung im Gefängnis sind … da viel aktiver zu werden. Das gab es in der Vergangenheit auch, die Türkei unter Beobachtung zu stellen, bei der Frage der Folter in den Gefängnissen darauf zu drängen, dass hier das Komitee für die Vermeidung der Folter des Europarats viel aktiver wird. Es gibt viele Möglichkeiten, zu signalisieren, dass man sich Sorgen macht.
    Zagatta: Das würde Erdogan beeindrucken, meinen Sie.
    "Viele Türken wollen keine Rückkehr zur Folter"
    Knaus: Die Frage ist, wie beeindrucken und wie erreichen wir die türkische Bevölkerung? Wir haben das vor Kurzem gesehen bei der Diskussion im Parlament über die Vergewaltigung und die Frage, ob ein Vergewaltiger, wenn er anbietet, sein Opfer zu heiraten, straffrei davonkommen soll – ein Gesetz, das es bis 2004 gab, das wurde dann abgeschafft, das sollte wieder eingeführt werden. Es ist nicht eingeführt worden, weil die türkische Bevölkerung signalisiert hat, auch türkische Organisationen, auch Leute in der eigenen Partei, dass das nun doch ein Schritt in die falsche Richtung ist. Viele Türken wollen keine Rückkehr zur Folter, viele Türken wollen keine Rückkehr zu einer Situation, wo tote Kinder in der Ägäis an die Ferienküsten geschwemmt werden, wo die Schmuggler das Meer beherrschen. Die Europäische Union müsste sich vielmehr die Frage stellen, wie kommunizieren wir, dass wir ganz klar sagen, wir …
    Zagatta: Herr Knaus, nur kurz, weil die Nachrichten warten.
    Knaus: … wir benennen die Dinge, wie sie sind, wir wollen aber gleichzeitig immer sagen, wir wissen auch, wir können die Türkei nicht einschüchtern …
    Zagatta: Herr Knaus, sorry, aber wir müssen das dabei belassen, die Nachrichten warten. Das war Gerald Knaus, der Direktor der Denkfabrik Europäische Stabilitätsinitiative. Auch Ihnen schönen Dank für das Gespräch!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.